Kindersegen im Müll
Nach unseren Erlebnissen mit den ausgestoßenen, den ärmsten Familien der Mega-Stadt Manila können wir uns nicht einfach wieder an den Schreibtisch in Padua setzen. Solche Erfahrungen bleiben haften, wir nehmen sie mit nach Hause, sie lasten auf unseren Schultern und auf unseren Herzen. Zwar haben wir nicht das gleiche Essen gegessen, nicht das gleiche Wasser getrunken (dafür ist unser Immunsystem zu schwach), haben hier in Italien unsere Kleidung zur Reinigung gegeben, doch die heftigen Emotionen kratzen an unserer Seele. Mir persönlich kommen als erstes die vielen Kinderhände, die meine Hand ergriffen, sie an die Stirn zogen und um meinen priesterlichen Segen baten, in den Sinn. Nie haben diese Kinder um irgend etwas gebettelt, nur um meinen Segen. Segnen, das bedeutet, einem Menschen Gutes wünschen, es auf ihn herabrufen und sich für das Gute auch persönlich einsetzen. Doch was ist gut für diese Kinder?
Müllkippe von Pajata. Auf den Phi-lippinen gibt es unendlich viele Kinder und Jugendliche, überall und in jedem Augenblick. Die Schulen sind berstend voll, die Straßen quellen über von Kindern, die dort leben und sich mehr schlecht als recht durchschlagen. Doch nirgends sind alte Leute. Ich glaube, ich habe in allen Stadtteilen, die wir besuchten, keinen einzigen Alten gesehen. Es mag wohlhabende ältere Menschen im Herzen der Hauptstadt geben, doch in Manila stirbt man im Allgemeinen jung. Und wenn man genauer hinsieht, versteht man warum: Kinder, im Wachstum zurückgeblieben, unterernährt, von Krankheiten gezeichnet und verwahrlost. Die Menschen, die wir trafen, können nicht auf ein langes Leben hoffen; es ist abzulesen an ihren Augen und ihrer Haut. Vielleicht kommt es daher, dass sie sich an Orten aufhalten, die mit dem Tod zu tun haben.
Wir befinden uns im Kreis der Hölle: Berge aus Abfällen der Metropole, darin klettern Scharen von Müllmenschen herum auf der Suche nach irgendwie verwertbaren Resten. Ein Golgota von armen Teufeln, die sich tief hineinwühlen in das faule, modrige Zeug und dann wieder auftauchen mit irgend etwas in den Händen. Hoch in der Luft fliegen bunte Plastiktüten. In anderen Teilen der Welt könnten es Drachen sein, die Kinder steigen lassen. Doch auf der Müllhalde von Pajata sind es Symbole für das „Nichts", an dem die Verzweifelten noch ein wenig verdienen können. Die Deponie ist eine Fundgrube für vergammeltes Plastikmaterial, das in stinkenden Tümpeln gewaschen wird. Danach füllt sich Sack für Sack mit diesem „Nichts", das immerhin Tausenden von Menschen zum Überleben verhilft. Auch den streunenden Tieren sieht man die Räude an, ihnen fehlt das Fell; mit den Menschen teilen sie Hunger und Elend. Es sind Hunde, die nie bellen; eine solche Anstrengung können sie sich nicht leisten.
Dorf aus Baracken. Auf der Müllhalde vermischen sich Schlamm und Jauche. Wer mit dem Fuß in eine Pfütze tritt, weiß nie, wo er da hi-neingerät. Während ich über den
schmalen Schlammpfad balanciere, der in die Hölle führt, und dabei versuche, dem Schlimmsten auszuweichen und den Saum meines Habits zu heben, der schon besudelt ist, muss ich da-ran denken, wie wohl Franziskus sich schützte, als er die Leprosen besuchte. Rings um die Mülldeponie, versteckt in freier Landschaft, finden wir Behausungen. Es sind halb offene Nischen aus Holz, mit wenig Platz, voller halbnackter Kinder. Verlegen weichen uns die Blicke der Erwachsenen aus; sie fühlen sich ertappt in ihrer trostlosen, ungeschützten Intimität. Wir fotografieren, ohne viel Umstände zu machen. Damit rücken wir ihnen auf den Leib und glauben, dabei das Richtige zu tun. Deswegen sind wir gekommen, doch bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob all dies auch richtig ist. Und wenn es regnet?, frage ich unsere Begleiter. Dann sei es auch nicht schlimmer als am Beginn der heißen Jahreszeit, antworten sie. Die feucht-schwüle Hitze von Manila lässt den Abfall aufkochen und verbreitet einen Pestgestank von unvorstellbarem Ausmaß.
