Der erstaunlichste Verrückte der Welt

01. Januar 1900

Im Leben des Franziskus und in seiner Persönlichkeit gibt es eine Reihe von Spannungsfeldern. Da ist auf der einen Seite das Bedürfnis nach Sammlung, Stille und Strenge, das an einen Einsiedler erinnert. Auf der anderen Seite erleben wir, dass er immer wieder unter Menschen gin. Dabei hielt er sich keineswegs im Hintergrund, sondern machte auf sich aufmerksam und trat in Szene. In den ersten Jahren seiner Bekehrung und seines neuen Lebens setzte er manchmal bewusst Akzente, durch die er Verachtung und Spott auf sich zog.
Wenn wir sein weiteres Leben anschauen, werden wir bemerken, dass Hohn und Spott der Menschen nachließen, ja später in Bewunderung und Verehrung umschlugen. Doch Franziskus blieb einer, der sein Leben spielte und Szenen stellte. Offensichtlich verband er damit zwei Ziele: seine eigene Persönlichkeit finden und sie authentisch leben und sein Apostolat zu verwirklichen.

Drang zur Inszenierung. Es gibt eine Reihe von Erzählungen aus dem Leben des Heiligen, die seinen Drang zeigen, sich selbst in Szene zu setzen und spielerisch zu entdecken. Eines Tages nahm er zum Beispiel ein Holzscheit, klemmte es zwischen sein Kinn und den abgewinkelten linken Arm und strich mit einem Stock darüber, gerade so, als würde er Geige spielen. Er drückte seine innere Gefühlswelt in einer imaginären Musik aus und tanzte dazu. Ein andermal wurde er sexuell angefochten und rang um Treue zu seiner Berufung. Mitten im Winter ging er ins Freie, formte eine Frau und Kinder aus Schnee, um sich selber die eigenen Möglichkeiten vor Augen zu führen und das Leben in einer Familie zu Ende zu denken. Das half ihm weiter.
In einer anderen Szene ließ er sich mit einem Strick um den Hals durch die Straßen von Assisi führen, um die Inkonsequenz seines Lebens an den Pranger zu stellen. Oder er legte sich auf den Boden und bat einen Bruder, ihm den Fuß auf den Mund zu setzen, um der eigenen Geschwätzigkeit Einhalt zu bieten. Außerdem: Franziskus spielte einen Bettelmann und inszenierte noch kurz vor seinem Tod ein Abendmahl.

Selbstfindung mit Phantasie.Es reicht nicht, diese Schritte des Franziskus nur als lustige oder beeindruckende Anekdoten zu sehen. Wenn wir Franziskus besser verstehen wollen, müssen wir fragen, ob nicht mehr dahinter steckt. Wir Menschen kommen nicht als fertige Wesen auf diese Welt. Vielmehr entwickeln wir uns in einem lang andauernden Prozess. Wir tasten nach hier und dort, erproben unsere eigenen Möglichkeiten und Grenzen, verstärken die eine Eigenschaft und lassen die andere verkümmern. Wir können und dürfen nie zufrieden sein mit dem, was wir sind. Wir müssen immer das „Darüberhinaus, das „Mehr anstreben. Wir dürfen uns auch nicht zufrieden geben, mit der vorgegebenen Welt und den damit verbundenen Zwängen. Franziskus erschloss sich im Spiel eine neue Welt. Er erhob sich in Freiheit über das, was er war. Er suchte seine Zukunft zu erkunden und – falls er das neue Gelände als tragend erlebte – das Gespielte in Wirklichkeit umzusetzen.

Spielmann des Herrn. Franziskus pflegte vor seiner Bekehrung den höfischen Lebensstil. Dazu gehörte die Pflege von Eleganz, Mut, Großzügigkeit im Geben, der Gesang und das rechte innere Maß. Etwas von diesem Lebensstil wollte er auch am Rand der Gesellschaft leben. Die dort angesiedelten Menschen waren Ziel seiner neuen Lebenswahl. Er fand einen Mittelweg zwischen den höfischen Herren und dem armen Volk in den Gauklern oder treffender in den Hofnarren (ioculatores). Die ioculatores waren keine Troubadoure. Die Troubadoure gehörten fest zum höfischen Leben, während die Menschen die ioculatores verspotteten und verhöhnten, ihnen Streiche spielten und an ihnen Spaß hatten. Sie wurden von der öffentlichen Meinung an den Rand der Gesellschaft gerückt. Das gilt auch für jene, die bei einem Herren oder an einem Hof ihr Glück fanden.
Franziskus hatte eine frische, wendige und schöpferische Phantasie. Mit ihr fand er eine geistliche und - menschlich gesehen - gelungene Lösung: Er und seine Brüder wollten ioculatores sein. Aber nicht einfach so, sondern ioculatores Domini, Spielleute des Herrn. Damit blieb die von Franziskus und seinen Brüdern bewusst gewählte Stellung der armen, verlassenen und erniedrigten Menschen am Rande erhalten. Gleichzeitig hatten sie die Möglichkeit, die Phantasie und Vorstellungskraft des Volkes anzusprechen. Franziskus spürte, dass das bloße Wort, die Predigt allein, nie dauerhaft fesselt. Offenbar konnte er sich in die Psyche der Massen einfühlen und verstand, sich dieses Prinzip zunutze zu machen.

