Wiege der Reformen
Sant’Urbano ist ein Ort der Rückkehr zu den Ursprüngen. In alter Tradition pflegt man hier den Dienst des Betens für jene, die nicht beten oder nicht beten können. Und vielleicht erlebt auch mancher Pilger zwischen den kargen Felsen des Monte Bandita, wie einst Franziskus, das eine oder andere Wunder.
Immer wieder brechen Menschen auf und suchen nach Spuren des heiligen Franziskus. Zu den vielen Einsiedeleien, die durch einen längeren oder kürzeren Aufenthalt des heiligen Franziskus ausgezeichnet sind, gehört die Heilige Höhle (Sacro Speco) von Sant’Urbano bei Narni. Sie ist nicht so bekannt wie manche andere und auch nicht vom franziskanischen Tourismus erfasst, aber umso herausragender in ihrer franziskanischen Ursprünglichkeit.
Einsamer Ort. Zur Heiligen Höhle von Sant’Urbano kommt man von Terni aus und biegt vor Stroncone ab (17 km) oder aber aus der Stadt Narni; von dort aus sind es 14 Kilometer. Sie liegt auf 560 Meter über dem Meeresspiegel zwischen den Felsen des Monte Bandita. Es ist ein Ort, wie ihn Franziskus wünschte: Hier sind Felsen; die Atmosphäre ist ländlich; die Einsiedelei ist geprägt von natürlicher Schlichtheit und tiefem Schweigen. Den Pilger grüßt Franziskus am Eingang zur Einsiedelei: „Der Herr schenke dir den Frieden!" Nach dem franziskanischen Historiker Lucas Wadding kam Franziskus 1213 zum ersten Mal an diesen Ort. Er ging mit einigen Brüdern zu Fuß von Narni her. Da er einsame Orte liebte, die besonders für das Gebet geeignet sind, hatten ihn offensichtlich Leute aus der Gegend auf diese alte Einsiedelei aufmerksam gemacht.
Die Anfänge der Einsiedelei gehen etwa auf das Jahr 1000 zurück. Sie gehörte den Benediktinern von Stroncone und umfasste das Kirchlein des heiligen Silvester, einen Brunnen und verschiedene Höhlen an der Felsenkette.
Zwischen den Felsen. Wir beginnen unseren Rundgang im Hof des Klösterchens, der auf drei Seiten mit einem niedrigen Kreuzgang aus behauenen Natursteinen begrenzt ist. Die Bögen, belebt durch Blumen und Kräuter, lassen gerade noch den Blick frei für das Spiel von Schatten und Licht. Von hier aus können wir den Blick in die Ebene schweifen lassen: Ein beeindruckendes Szenario von Bergen und Hügeln, von Ebenen und Tälern! Wie ruhige Herden auf der Weide liegen eine Reihe von Dörfern und Weiden auf den Bergkuppen. Wenden wir uns dem Berg zu, kommt uns das Heiligtum geradezu entgegen. Da ist auf Parterre-Höhe der stimmungsvolle Kreuzgang; darüber das Dach des Kirchleins und noch einmal höher der kleine Glockenturm. Etwas entfernt, ganz oben, unmittelbar am Fuß einer Felsenmauer, liegt das Herz dieser Stätte: das Oratorium des heiligen Franziskus mit seiner schlichten Apsis und einem Türmchen; daneben die Zelle, in der Franziskus krank darniederlag sowie eine Felsensäule, auf der nach der örtlichen Tradition ein Engel dem heiligen Franziskus die Laute spielte. Wer das untere und obere Heiligtum sieht, denkt vielleicht an San Damiano in Assisi oder auch an die Carceri am Monte Subasio. Sant’Urbano ist beides: Carceri und Damiano zusammen.
Wasser zu Wein. Herz des unteren Heiligtums ist die Kapelle des heiligen Silvester. Hier traf sich Franziskus mit seinen Brüdern zum Lob Gottes. Bis ins 15. Jahrhundert war dies der Ort des Gebetes für die kleine franziskanische Gemeinschaft. Die Brüder hielten dabei jenen Rhythmus von persönlichem und gemeinsamem Gebet ein, den Franziskus für das Leben in Einsiedeleien so wesentlich hielt. In dieser Kapelle holten sie sich das Feuer, welches ihre Herzen für Gott und die Liebe zu den Menschen entzündete. In der Apsis ist ein Fresko aus dem 13. Jahrhundert: In der Mitte der Gekreuzigte, darunter Maria und Johannes, Franziskus und Silvester und der heilige Papst Silvester. Im Triumphbogen über dem Altar: Maria Verkündigung, die heilige Klara, der heilige Hieronymus und die heilige Katharina von Alexandrien. Es sind die Heiligen, die in der franziskanischen Frühzeit besonders verehrt wurden.
Hinter der Apsis des Silvesterkapellchens fand Franziskus eine Zisterne, in der die Benediktinermönche das Regenwasser sammelten. Noch sind die vier Felsbrocken zu sehen, die den Beckenrand des Brunnens bildeten. Thomas von Celano, wie auch der heilige Bonaventura schildern, wie Wasser aus diesem Brunnen für den schwerkranken Franziskus in Wein verwandelt wurde.