Antonius in der Hölle. Einige Kinder haben rote Haarsträhnen; die sind nicht gefärbt, sondern Anzeichen einer Mangelernährung. Am Hang dieses verdammten Müllberges eine Überraschung, bei der man eine Gänsehaut bekommt: eine primitive Kapelle, die dem heiligen Antonius geweiht ist. Seine Statue blickt lächelnd auf Dutzende von Kindern, gruppiert um freiwillige Helfer, die ihnen ein wenig Englisch beibringen, ihre Wunden und Eiterbläschen versorgen, ihnen etwas zu essen geben, ihre Haare schneiden… Ein Knirps spielt mit einem armen Gänslein, das wohl den Abend nicht überleben wird.
Eine Vinzentinerin grüßt mich nur im Vorbeigehen, sie bleibt nicht stehen. Der Pater in schwarzer Kutte zwischen den Kindern beeindruckt sie ebenso wenig wie der eifrige Fotograf vom Messaggero in Padua,
P. Paolo Floretta, der seine Kamera in jeden Winkel hineinhält. Man ver-
zeiht uns, dass wir in das Territorium der Armen eindringen, hat aber nicht die Zeit, sich mit uns abzugeben. Vielleicht sind wir für sie einfach nur seltsame Leute aus einer anderen Welt. Doch wir lächeln ihnen zu, und damit werden sie zu Freunden. Zwei Vinzentiner-Seminaristen lernen dort, Wunden zu heilen. Wenn unsere jungen Kandidaten in Westeuropa diese Art von Einführung in das Ordens-leben hätten, hier stünden sie an der Schwelle, um ins wahre menschliche Antlitz zu blicken!
Gesicht einer Tragödie. Von einem Wachttürmchen über den Müllbergen aus kontrolliert ein Polizeiposten jeden unserer Schritte. Wir tun gut daran, möglichst schnell den stinkenden Pfad zwischen den Plastiksäcken hinter uns zu bringen. Man hat kein Interesse daran, das wahre Gesicht einer Tragödie zu zeigen, für die ganz bestimmte Leute auf allen Ebenen von Regierung und Verwaltung verantwortlich sind.
Dann betreten wir die Baracke der Mutter eines Mädchens, das vor einiger Zeit im „Zentrum Papa John" aufgenommen wurde und nicht einmal zu einem Besuch hierher zurückkommen möchte. Ein Bürschlein liegt lustlos am Boden, ein Säugling weint verzweifelt. Wir machen einige Fotos. Mich tröstet der Gedanke, dass wenigstens eine es geschafft hat, hier herauszukommen. Und vielleicht gelingt mit der Zeit auch anderen der Sprung in ein besseres Leben. Die Müllhalde von Pajata ist die Hölle. In dieser Hölle haben wir unseren heiligen Antonius getroffen. Er ist lange vor uns hier angekommen! Es gibt tatsächlich keinen Ort ohne Hoffnung.
Leben und Tod. Auf dem Friedhof von Navotas, an der Peripherie von Manila, leben Hunderte Familien, gemeinsam mit den Toten. Mir fehlen die Worte, die Situation zu beschreiben. Zwischen und auf den Gräbern, in den Grabnischen tummeln sich Lebende, schlafen, spielen, essen, treiben Handel. Dazu Gerüche und Gestank jeglicher Art. Für die am Vortag Verstorbenen wird Totenwache gehalten. Schlamm, Jauche, Kinder mit roten Haaren, Friedhofshunde, ein kleiner Laden… Auf einem freien Platz bringen freiwillige Helfer von Papa John den Kindern Lesen und Schreiben bei. Niemand besucht die Schule. Jeder freiwillige „Unterricht" beginnt damit, alle mit Namensschildchen zu kennzeichnen. Anderswo hatte ich ein schönes Kärtchen mit bunten Schleifen gesehen, hier genügt ein Etikett, auf die blanke Haut geklebt. Damit „existiert" dieses Kind, zumindest für die Dauer der Lektion. Die Gebühr für die amtliche Registrierung kann niemand von den „Friedhofsmenschen" bezahlen. Aus den Gesichtern der Kinder strahlt ein übermächtiger Lebenswille. Sie lachen, umarmen mich, spielen mit meinem Zingulum, ergreifen meine Hand und führen sie an ihre Stirn.
