Herrschen wie ein Hirte
Wir begegnen im Alten Testament einer Tierverbundenheit, die ihresgleichen sucht, die aber weitgehend übersehen oder gering geachtet wird. Der Beitrag zum Thema “Tier“ ist im AT weitaus bedeutsamer als der im NT und kann einem verantwortungsbewussten Umgang mit der Tierwelt eine gute Grundlage geben.
Alle Lebewesen werden als Mitgeschöpfe des Menschen verstanden. Welche Konsequenzen ergeben sich für uns aus der ernst genommenen Ethik der Mitkreatürlichkeit?
Ausgebeutet und ausgerottet. Innige Beziehungen zu Tieren, die als Hausgenossen gehalten werden, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Mensch schon unzählige Tierarten systematisch ausgerottet oder an den Rand des Aussterbens getrieben hat, aus Gewinnsucht, oder weil er sie als “Schädlinge“ nicht in seiner Nähe wünscht.
Während hinsichtlich unserer Nutztiere auch in der breiten Öffentlichkeit heute eine artgerechte Haltung gefordert wird und vielen das Wohlbefinden der Tiere ein Anliegen ist, schwinden viele andere Arten unbemerkt dahin. Ernst zu nehmende Studien prophezeien, dass ein Viertel der heutigen Tierwelt in wenigen Jahrzehnten ausgerottet sein wird.
Nach Ansicht des Philosophen René Descartes sind Tiere seelenlos und wie Maschinen nicht fähig zu leiden. Dieses Erklärungsprinzip, das einen unermesslichen Abstand zwischen Mensch und Tier zum Dogma machte, hat grausame Folgen gehabt. Heute im Zeitalter der industriellen Massentierhaltung, der Tierversuche und der Ausrottung ganzer Arten ist die Rückbesinnung auf die Mitkreatürlichkeit dringend notwendig, ebenso wie auch eine weit gehende Einschränkung der Gewalt gegen Tiere, wann immer es geht.
Gott, Freund des Lebens. Das Wort Leben hat in der Bibel eine vielfältige Bedeutung. Es bezeichnet alles Lebendige: das Leben der Pflanzen und Tiere, das Leben des Menschen und den lebendigen Gott. Das vergängliche Leben, das vergeht wie das Gras, und das unzerstörbare ewige Leben. Nach dem Evangelisten Johannes bezeichnet sich Jesus selbst als das “Leben“ (Joh 16,6). Und er verheißt allen die glauben “ewiges Leben“ (Joh 5,24).
Der Blick auf das Erbarmen Gottes, das dem sündigen Menschen zugesprochen wird, öffnet auch den Blick auf alle Lebewesen: “Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast, denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht erschaffen... Du schonst alles, weil es dein Eigentum ist, Herr, du Freund des Lebens“ (Weish 11,24ff).
Gott ist ein Freund des Lebens, weil er der Urgrund und die Quelle allen Lebens ist. Der Mensch hat auf besondere Weise teil an diesem Leben, weil er als Bild Gottes erschaffen wurde. Daraus folgt, dass der Mensch, der als Geschöpf in eine besondere Nähe zu Gott berufen wurde, ein Freund des Lebens sein soll. Der Mensch muss das Leben seiner Mitgeschöpfe fördern, nicht nur weil er das Leben von Pflanzen und Tieren braucht, um selbst leben zu können, sondern weil alle Formen des Lebens ihren Eigenwert und ihr Gütesiegel von Gott haben. Die ganze Schöpfung ist eine Offenbarung der Größe Gottes und steht unter seinem Schutz: “Herr, du hilfst Menschen und Tieren, wie köstlich ist deine Huld“ (Ps 36,8).
Kosmischer Lobgesang. Psalm 104 ist ein Naturhymnus, der die Herrlichkeit des Schöpfers in allen seinen Geschöpfen preist. Nicht nur in der Geschichte oder beim Gottesdienst, sondern auch in der Natur und damit in der profanen Welt begegnet man Gott:
“Herr, wie zahlreich sind deine Werke!
Mit Weisheit hast du sie alle gemacht,
die Erde ist voll von deinen Geschöpfen“ (V. 24)
“Ewig währe die Herrlichkeit des Herrn,
der Herr freue sich seiner Werke“ (V. 31)
Der erste Sinn der Schöpfung ist die Verherrlichung Gottes. Die Natur wird als Zeichen der Gegenwart und Wirksamkeit Gottes verstanden. Deswegen ist alles grundsätzlich gut. (vgl. Gen 1,4.10.12.18.21.31).
Die Natur wird zum Gegenstand des Lobpreises. Noch mehr: die Natur selbst ist ein kosmischer Lobgesang, der gerade in den Psalmen immer wieder laut wird: “Die Himmel (aber auch die Tiere und Pflanzen, sh. Ps 148) rühmen die Herrlichkeit Gottes“ (Ps 19,2).
