Gleichnis vom humanen Heiden
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Die Menschenliebe wird zum konkreten Testfall für die Echtheit der Gottesliebe gemacht. Ich kann Gott nicht lieben sozusagen am Mitmenschen vorbei. Der Evangelist Lukas sieht im mitmenschlichen Bereich den Ort, an dem ich Gott begegne.
Erzählrahmen. Da stand ein Gesetzeslehrer auf, und um Jesus auf die Probe zu stellen, fragte er ihn: Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Jesus sagte zu ihm: Was steht im Gesetz? Was liest du dort? Er antwortete: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben, mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst. Jesus sagte zu ihm: Du hast richtig geantwortet. Handle danach und du wirst leben. Der Gesetzeslehrer wollte seine Frage rechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer ist mein Nächster? Darauf antwortete ihm Jesus (...) (Lk 10,25-30a).
Die Überlieferung des Doppelgebotes der Liebe in den ersten drei Evangelien lässt durchblicken, wie aktuell die Frage nach einer Kurzformel des Glaubens zur Zeit Jesu war. Im Gegensatz zur Überlieferung des Matthäus und Markus fragt der Gesetzeslehrer hier nicht nach dem größten Gebot, sondern danach, was er tun müsse, um das ewige Leben zu erlangen. Lukas lässt den fragenden Lehrer schließlich selbst die Antwort geben, dieselbe Antwort, die nach Matthäus und Markus nur Jesus gibt. Wir sehen also, dass die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe, als Zusammenfassung der biblischen Botschaft, einem Zeitgenossen Jesu durchaus zugemutet wurde. Das bloße Rezitieren des Gebotes scheint für Jesus das Bedenkliche gewesen zu sein. Biblischer Glaube besteht zutiefst in einer Lebenshaltung, in einer Ausrichtung auf Gott und die Mitmenschen. Es ist ein Glaube, der sich verleiblichen will, und nicht ein bloßes Fürwahrhalten.
Die Antwort Jesu auf das durchaus richtige Bekenntnis des Schriftgelehrten nennt den entscheidenden Punkt, auf den es ihm ankommt: Handle danach, und du wirst leben (10,28). Der Angesprochene fühlt sich herausgefordert. Seine weitere Frage, ob die Nächstenliebe in der Praxis einzugrenzen sei, bzw. wer mein Nächster ist gibt Jesus Gelegenheit, das Hauptgebot an einem Fall beispielhafter Humanität zu aktualisieren.
Humaner Heide. Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder: dann gingen sie weg und ließen ihn halb tot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging weiter. Auch ein Levit kam zu der Stelle, er sah ihn und ging weiter. Dann kam ein Mann aus Samarien, der auf der Reise war. Als er ihn sah, hatte er Mitlied, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn. Am anderen Morgen holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme (10,30b-35).
Bei den drei handelnden Personen liegt der Hauptakzent auf der dritten Person. Aus der Sicht des Überfallenen wird erzählt, dass ein Priester kam und vorbeiging. Er war auf dem Heimweg vom turnusmäßigen Tempeldienst. Ob er aus Angst, Gleichgültigkeit oder Furcht vor kultischer Verunreinigung an dem Überfallenen vorbeigeht, bleibt offen. Einem Priester war es verboten, sich an einer Leiche zu verunreinigen. Mag er gedacht haben, da läge ein Toter, dem gar nicht mehr geholfen werden kann, oder war es Angst, dieser Mensch könnte ihm unter den Händen sterben? Die Beispielserzählung geht darauf nicht ein. Ähnlich handelt ein Levit (Priestergehilfe). Auch er sah ihn und ging vorüber.
Keine frommen Ausflüchte. Die Doppelung der Redewendung ist ein bewusst angewandtes Stilmittel, um den Sachverhalt wirksam zu unterstreichen. Welche Motive auch immer der Priester und der Levit gehabt haben, die erste Hilfe zu verweigern, ihr Verhalten soll als inhuman entlarvt und angeprangert werden.
Dem Verhalten der Frommen stellt Jesus in diesem kunstvollen Gleichnis das eines Samariters gegenüber, der wie seine Landsleute als abgefallener Israelit und als Feind der Juden galt. In der Erzählperspektive des Lukas ist der Samariter ein Heide, der ohne zu zögern menschlich reagiert. Die Einzelheiten des Samariterdienstes werden anschaulich ausgemalt. Das Mitleid – die innere Haltung – führt zu dem Bemühen, die Notsituation bis zum Letzten zu beheben. Die Erzählabsicht ist deutlich: Dieser Mann sucht keine frommen Ausflüchte, er hilft und handelt menschlich.
