Zuhören können wie Momo

14. Dezember 2006 | von

Ob mit oder ohne Worte: Wenn Menschen sich begegnen, teilen sie sich mit. Kommunikation dient dem Verständnis, führt aber häufig zum Missverständnis. Woran liegt das und wie kann man dem begegnen? Diese und andere Fragen werden Thema in unserer Reihe: Von Du zu Du.

„Man kann nicht nicht kommunizieren“, sagte einer, der sich mit dem menschlichen Miteinander beschäftigt. Treffen zwei Menschen aufeinander, geschieht etwas zwischen ihnen. Selbst Schweigen hat oft eine große Aus-SAGE-kraft! Ein Lehrer über ein Gespräch mit einem Schüler und dessen Eltern: „Ich bat den Jungen, einen weiteren Stuhl zu holen. Als O. zurückkam, stellte er den Stuhl mit dem Rücken zu den Eltern und mir!“ Eine Handlung ohne Worte, aber gleichzeitig sehr „sprechend“: „Ich verweigere mich! Ich will an dem Gespräch eigentlich gar nicht teilnehmen.“ Vielleicht dachte der Schüler: „Mir hören die eh nie zu. Immer bekomme ich nur Ratschläge und Ermahnungen.“ Auf ein neues Gespräch wollte er sich nicht einlassen.

Einfühlendes Verstehen. Möchte jemand, wie dieser Lehrer, anderen durch Gespräche helfen, kennt er vielleicht ähnlich schwierige Situationen und fragt sich: Wieso komme ich an manche Menschen nicht heran? Oder warum gebe ich mir solche Mühe bei einem Kranken- oder Trauerbesuch, aber meine aufmunternden Worte verpuffen irgendwie?
Möchten wir uns selber aussprechen, erleben wir umgekehrt: Mit dem einen kann ich besser reden als mit dem anderen. Ein Mensch wirkt auf mich vertrauenswert, ein anderer distanziert. Und manchmal fühle ich mich nicht ernst genommen, obwohl der Gesprächspartner gar nichts Negatives äußert.
Der Amerikaner Carl Rogers ist einer der bekanntesten Männer, die sich zu solchen Fragen Gedanken gemacht haben. Heute, 20 Jahre nach seinem Tod, arbeiten viele Seelsorger, Beraterinnen und Gesprächstherapeuten nach seinen Grundsätzen: einfühlendes Verstehen, Echtheit und Wertschätzung. Aber diese drei Fundamente sind auch eine unschätzbare Hilfe für alle privaten Gespräche, bei denen wir dem anderen wirklich, und nicht nur oberflächlich begegnen wollen.
Betrachten wir das einfühlsame Zuhören und Verstehen. „Aber Zuhören ist doch einfach!“, mag mancher denken, „ich brauche nur die Ohren aufmachen!“ Bloß: Allzu oft erleben wir, dass uns gar nicht oder nur grob zugehört wird. Oder dass der Gesprächspartner etwas heraushört, das wir gar nicht meinen. Oder dass er eigentlich nur darauf wartet, etwas von sich selber zu erzählen. Wirkliches Zuhören, „ganz Ohr zu sein“, ist leider nicht sehr weit verbreitet.

Aufmerksam zuhören. Michael Ende beschreibt in seinem Roman „Momo“ anschaulich, was echtes Zuhören bedeutet: „Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen, dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, dass sie in ihm steckten. Sie konnte so zuhören, dass ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. … Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos … und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war. So konnte Momo zuhören!“
Für uns selber unerreichbar? Nein, kein abschreckendes, sondern ein anspornendes Beispiel! Hören wir „mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme“ zu, dann kann sich der andere öffnen, kann seine schützende Maske ablegen. Rogers empfiehlt, zwischendurch kurz mitzuteilen, was ich verstanden und welche Gefühle ich wahrgenommen habe. So können Missverständnisse von vorneherein vermieden werden. Außerdem kann der andere einen Moment innehalten und nachvollziehen, was er spontan gesagt hat. Er wird sich seiner Empfindungen bewusst, über die er vielleicht vorher gar nicht nachgedacht hat. Wir reden plötzlich nicht nur über das, was passiert ist, sondern über die Gefühle, die den Erzählenden dabei bewegen. Es entwickelt sich ein Gespräch, das in die Tiefe geht.

Ganz Ohr sein. Einfühlsam vertiefen kann ich noch auf andere Weisen: Ich kann zum Beispiel mitteilen, wenn mir auffällt, dass die Gesprächspartnerin ein Wort häufig wiederholt. Wieso ist ihr dieses besonders wichtig? Ferner hat wohl jeder schon erlebt, dass jemand zwar sagt „Mir geht es gut!“, dabei aber ganz bedrückt aussieht. Den Widerspruch kann ich ansprechen. Dem anderen gibt dies Mut offen zu reden, denn er sieht, dass ich ehrliches Interesse an ihm habe und nicht davor zurückschrecke, auch Leidvolles anzuhören. So tadelte der erwähnte Lehrer übrigens den Jungen nicht, sondern sagte, es scheine, O. sei „zwar anwesend, aber gleichzeitig auch nicht anwesend“. Darauf baute dann ein ehrliches Gespräch auf.
Im Roman heißt es, Momo zeigte durchs Zuhören, dass ihr Gegenüber einmalig war. Eine zutiefst biblische Aussage: Jeder Mensch ist von Gott als Individuum erschaffen und nicht austauschbar. Wenn wir beim Zuhören „ganz Ohr“ statt „ganz abgelenkt“ sind, wenn wir versuchen, uns in den anderen hineinzufühlen, können wir ihm ein Wenig dieser Einstellung Gottes vermitteln: Du bist wichtig mit deinen Gefühlen, Erfahrungen und Erlebnissen.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016