Meine Mutter die Waffe

01. Januar 1900 | von

Die Armee war ein Alptraum. Wir litten sehr unter der brutalen Behandlung, die wir erhielten. Wir wurden ständig geschlagen, meistens ohne Grund, nur um uns in Angst und Schrecken zu halten. (...) Das Essen war spärlich, und sie zwangen uns mit schweren Lasten zu marschieren, viel zu schwer für unsere kleinen und unterernährten Körper. Sie zwangen mich zu lernen den Feind zu bekämpfen, in einem Krieg, von dem ich nicht verstand, warum er geführt wurde. Mit diesen Worten zitiert die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch den Jungen Emilio, der als 14-jähriger zur Armee in Guatemala kam. Wie er kämpfen derzeit etwa 300.000 Kinder unter 15 Jahren als Soldaten für Armeen und Milizen in Kolumbien, im Libanon, in Liberia, im Sudan und vielen anderen Ländern. Einige sind noch nicht einmal acht Jahre alt. Weitere 100.000 dienen in Einheiten, die jederzeit in Kampfhandlungen eingreifen könnten.

Billig und manipulierbar. Warum zwingen die Kriegsführenden Kinder in die Armeen? Nicht nur, weil sich nicht immer genügend Erwachsene zur Verfügung stellen. Kinder sind außerdem billiger, denn sie essen weniger und erhalten weniger Sold. Zudem sind sie gehorsamer und leichter zu manipulieren. Terre des Hommes zitiert einen Rebellenoffizier aus dem Kongo: Kindersoldaten sind sehr gute Soldaten, sie denken an nichts anderes als an den Dienst. Sie dienen, ohne sehnsüchtig an eine Rückkehr zu Frau oder Familie zu denken. Und sie haben keine Angst. Teilweise werden die Kinder unter Drogen gesetzt.
Es gibt auch Kinder, die sich freiwillig melden. Sie hoffen auf die Sicherheit in der Gruppe, denken der Einsamkeit als Waisen zu entkommen, suchen materielle Unterstützung oder wollen Rache üben für Unrecht, dass ihre Familie, ihr Volk oder Stamm erlebt hat.

Werte ausgelöscht. Die Kinder werden vorwiegend als Lasten- und Munitionsträger, Boten, Spione oder auch Minensucher eingesetzt. Sie werden an Waffen ausgebildet, müssen selber töten und erleben viele Bluttaten direkt mit. So lernen sie, dass Gewalt etwas Gutes ist, wenn sie der eigenen Sache dient. Sie werden sogar gelobt für das Töten. Sie werden als Opfer zu Tätern. Ihr Wertesystem wird dabei vollständig verkehrt. Ein Mädchen aus Kolumbien: Du lernst schnell, dass die Waffe dein Leben ist. Sie ist deine Mutter. Sie passt auf dich Tag und Nacht auf. (UNICEF)

Sexsklavinnen. Mädchen sind nicht nur als Soldatinnen gefährdet. Vergewaltigung gilt inzwischen als Militärstrategie, wie zum Beispiel auf dem Balkan zu erleben war, selbst in Flüchtlingslagern sind sie nicht sicher. Prostitution ist in Kriegsgebieten, aber auch in Gebieten, in denen UN-Friedenstruppen stationiert sind, ein blühendes Geschäft. Andere Mädchen werden als Soldatenbräute gehalten. Alle diese sexuell ausgebeuteten und misshandelten Mädchen sind später oft besonders schwer zu reintegrieren. Ihre Familien wenden sich von ihnen ab, obwohl sie Opfer waren.

Alpträume, Depressionen und Aggressionen, chronische körperliche Leiden und Angstzustände sind nur einige der Spätfolgen, von denen die Mädchen und Jungen heimgesucht werden. Ihrer Kindheit beraubt fällt es ihnen nun schwer, sich wieder in die Familie und Gesellschaft einzugliedern. Ihnen fehlt eine Schulbildung. Und ohnehin gibt es in Nachkriegsgesellschaften nur wenige Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Hier muss Hilfe von außen ansetzen. Hinzu kommt das seelische Verarbeiten des Erlebten. Psychologen weisen jedoch darauf hin, dass bei diesem Problem jede Gesellschaft ihren eigenen Weg finden muss. 
So scheinen die in Mosambik durchgeführten Reinigungsrituale für die betroffenen Kinder das Richtige zu sein. Andere Jugendliche schaffen es nur mit Hilfe von Therapien. Viele aber können auch gar nicht erreicht werden. So besteht die Gefahr, dass sie Gewalt als Problemlösung beibehalten und auf ihre Familien übertragen. 
Die Kinderkonvention der Vereinten Nationen verbot bislang das Zwangsrekrutieren von Jugendlichen unter 15 Jahren. Nach langen Bemühungen ist es Anfang dieses Jahres endlich gelungen, ein Zusatzprotokoll zu dieser Konvention zu verabschieden. 

Nun sollen unter 18-jährige nicht mehr in Kriegen eingesetzt werden. Allerdings dürfen sie weiterhin in die Armee aufgenommen werden, wenn sie sich freiwillig melden. Dies betrifft übrigens keinesfalls nur Kulturen, die weit von uns entfernt sind. Auch in westlichen Ländern, angefangen bei den USA, dienen Minderjährige in der Armee. So kann ein 17-jähriger, der keinen Ausbildungsplatz bekommen hat, sich freiwillig zur Bundeswehr melden. Kritiker sehen darin keineswegs Freiwilligkeit und fordern eine noch stärkere Einschränkung. Doch der nächste Schritt liegt wohl erst einmal darin, möglichst viele Länder von der Unterzeichnung des Zusatzprotkolls zu überzeugen. Zunächst schlossen sich nur etwa 70 der 188 Mitgliedsstaaten an. Hinzu kommt das Problem, auch die Rebellenorganisationen und Bürgerkriegsmilizen von den Kinderrechten zu überzeugen.
So liegt trotz des neuen Dokuments noch ein steiniger Weg vor dem Ziel, Kinder vor dem Kriegseinsatz zu bewahren. Doch der Krieg zerstört noch unendlich viel mehr junges Leben: Millionen Kinder leiden als Flüchtlinge und Waisen unter militärischen Konflikten. Werden auch sie ihren Anwalt finden?

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016