Die vielfältigen Pflanzenarten und die verschiedenen Lebewesen – die Tiere und der Mensch – haben ihre Daseinsberechtigung und ihren Lebenssinn, und das, wohlgemerkt, unabhängig vom Menschen, der lediglich ein Geschöpf unter den Geschöpfen ist. Denn gerade was den Menschen betrifft, ist nicht von seiner Herrschaft, sondern von seinem Dienst die Rede. Aber der Mensch ist der Risikofaktor in Gottes guter Schöpfung. Das zeigt sich in unserem durch und durch optimistischen Naturhymnus darin, dass der Lobpreis in einem vehement vorgetragenen Wunsch mündet: “Verschwinden sollen Sünder von der Erde und Frevler nicht mehr sein“ (V. 35).
Im Gegensatz zu den übrigen Kreaturen, die instinktiv ihrer Natur gemäß leben, kann der Mensch sündigen und die heilvolle Ordnung verfehlen. Indem er die Natur aus den Gleichgewicht bringt, vernichtet er sich selber.
Herrschen wie Gott. Gott erschafft ein kunstvolles Lebenshaus inmitten des Chaos. Die Erde stattet er mit so viel Lebenskraft aus, dass sie Pflanzen und Bäume hervorbringen kann. Eine von Leben überschäumende und schöne Welt, auf die Gott mit Freude und Wohlwollen blickt. Den Menschen, die wie die Landtiere am sechsten Tag geschaffen werden und mit diesen den Lebensraum teilen, gibt Gott eine besondere Aufgabe: Als Abbild des Schöpfergottes sollen sie über die Tiere herrschen (vgl. Gen 1,27f). Damit ist keineswegs schrankenlose Ausbeutung gemeint, wie dieser Text fälschlicherweise oft interpretiert worden ist. Der Mensch soll anstelle Gottes – wie Gott selbst – herrschen, das heißt er soll Leben bewahren und hüten, es schützen und fördern.
Das hebräische Wort, das mit Herrschen übersetzt wird, bezeichnet vor allem die Tätigkeit eines Hirten, der mit seiner Herde zieht, sie schützt und verteidigt und dafür sorgt, dass auch die Schwachen genügend Futter und Wasser finden.
Das Paradies kehrt wieder. “Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut“. Dieses “sehr gut“ spricht Gott über die schöne Welt, in der es noch kein Blutvergießen gibt, in der Mensch und Tier sich von rein pflanzlicher Nahrung sättigen (vgl. Gen 1,29ff). Dieses Urteil wird auch den Zustand der “kommenden Welt“ wieder bestimmen.
Eine Vision aus dem Prophetenbuch Jesaja zeichnet die “kommende Welt“ als endzeitliches Friedensreich, das der Anfangszeit entsprechen wird. Ein ungetrübter Friede zwischen allen Tieren sowie zwischen Mensch und Tier wird hier in Aussicht gestellt: “Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther ruht beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten...Der Löwe frisst Stroh wie das Rind. Der Säugling spielt am Schlupfloch der Natter, das Kind streckt seine Hand in die Höhle der Schlange. Man tut nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg...“ (Jes 11,6-9).
Diese Zukunftsgewissheit, dass der durch Adams Sünde zerbrochene Schöpfungsfriede in der messianischen Zeit wiederhergestellt werde, pflanzte sich bis ins Frühjudentum hinein fort. Kein Wunder, dass sich die Menschen in Israel vom Messias die Wiederherstellung dieses paradiesischen Zustandes erhofften. Wenn der Evangelist Markus in der Versuchungsgeschichte (Mk 1,13f) schildert, dass Jesus in Gemeinschaft mit den wilden Tieren lebte, von den Engeln bedient und vom Satan versucht wurde, so wollte er seine Leser an Adam im Paradies erinnern. Jesus ist der geliebte Sohn (Mk 1,11), aber auch der neue Adam, der das verlorene Paradies wiedergewonnen hat, und in dessen Gemeinschaft die Schöpfung zum Frieden findet.
Auch Paulus ist überzeugt, dass nicht der Mensch allein, sondern die ganze Schöpfung der Erlösung bedürftig ist. Wie der Mensch die Schöpfung ins Unheil mitgerissen hat, so soll sie auch durch den Menschen und mit ihm zusammen gerettet werden (vgl. Röm 8,19-22).
Utopie der Gewaltlosigkeit. Wir können uns heute nicht vorstellen, dass es eine Zeit gegeben haben soll, in der Mensch und Tier friedlich miteinander lebten, in der eine Geburt nicht schmerzhaft gewesen wäre und der Mensch nicht hätte sterben müssen. Das Paradies-Motiv ist eine Einkleidung zur Deutung der gegenwärtigen Situation, in der Menschen und Tiere sich befinden.
