Wahrheit unter allen Umständen
Meine Berufung habe ich immer als Pflicht begriffen, die Wahrheit über die Welt zu sagen, dieser Satz aus dem Munde eines Politikers – so mancher würde da am Wahrheitsgeahlt der Worte zweifeln. Anders jedoch bei Václav Havel, der mit diesen Worten tatsächlich seine Berufung formuliert. Auf zwei unterschiedliche Weisen hat er ihr in seinem Leben Folge geleistet: zunächst als Autor, heute als Politiker. Sicher eine ungewöhnliche Karriere für einen Künstler - jedoch eine logische Entwicklung, wenn man das Leben des tschechischen Präsidenten verfolgt. Hemmschuh Herkunft. Geboren 1936 als Sohn eines böhmischen Unternehmers, wird ihm wegen dieser bourgeoisen Herkunft eine höhere Schulbildung von den Kommunisten verwehrt. Havel wird Chemielaborant und macht das Abitur an der Abendschule nach. Anschließend versucht er, in die Akademie der Musischen Künste aufgenommen zu werden – vergebens. Ernüchtert weicht er auf das Studium der Ökonomie des Verkehrswesens aus. Doch sein ganzes Interesse gilt der Kunst, denn schon als 15jähriger hatte er Gedichte geschrieben. Nach seinem Wehrdienst arbeitet Havel an einem Theater, zunächst als Techniker und Kulissenschieber, später als Regieassistent und Dramaturg. 1962 bis 1966 bekommt er dann doch noch die Möglichkeit, Dramaturgie zu studieren. Um die Wahrheit geht es ihm auch bei seinen politischen Aktionen, gemäß seiner Devise: Ich glaube überhaupt, daß es immer Sinn hat, die Wahrheit zu sagen, unter allen Umständen. Trotz ständiger Beobachtung durch die Staatssicherheit und vieler Demütigungen engagiert er sich unter anderem für politische Gefangene und für die Unabhängigkeit der Literatur. Er wird Mitbegründer der Bürgerinitiative Charta 77. Wiederholt bezahlt der Dichter mit Gefängnisstrafen für seinen Mut, die Wahrheit zu sagen. Insgesamt verbringt Havel etwa fünf Jahre im Gefängnis. Die Erlaubnis, einmal pro Woche einen Brief schreiben zu dürfen, nutzt er zum Abfassen von Essays, die er seiner Frau Olga schickt. Nobelpreisträger Heinrich Böll vermutete in einem Interview, daß diese Briefe nicht zensiert wurden, weil die Inhalte überwiegend philosophisch, psychologisch und theologisch sind, aber nicht direkt politisch. Sie werden Mitte der achtziger Jahre unter dem Titel Briefe an Olga veröffentlicht. Die Wende kommt 1989. Studentenunruhen, Massenproteste, Demonstrationen auf dem Wenzelsplatz in Prag und Streiks bringen die Regierung unter Präsident Husák ins Wanken. Havel wird zu einem der Führer des Bürgerforums. Nun beginnen sich die Ereignisse zu überschlagen. Havel sagt später in einer Rede darüber: Die Maske fiel so schnell, daß wir inmitten der sich drängenden Geschäfte buchstäblich nicht einmal Zeit hatten, uns zu wundern. Schließlich wird der Dichter und Dissident am 29. Dezember 1989 zum Präsidenten der Tschecholslowakei gewählt. Zuviel Moral? Innenpolitisch ist der Präsident mittlerweise umstritten. Schon früh wurde ihm vorgeworfen, zu viele politische Posten mit Freunden zu besetzen. Hierzu ist jedoch anzumerken, daß sein Bekanntenkreis im Untergrund überwiegend aus politisch Aktiven bestand, aus Leuten, die sich dem System nicht angepaßt hatten. Ihnen konnte er auch als Präsident vertrauen. Erst heute gibt es auch demokratische Berufspolitiker. Schwerer traf ihn sicher der Vorwurf, sich zuviel um Symbole und Moral zu kümmern und zu wenig um alltägliche Probleme. Er hält aber die post-kommunistische Gesellschaft für moralisch krank, weil sie sich angewöhnt habe, das eine zu sagen und etwas anderes zu denken, wie er in einem Radio-Interview sagte. Hierin sieht er tatsächlich seine Hauptaufgabe: Mein Programm als Präsident ist es also, Geistigkeit in die Politik zu tragen, sittliche Verantwortung, Menschlichkeit, Demut und die Rücksicht darauf, daß etwas Höheres über uns ist, daß unser Tun sich nicht im schwarzen Loch der Zeit verliert, sondern irgendwo aufgezeichnet und bewertet wird, daß wir weder das Recht noch Grund haben zu denken, wir verstünden alles und dürften daher alles. Private Schläge wie der Tod seiner ersten Frau Olga (1996) und schwere Erkrankungen haben Havel eine zusätzliche Last aufgelegt. Zuletzt ist es etwas stiller um den Dichterpräsidenten geworden. Doch trotz aller Kritik: Eine Zeit nach Havel kann sich in der Tschechischen Republik aber auch in Europa noch kaum jemand vorstellen. |