„Als er (Franziskus) einmal in der Einsiedelei Sant’Urbano an einer schweren Krankheit darniederlag und mit lechzendem Munde nach Wein verlangte, bekam er zur Antwort, es sei kein Wein da, den man ihm geben könne. Da ließ er sich Wasser bringen und machte das Kreuzzeichen darüber. Sofort verwandelte sich das Element, legte seinen eigenen Geschmack ab und nahm einen fremden an. Zum besten Wein wurde, was reines Wasser war, und was die Armut nicht geben konnte, das kredenzte die Heiligkeit. Als der Mann Gottes davon kostete, genas er so rasch, dass jene wunderbare Verwandlung seine wunderbare Heilung bewirkte" (3 Cel 17).
Rückkehr zur Quelle. Neben dem ursprünglichen Kern dieser Einsiedelei errichtete man nach 1400 in der Zeit des Bernhardin von Siena den heutigen Kreuzgang, das Refektor und einen kleinen Konvent. Bernhardin von Siena betrachtete die Einsiedelei von Sant’Urbano als eine Wiege der Reformen. Deswegen legte er dort größten Wert auf die franziskanische Demut und Armut. Er richtete bei diesem Heiligtum ein Noviziat ein. Gerade an Orten wie diesem wollte er die franziskanische Jugend formen, um den Orden zu erneuern. Im ersten Stockwerk liegt ein Gang mit dem Dormitorium (Schlafraum). Die Zellen sind ungeheuer eng und wirken ernst (kein Zugang für Pilger).
Ab 1532 spielten die Brüder der Einsiedelei von Sant’Urbano eine wichtige Rolle in der franziskanischen Reformbewegung. Auf sie geht auch der Bau des Kirchleins zurück, das am Eingang des Konventes liegt. Reform: Das hieß Rückkehr zum Evangelium, Rückkehr zum Ordensstifter Franziskus, Rückkehr zu den Quellen. Die Brüder besannen sich auf die „Regel für Einsiedeleien", die Franziskus gegeben hatte, und suchten sie in die Tat umzusetzen.
Die Grotte. Heute führt ein Prozessionsweg, der als Kreuzweg gestaltet ist, über breite Stufen zum oberen Heiligtum. Der eigentliche Meditationsplatz des Franziskus war eine Felsengrotte. Ein breiter Spalt geht bis 60 Meter in den herabfallenden Felsen hinein. Franziskus betrachtete hier vor allem die Passion Christi: „Der Boden war benetzt von seinen Tränen, mit seiner Hand schlug er an seine Brust, und er hielt Zwiesprache mit seinem Herrn, als befinde er sich in dessen geheimen Gemächern. Dort legte er vor seinem Richter Rechenschaft ab, dort flehte er zu seinem Vater, dort unterhielt er sich mit seinem Freunde, dort trat er, wie zuweilen die Brüder heimlich beobachten konnten, mit lauten Seufzern beim gütigen Gott als Fürsprecher für die Sünder ein, beweinte mit lauten Klagen das Leiden des Herrn, als könne er es miterleben" (Bonaventura, Großes Franziskusleben, Kap 10, 4).
Die Brüder errichteten hier oben eine Zelle für den kranken Franziskus und ein kleines Oratorium. Die Zelle ist eindrucksvoll, eng, aus rauhem Fels. Das Oratorium hat nach Osten ein kleines Fenster, so dass das Morgenlicht hereinfallen kann. An der Wand sind zwei Fresken, welche die Episode von der wunderbaren Verwandlung des Wassers in Wein schildern.
Gebet als Dienst. Wir sollten nicht die Felsensäule übersehen, die neben dem Oratorium steht. Nach einer örtlichen Überlieferung wurde Franziskus eines Nacht an dieser Stelle wunderbar getröstet: Franziskus bat einen Bruder, ein gutes Lied zu dichten, um seinem „von Schmerzen geplagten Bruder Leib einigen Trost" zu geben. Der Bruder hatte Hemmungen und meinte, die Leute könnten Anstoß nehmen. „In der folgenden Nacht, da der Heilige wachte und sich der Betrachtung über Gott hingab, ertönte plötzlich Lautenspiel von wunderbarem Wohlklang und lieblicher Melodie. Niemand war zu sehen. Da aber das Spiel bald von da, bald von dort ertönte, erweckte es die Vorstellung, dass ein Lautenspieler auf und ab gehe. Nachdem der heilige Vater seinen Geist schließlich auf Gott gerichtet hatte, empfand er bei diesem wonnesam klingenden Lied solche Wonne, dass er sich in einer anderen Welt wähnte" (2 Cel 126).
Das Gebet als Dienst gehört zur Tradition dieser Einsiedelei. Auch heute lautet die Antwort auf die Frage: Was tun die Brüder? Sie suchen eine spezielle Form des Lebens, eines Lebens nach dem Evangelium. Sie beten und meditieren im Namen der Geschöpfe, die nicht dazu fähig sind, im Namen der vielen Menschen, die nicht daran denken und keine Zeit dafür haben, und im Namen derer, die nicht mehr beten können. Sie pflegen die häuslichen Arbeiten wie Kochen, Putzen und Waschen, aber auch Gartenarbeit und Begleitung von Pilgern. Die Einsiedelei kennt strenge geschlossene Zeiten.
Wer Sant’Urbano besucht und sich ein wenig Zeit lässt, wird etwas von dem lebendigen Wasser schöpfen, das diese Einsiedelei bietet. Man wird ruhiger, öffnet sich für den Geist und Freude und Zuversicht kehren ein.