Alles Lebensmindernde, das letztlich im Tod endet, wird vom Ungehorsam des Menschen her verstanden – als Folge der Abwendung der Geschöpfe von ihrem Schöpfer, der die Quelle des Lebens ist. Das kostbarste Gut im Lebenshaus der Schöpfung ist ein glückliches, friedliches Zusammenleben aller Lebewesen ohne Gewalt. Alle ernähren sich von der üppigen Pflanzenwelt. Es gibt keinen gewaltsamen Tod.
Diese Utopie von einem paradiesischen Schöpfungsfrieden ist das Kontrastbild zu der in der Sintfluterzählung beklagten Gewalttätigkeit von Mensch und Tier, die das Lebenshaus der Schöpfung korrumpiert (vgl. Gen 6,11-13).
Das Friedensbild, das der Schöpfungsbericht in Gen 1 zeichnet, ist eine Leitbild-Utopie, die unseren heutigen Umgang mit Tieren und Pflanzen ständig in Frage stellt und uns dazu motivieren will, unser Leben und unsere Entscheidungen, wo immer es geht, dieser Utopie anzunähern.
Bund mit allen Geschöpfen. Der Noach-Bund, der alle Menschen und Lebewesen umfasst, hat etwas Faszinierendes an sich. Nach der großen Katastrophe der Sintflut, die aus heutiger Sicht als Selbstzerstörung des Menschen und seiner Mitgeschöpfe gedeutet werden kann, sagt Gott, wie am Anfang der Schöpfung, sein Ja zu allem Leben auf dieser Erde – ein Ja, das nicht mehr widerrufen werden soll.
“Hiermit schließe ich einen Bund mit euch und mit euren Nachkommen und mit allen Lebewesen bei euch, mit den Vögeln, dem Vieh und allen Tieren des Feldes, mit allen Tieren der Erde, die mit euch aus der Arche gekommen sind...Nie wieder sollen alle Lebewesen aus Fleisch von Wasser der Flut ausgerottet werden; nie wieder soll eine Flut kommen und die Erde verderben“ (Gen 9,9-11).
Als Zeichen des Bundes mit der ganzen Schöpfung erscheint der Regenbogen. Das poetische Bild will sagen: Gott hat den Bogen (Waffe) weggestellt, und wie nach dem Unwetter die Sonne aufgeht, so wendet sich Gott nach dem Strafgericht erneut der Schöpfung zu. Kein Text der Bibel hat Gottes Fürsorge der Tierwelt gegenüber so umfassend formuliert wie die Verheißung von Gen 9,8-17, wonach die Tiere zum Gottesbund gehören (vgl. auch Ps 36,6f; Hos 2,20).
Tierruhe am Sabbat. Das Tier wurde im alten Israel weder als Schoßhund vermenschlicht noch als Sache verdinglicht, es war ein Wesen mit eigener Würde und eigenem Recht. Nicht erst Franz von Assisi hat entdeckt, dass die Tiere unsere Mitgeschöpfe mit eigenen Bedürfnissen und eigenem Lebensrecht sind – es steht bereits im Sabbatgebot der “Zehn Worte“ vom Sinai.
“Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig! Sechs Tage darfst du schaffen und alle Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinen Gott geweiht. An ihn darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Vieh und der Fremde, der in deinem Stadtbereich Wohnrecht hat. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer gemacht und alles was dazugehört; am siebten Tag ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt“ (Ex 20,8-11).
Die Arbeitsunterbrechung am Sabbat wird als ein JHWH zugehörige und unlöslich mit seiner Schöpfung verbundenen Ruhezeit charakterisiert. Die “Tierruhe“ erweitet die Bedeutung des Sabbats über den Bereich der Menschen hinaus.
Im Sabbatgebot, das eine Grundlage des Gottesbundes mit Israel ist, werden Mensch und Tier in ihrem Miteinander zum Gottes-Dienst verpflichtet!
Liebe und Leben in Fülle. Nach dem Zeugnis der Bibel haben alle Lebewesen ihr Leben Gott zu verdanken, sie alle sind zum Lobpreis erschaffen und stehen in einem umfassenden Bund mit Gott. Jedes Geschöpf hat seine eigene, unauswechselbare Würde. Die Einzigartigkeit des Menschen liegt darin, ein Bild Gottes zu sein. Er ist Verantwortungsträger im Lebenshaus, das Gott erschaffen hat. Mit besonderem Erkenntnisvermögen und freien Willen ausgestattet vermag er bewusst in die Liebe Gottes und in den Lobpreis einzuschwingen. Zu seinem und der Mitgeschöpfe Verderben kann er sich dieser Berufung auch verweigern. Alle Lebewesen verbindet die Liebe Gottes, die ihnen einen unvergänglichen Platz in seiner Lebensfülle schenkt.
Eine von Gott geliebte Welt, die er mit Lust geschaffen und in die er all seine mütterliche und väterliche Liebenswürdigkeit und Lebensmächtigkeit hineingelegt hat, wird selbst liebenswürdig und will geliebt werden um ihrer selbst willen.