Wer ist mein Nächster? Was meinst du: Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde? Der Gesetzeslehrer antwortete: Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte Jesus zu ihm: Dann geh und handle genauso (10,36f)!
Auf den Samariter richtet sich jetzt das ganze Augenmerk. Die Leser und Hörer des Evangeliums sollen sich von ihm zu gleichen Tun anregen lassen. Der Evangelist hat die abschließende Weisung Jesu geh und handle genauso (10,37) aus der Geschichte herausgeholt und in das Leben der Menschen hineingestellt. Die Frage des Schriftgelehrten bekommt eine ganz klare Antwort: Der Nächste ist der Mensch, der mir hier und jetzt mit seiner Not begegnet, und von mir jenen Dienst fordert, der das Wesen der Gottesliebe ausmacht.
Doch geht es in der Frage des Schriftgelehrten Wer ist mein Nächster? nicht in erster Linie um eine Abgrenzung gegenüber Nicht-Juden, Fremde oder Feinde. Hilfsbereitschaft, vor allem bei Lebensgefahr, wurde auch Nicht-Juden gegenüber als geltendes Gebot betrachtet. In der Erzählung scheint der Hilfsbedürftige, obwohl nicht ausdrücklich gesagt, ein Jude gewesen zu sein, an dem Juden vorbeigingen, während ein Ausländer Hilfe leistete. Es geht viel mehr um die Frage: Was kann man von mir verlangen, wo und wann hört meine Verpflichtung auf. Es ist durchaus denkbar, dass es christliche Schriftgelehrte zur Zeit des Evangelisten Lukas gab, die - ähnlich wie im Evangelium -bestimmte Handlungsnormen aufgestellt haben: unter bestimmten Voraussetzungen gibt es höhere Werte, Werte, die vom Dienst am Mitmenschen dispensieren (...).
Der Evangelist stellt allen ausgeklügelten Regeln sein klares und unmissverständliches immer, ohne wenn und aber entgegen.
Barmherzigkeit will ich. Priester und Levit repräsentieren die Gottesverehrung im Kult, doch ziehen sie im konkreten Fall nicht die Konsequenzen, die von der Gottesliebe gefordert sind, nämlich jene Barmherzigkeit zu üben, die Gott im Kult den Menschen zuspricht. Der Samariter repräsentiert jene barmherzige Liebe, die von ihm, dem Ketzer und Heiden gar nicht erwartet wird. Für den Gesetzeslehrer war es beschämend, dass Jesus ausgerechnet einen Feind statt einen Landsmann als Vorbild hinstellt. Ähnlich beschämen heute Heiden oft Christen! Jesus hält das Gesetz und den Kult dabei nicht für unwichtig, sondern wendet sich, gleich den Propheten vor ihm, gegen deren Sinnentstellung. Als man Jesus die Tischgemeinschaft mit den Sündern als Verletzung der Reinheitsvorschriften zur Last legt, zitiert er den Propheten Hosea: Geht und lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer (Mt 9,13; Hos 6,6).
Gottes grenzenloses Heil. Lukas will seinen Lesern zeigen, wie Jesus über die Grenzen seines Volkes hinaus dachte: Er ist überzeugt, dass das Gute im Menschen angelegt ist, und dass diese Schätze es wert sind, in die Kirche Jesu hineingeholt zu werden. Deswegen hat Lukas bewusst den Stammbaum Jesu bis auf Adam, den Stammvater der Menschheit, zurückgeführt. Matthäus beginnt die Geschlechterfolge mit Abraham. Jesus, der neue Adam, gehört der ganzen Menschheit, er ist für Juden und Heiden als Retter gekommen. Das versucht Lukas in zwei Erzählungen zu verdeutlichen. Eine davon ist das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Auch der geheilte Aussätzigen, der von den zehn Geheilten als Einziger zu Jesus zurückkehrt, um zu danken, ist ein Samariter (Lk 17,15-19). Ein Fremder zieht aus der erfahrenen Heilung die richtige Konsequenz.
Jesus ist der Anführer des Lebens (Apg 3,15) für jeden, der an ihn glaubt. Er ist das Modell des Menschen nach der ursprünglichen Absicht Gottes. Deswegen erfüllt das Evangelium – das will Lukas den Christen und den suchenden Heiden sagen – die Sehnsucht der griechisch-römischen Welt nach edlem, wahrem Menschsein.