Da fallen einige Regentropfen. Geraten wir in eine Überschwemmung? Wir merken erst gar nicht, dass jemand einen Schirm aufgespannt hat und uns damit überallhin begleitet. Auch an einem Ort wie diesem versteht man es, Gäste einfühlend zu behandeln. Eine Frau deutet auf ihre drei Söhne: No school no future (keine Schule, keine Zukunft). Mir kommt sie wie eine Königin vor, die gerade aus ihrem Haus gejagt wurde, würdevoll und verschämt. Ihr Gesicht werde ich nicht vergessen. Gibt es eine größere Qual für eine Mutter, als ihren Kindern nicht geben zu können, was nötig wäre? Ich empfinde Schuld, weil ich nichts anderes tun kann, als sie anzuhören. Doch wir sind ja gekommen, weil wir für unsere Freunde in Manila eine neue Schule bauen wollen. Und damit werden wir gewiss einiges ändern – mit Ihrer Hilfe, liebe Leser und Wohltäter. Aber vielleicht nicht mehr für die drei Söhne dieser „Königin".
Eine Schule in Taytay, eine Zukunft! Liebe Wohltäterinnen und Wohltäter, helfen Sie, den Kindern von Manila Hoffnung und Zukunft zu schenken! Die blinde Jenny Carraro versinkt mit ihrem Fuß in einer ekligen Pfütze, doch das macht ihr nichts aus. Es ist ihre Art, das Leben mit diesen Menschen zu teilen, die sie ins Herz geschlossen hat. Die Italienerin gehört zum Relief Children Found und ist der Schutzengel der Kinder im Papa John Centre, eines kleines Vereins in Quezon City, Metro Manila, der für die Wiedereingliederung dieser von der Welt Verlassenen arbeitet und von der Caritas Antoniana seit etwa sechs Jahren unterstützt wird. Die Caritas Antoniana möchte nun helfen, eine Schule am Rande der Barackenstadt von Manila zu errichten. Dies ist mehr als ein Bauvorhaben aus Zement und Stein. An einem Ort wie diesem bedeutet die Schule vor allen anderen Dingen ein Recht auf Existenz. Jedes Kind bekommt vor Beginn der Lektion ein Namensschild, ein Zeichen der Wiedererkennung und der Würde. Das mangelhafte Schulsystem auf den Philippinen gehört zu den schlechtesten weltweit. Die Schule soll in Muzon Taytay gebaut werden, in der Provinz Rizal, angrenzend an die Metro Manila, wo seit 18 Jahren das Shalom Learning Centre arbeitet. Darin haben sich philippinische Lehrkräfte auf Straßenkinder spezialisiert. Die 300 Schüler konnten die Klassenräume bisher gratis benutzen, nun verlangt eine Organisation Miete. Bei einer Schließung verlieren die Kinder ihre letzte Chance auf Leben. Das neue Schulgebäude wird für 600 Kinder konzipiert und strebt eine berufliche Ausbildung an, mit einer Lehre als Schreiner, Mechaniker oder in Computerkursen. Die Lehrkräfte werden in angewandter Psychologie geschult, um ihre teils schwer traumatisierten Schüler fördern zu können. Dieses künftige Ausbildungszentrum soll den Dialog wagen mit der Umgebung, damit sich eine Kultur der Kinderrechte entwickelt. Jenny ist blind, und doch sieht sie eine Zukunft für diese Kinder, die es zu beschützen gilt. Helfen Sie mit, den ersten Stein für diese Zukunft zu legen!