Brüder und Gaukler. Die Brüder ioculatores zogen, da sie Gaukler waren, sowohl in Assisi wie in den anderen Städten die Massen an. Dabei machten sie Erfahrung mit den zuweilen wankelmütigen, zuweilen leidenschaftlichen Stimmungen der Volksmenge. Franziskus und seine Gefährten schafften es, den Übergang vom Spiel zur Bußpredigt zu vollziehen. Dabei waren sie bereit, jede Demütigung und jedes Leid auf sich zu nehmen. Sie reagierten mit völliger Ergebenheit, grenzenloser Geduld und dem Wissen, dass ihre Macht Geduld hieß.
Franziskus sagte einmal, er sei dazu bestimmt, der „erstaunlichste Verrückte in dieser Welt zu sein. In dieser „Verrücktheit fand die Buße, die Franziskus predigen wollte, ihren Ort und ihre Gültigkeit.
Franziskus gestaltete sein ganzes Leben im höchsten Sinne des Wortes zum Mit- und Nacherleben. Es darf uns nicht verwundern, dass er auch als Prediger spielte, dass er die christlichen Wahrheiten darstellte, so wie die weltlichen ioculatores in ihrer Art ohne geistlichen Hindergrund spielten. Unterstützt wurde also sein mündlicher Vortrag durch ungewohntes, eigenartiges Gebärdenspiel. Alles an ihm war Leben, Bewegung, Anschaulichkeit, so dass die Menschen nicht nur herbeiströmten, um ihn zu hören, sondern auch, um ihn zu sehen. Thomas von Celano schreibt: „Dabei hatte er seinen ganzen Leib zur Zunge gemacht, um seine Zuhörer durch das Beispiel nicht weniger als durch das Wort zu erbauen (1 Cel 97). Der ganze Mann sprach und die ganze Rede wurde im besten und edelsten Sinn zum Schauspiel.

Mitreißender Vortrag. Diesen höchst populären Vortragsstil wandte er immer an, ganz gleich ob er zu einfachen Leuten oder zu Gelehrten und Vornehmen sprach. Selbst vor dem Papst und den Kardinälen in Rom trat er nicht so auf, wie man das vielleicht erwartete. Vielleicht hat Kardinal Hugolin, der selber Teilnehmer war, den Bericht des Thomas von Celano abgefasst:
„Als er nun vor diesen erlauchten Fürsten (Papst und Kardinäle) stand und Erlaubnis und Segen erhalten hatte, begann er ohne Zittern und Zagen zu reden. Und er sprach mit solch feuriger Begeisterung, dass er vor Freude nicht mehr an sich halten konnte; während er seine Worte aussprach, bewegte er die Füße wie zum Tanze, nicht aus Übermut, sondern weil er vom Feuer der göttlichen Liebe gleichsam glühte, und darum reizte er auch die Zuhörer nicht zum Lachen, sondern erzwang tiefen inneren Schmerz. Staunend über die Gnade Gottes und den großen Freimut des Mannes wurden ihrer viele im Herzen zerknirscht (1 Cel 73).

Gesang zur geistlichen Freude. Bis in seine letzten Lebenstage zeigte Franziskus, wie sehr ihm dieser Apostolatsstil am Herzen lag. Er hatte gerade die letzte Strophe des Sonnengesangs gedichtet. Da schickte er nach Bruder Pazifikus, dem „König der Verse und „Sängerkönig. Er sollte mit einer Anzahl von Brüdern durch die Welt ziehen, den Sonnengesang singen und die Bußpredigt pflegen. Sie sangen, spielten und predigten und am Schluss sollte der Prediger nach Art der weltlichen ioculatores um eine Belohnung bitten mit den Worten: „Wir sind die Spielmänner Gottes und wollen für Predigt und Gesang von euch dadurch belohnt werden, dass ihr in der wahren Buße verharrt. Und Franziskus fügte hinzu: „Was sind die Brüder anderes als fröhliche Spielleute Gottes, die die Herzen der Menschen zu geistlicher Freude erheben und bewegen (Spiegel der Vollkommenheit 100).

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016