Franziskanische Einsiedeleien - La Verna
Das Heiligtum des La Verna leitet uns ganz nah an Franziskus heran. Zwischen den Felsen dieses Berges vertiefte der Heilige die Passion Jesu. Die Anlage mit der Basilika und den zahlreichen Kapellen führt entlang der Kreuzwegstationen bis zu seiner Stigmatisierung.
Zu den bekanntesten franziskanischen Einsiedeleien gehört das Heiligtum auf dem Berg La Verna in der Toskana. Franziskus von Assisi erhielt diesen Berg im Jahr 1213 von Graf Orlando, der sein Schloss in Chiusi hatte. Franziskus war wiederholt auf dem La Verna, einem idealen Ort, um aus der Lebens- und Kraftquelle des Herrn zu schöpfen. „Hier wollte Franziskus sein Herz lassen, weil er an keinem anderen Ort so viel gelitten und geliebt hatte“ (M. Bernardo Barfucci).
Eine gut ausgebaute Straße führt von Pieve di Santo Stefano im oberen Tibertal über 19 Kilometer auf den heiligen Berg. Zur Zeit des Franziskus war es eine Wildnis, wo nicht nur wilde Tiere, sondern auch Räuber hausten. Der Weg des Franziskus ging über Chiusi nach Beccia. Durch einen gedrungenen Torbogen kommt man auf den großen Platz, um den die verschiedenen Heiligtümer gruppiert sind.
Heiligtum des Berges. Gegenüber diesem Eingang ist die Kapelle Santa Maria degli Angeli. Sie wurde in den Jahren 1216 – 1218 auf ausdrücklichem Wunsch des Franziskus durch Graf Orlando errichtet. Sie ist das älteste Heiligtum des Berges. Der ältere Teil umfasst den Altarraum samt Chor. Das Tafelbild über dem Hauptaltar stellt die Aufnahme Mariens in den Himmel dar. Eine Steintafel im Fußboden vor der Altarstufe weist auf die Grabstätte des Stifters der Kapelle hin: Orlando, Graf von Chiusi, Freund und Wohltäter des heiligen Franziskus. Die Kapelle wurde in der Zeit des heiligen Bonaventura vergrößert.
Am Hauptplatz steht die Basilika. Ihr Bau zog sich über 160 Jahre hin und war erst 1509 beendet. Die größte Kostbarkeit in künstlerischer Hinsicht sind die Werke der Familie della Robbia. Der Stammvater der Familie, Luca della Robbia (1400 bis 1482) aus Florenz, entwickelte die Kunst der glasierten Terrakotta. Zu den schönsten Werken des Andrea della Robbia gehören die Verkündigung (1476), die Geburt Christi (1479). Die Himmelfahrt des Herrn stammt vermutlich von Giovanni della Robbia (1469 bis 1529).
Franziskus betrachtete auf dem Berg La Verna die Passion Jesu und vertiefte die wichtigsten Szenen.
„Geh auch du!“ Vom Hauptplatz aus steigt man über zwei Treppen zum Platz der ersten Zelle des Franziskus, die er sich von Graf Orlando errichten ließ. Hier wurde im 15. Jahrhundert die Magdalenenkapelle und darüber die Kapelle des heiligen Petrus von Alcantara gebaut. Dieser Ort war der Gebets- und Betrachtungsplatz des Franziskus.
Wer von der Kapelle aus über mehrere Treppen hinunter in den Berg steigt, kommt zum Sasso Spicco, einem riesigen Felsbrocken von 800 Tonnen, der über einem düsteren, feuchten Platz hängt. Dies ist der Ort, an dem Franziskus das übte, was der heilige Bonaventura später in die Worte kleidete: „Geh auch du“; geh auch du in den Garten Getsemani und betrachte das Ringen, die Angst und den Blutschweiß Jesu. Franziskus leidet mit seinem geliebten Jesus. Ein schlichtes Holzkreuz erinnert an die Liebe Jesu und an die Antwort der Liebe durch Franziskus. Franziskus klagt auf dem La Verna: „Die Liebe wird so wenig geliebt.“
Von der Basilika aus führt ein Gang zur Kapelle der Wundmale. Die Fresken mit einem Franziskuszyklus stammen von dem Florentiner M. Baccio (1929 – 1962). Die letzten Bilder sind fast 300 Jahre älter. In der Mitte des Ganges führt rechts eine Tür ins Freie, hinein in eine Felsenlandschaft. Man kommt zum sogenannten Bett des Franziskus, eine Art Steingrotte mit einem großen flachen Felsblock, auf dem der Heilige ausruhte, wenn er in seinem Getsemani am Ende seiner Kräfte war.
Der Golgota. Geht man den Gang weiter und steigt über eine lange Treppe ab, kommt man hinunter zur Kreuzkapelle. Sie wird auch die zweite Zelle des Franziskus genannt. Hier ist der Ort, den man zur Zeit des Franziskus nur über einen Balken, der den Felsspalt überbrückte, erreichen konnte. Es ist der Ort, an dem Franziskus 1224 seine Fastenzeit verbrachte.
Durch eine Glastür kommt man in die Kapelle der Wundmale. Hier erlebte Franziskus im September 1224 sein Golgota. Er wurde mit Christus gekreuzigt und durfte durch die Wundmale an seinem Leib an den gekreuzigten Jesus erinnern. Der Kapellenbau, durch den der nackte Fels völlig zugedeckt ist, wurde 1263 zusammen mit der Kreuzkapelle begonnen. Der Blick fällt sofort auf die Altarwand. Es ist eine beeindruckende Darstellung der Kreuzigung Christi, eine Terrakotta-Arbeit des Andrea della Robbia.
