Auf dem Dach einer Moschee

16. März 2006 | von

Minoritenpater Severi aus Bologna in Italien, Missionar in Banda Aceh auf Sumatra in Indonesien, erlebte und überlebte am 26. Dezember 2004 den Tsunami an der Küste des Indischen Ozeans, nahe dem Epizentrum. Dieser authentischen Schilderung folgt im Juniheft sein „Projekt Wiederaufbau“.

Es war um 8 Uhr morgens. Für einige Augenblicke genoss ich das Schauspiel, wie die kochende Lava unseres Globus explodierte. Nur eine Minute dauerte das Spektakel dort am Indischen Ozean. Mir war, als säße ich auf dem Rücken eines wild ausschlagenden Pferdes. Mit Händen und
Füßen krallte ich mich in die Erde bei diesem kosmischen Ereignis: Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geist …

Flucht vor dem Wasser. Es war der Beginn von etwas ganz Schrecklichem. Eine halbe Stunde später: „Das Wasser kommt!“ Der Schrei alarmiert die gesamte Stadt, scheucht sie aus ihren Häusern. Massen von Menschen rennen zu den höher gelegenen Stadtteilen, auf die Hügel: zu Fuß, auf dem Motorrad, im Auto. Erschütternde Schreie von Kindern und Müttern begleiten den Wettlauf. Wie hungrige Tiger ver-
folgen die drei, sieben, zehn Meter hohen Wellen des Seebebens die von Panik
erfasste Masse, überholen die
Menschen und verschlingen sie.
Glücklich, wer es schafft, rechtzeitig auf ein hohes Gebäude, auf einen Baum zu klettern.
Am Meeresstrand verschwinden die Häuser aus Holz und Zement spurlos in den Fluten. Nur gut, dass diese große Verwüstung bei Tageslicht erfolgt. Denn wer, vom Wasser gepackt, eine Holzplatte sieht, kann sich daran festklammern; wer eine Kokospalme zu fassen bekommt, kann daran hochklettern. Wer sich auf dem drei oder vier Meter hohen Wasser oben halten kann, landet mit Glück durch das Fenster
direkt im zweiten Stockwerk eines hohen Gebäudes.
Die Wellen tragen alles mit sich fort, was in den weggefegten Wohnungen war: Stühle, Töpfe, Tiere, Kühlschränke, Computer, Motorroller, Autos. Das gesamte Hab und Gut landet im ewigen Meer. Die wirbelnde Kraft des Wassers reißt den Menschen die Glieder auf. Lebendig oder bereits tot wiegen sie in den Wogen.
An das Dach einer Moschee geklammert, blicke ich auf das endlose Wasser. Welch ungeheure Verwüstung geht da vor sich: Leblose Körper von Kindern, Männern, Frauen treiben zwischen Müll und Abfall.

Trauer und Erlösung. Erst nach 24 Stunden beruhigt sich der wütende Ozean. Lebend unter Toten, bei tiefer Grabesstille, bewege ich mich zwischen hunderttausenden Leichen, die erniedrigt im Schlamm und Abfall liegen, auf den Wiesen, in den Straßen. Andere hängen an den Ästen der Bäume. Sehr viele sind vermisst im Meer, werden Futter für die Fische.
Oh, die Kinder, sie sind noch so lieb, selbst unter Schlamm und Abfall! Jeden Toten besprenge ich reichlich mit Weihwasser, direkt aus der Seite des Gekreuzigten. „Gib ihnen, o Herr, die ewige Ruhe. Denn du allein bist gut.“ Durch das Gebet empfinde ich sie alle wie meine Verwandten.
Der Herr behandelt seine Toten gut. Er trocknet ihre Tränen, lässt sie Platz nehmen. Er selbst bedient sie unter unvorstellbaren Wonnen. Dies versuche ich den Überlebenden zu erklären. Das Leiden und der Tod der Kinder, der Mütter und Väter sind eine Fortsetzung der Leiden Jesu, unter Geißelhieben, Spucke, Dornen. Auch sie sind nicht mehr zu erkennen, wie Jesus. Und doch erwarten sie, wie Jesus, die glorreiche Auferstehung.

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016