Beim Rückweg kann man rechter Hand noch die beiden Felsenkapellen des heiligen Bonaventura und des heiligen Antonius von Padua besuchen.
Steigt man die Treppe hoch, ist auf halber Höhe rechts eine Tür ins Freie. Sie führt zum sogenannten Precipizio, dem Abgrund, Absturz. Ein großartiger Rundblick tut sich auf. Wir stehen auf dem höchsten Punkt einer Felswand, die hier über mehr als 50 Meter steil abfällt.
Zum Heiligtum von La Verna gehören einige Kostbarkeiten und Erinnerungen an Franziskus, die besonders betrachtenswert sind.
Kreuzerfahrungen. Auf diesem Berg ist das Kreuz von besonderer Wichtigkeit. Nicht zufällig wird La Verna der „Kreuzberg“ oder „der Golgota“ des Franziskus genannt. Am äußeren Rand des Hauptplatzes steht markant auf einem Felsen ein sehr hohes Holzkreuz. Beeindruckend ist auch das Kreuz des Andrea della Robbia in der Stigmatisationskapelle. Beachtung verdient ein bronzenes Kruzifix, das französische Drittordensmitglieder Papst Leo XIII. geschenkt haben. Es steht unter dem rechten Bogengang der Basilika. Dieses Kreuz erinnert an das Gemälde des Spaniers Murillo: Der Gekreuzigte legt seine Hand um Franziskus. Franziskus seinerseits antwortet mit tiefer Verehrung und Liebe. In dieser Gebärde findet die Kreuzesmystik des Franziskus ihren tiefsten Ausdruck.
In dem Kirchlein San Damiano war der Gekreuzigte selbst in das Leben des Heiligen getreten. Die Christusikone dort redet ihn persönlich an. Die Anrede des Gekreuzigten (Drei Gefährten, Kap. 5): „Franziskus, siehst du nicht, dass mein Haus in Verfall gerät? Geh also hin und stelle es mir wieder her!“ geht ihm durch Mark und Bein. Er verinnerlicht den Gekreuzigten so, dass sein Herz vom Kreuz erfüllt ist und der Mund überfließt.
Es gibt viele weitere Kreuzerfahrungen des Franziskus. Dazu gehören seine Krankheiten, die Schwierigkeiten bei der Entwicklung seiner Gemeinschaft, Phasen persönlicher Depression, dämonische Anfechtungen, persönliche Einsamkeit und vieles andere. Der Empfang der Stigmata auf dem La Verna ist die konsequente Folge und der Höhepunkt dieses „Kreuzweges“.
Zeichen bevorzugter Liebe. Das Kreuz ist für Franziskus nicht in erster Linie Folterinstrument und Zeichen der Grausamkeit und des Todes, sondern Zeichen der Liebe. Es ist ihm die „Magna Charta“ der Offenbarung der Liebe Gottes. Für Franziskus ist Jesu Leiden und Sterben am Kreuz Ausdruck dafür, dass Jesus angesichts der menschlichen Schuld nicht – wie es im zwischenmenschlichen Bereich oft nach Straftaten oder Schuld geschieht – aussteigt aus der Beziehung zu uns, sondern in Treue an uns festhält und die Schuld selber auf sich nimmt. Gott ist nicht mehr oben; er steht nicht mehr über allem; er geht in das Dunkel und in die Wunden der Menschen, um diese durch seine Wunden heil zu machen.
An den Stigmata des Franziskus kommen wir nicht vorbei. Sie sind eine Realität. Franziskus betrachtete sie als besonderes Gottesgeschenk, das nur ihm gemacht wurde. Es machte keinen Sinn, sie beispielhaft für die Brüder herauszustellen. Thomas von Celano spricht ausdrücklich von einem „Zeichen einer bevorzugten Liebe“ (1 Cel 114).
Gesegneter Bruder Leo. Als Franziskus zum Fasten vom 15. August bis 29. September 1224 auf dem La Verna war, hatte er als Begleiter Bruder Leo. Da Franziskus diese Zeit allein verbringen wollte – nur morgens betete er mit Bruder Leo die Laudes, der ihm auch Wasser und Brot brachte –, geriet Bruder Leo in eine „schwere, quälende Versuchung“, d.h. in eine Depression (2 Cel 49). Franziskus spürt die Not des Bruders und schreibt ihm auf einem postkartengroßen Pergament, das noch heute im Sacro Convento in Assisi besichtigt werden kann, einen besonderen Segen. Zu den biblischen Segensworten aus dem Buch Numeri (Num 6,22-27) fügt er die Worte: „Der Herr segne dich, Bruder Leo.“ Später hat Bruder Leo unter die Handschrift des Franziskus geschrieben: „Der selige Franziskus hat diesen Segen mit eigener Hand für mich, Bruder Leo, geschrieben.“ Ebenso machte er mit eigener Hand dieses Zeichen Tau mit dem Kopf.
Auf der Rückseite dieses Segensdokumentes steht der Lobpreis Gottes, den Franziskus verfasste. Franziskus hat auf dem La Verna eine tiefe Gotteserfahrung (die Wundmale) gemacht. Der Lobpreis ist eine Aneinanderreihung von immer neuen Aussagen über Gott; man könnte ihn eine Wesen-Gottes-Litanei nennen. Jede Aussage beginnt mit „Du“. „Du bist der dreifaltige und eine Herr, der Gott aller Götter. Du bist das Gute, jegliches Gut, das höchste Gut, der Herr, der lebendige und wahre Gott.“