Töten als Ausweg?

16. Dezember 2005 | von

Hamburgs Justizsenator Roger Kusch, ein CDU-Politiker, sorgte im November 2005 für
Schlagzeilen. Er fordert, das Verbot der „Tötung auf Verlangen“ teilweise aufzuheben. Damit spitzt
sich die Debatte über die Sterbehilfe in Deutschland zu.
 Es ist auch ein Kampf um  die Begriffe, denn „Sterbehilfe“  ist mehrdeutig. Als Christen sollten wir uns mit diesem wirklich „lebenswichtigen“ Thema vertraut machen und Position beziehen.

In Deutschland ist die politische Diskussion zum Thema Sterbehilfe in eine neue Phase eingetreten. Als erster maßgeblicher CDU-Politiker hat sich Hamburgs Justizsenator Roger Kusch im November 2005 für die Änderung des Paragraphen 216 des Strafgesetzbuchs (StGB) ausgesprochen: Die „Tötung auf Verlangen“ soll unter bestimmten Umständen nicht mehr strafbar sein. Kaum hatte sich der erste Sturm der Entrüstung über diesen Vorstoß gelegt, trat die Schweizer Sterbehilfe-Organisation „Dignitas“ mit der Einrichtung ihrer er-sten Zweigstelle in Hannover an die Öffentlichkeit und sorgte damit für weiteren Zündstoff. Haben in Deutschland – nach den Niederlanden und Belgien – die Euthanasie-Befürworter an Boden gewonnen? Finden ihre Argumente immer stärker Gehör und ist schon bald mit Gesetzesänderungen zu rechnen?

Nächstenliebe? Bei nüchterner Betrachtung sind die Erfolgsaussichten der Sterbe-
hilfeaktivisten gegenwärtig als gering einzustufen. Dennoch muss die argumentative Auseinandersetzung mit ihnen geführt werden. Das Thema ist auf der Tagesordnung und kann durch Tabuisierung nicht mehr „eingefangen“ werden. Wie steht es also um die Gründe, die das Töten eines Mitmenschen rechtfertigen sollen?
Justizsenator Kusch begründet seine Forderung nach teilweiser Freigabe der „Tötung auf Verlangen“ u. a. auch mit
religiösen Erwägungen. Seiner Auffassung nach ist „verantwortungsvolle, mitfühlende Sterbehilfe“ kein Verstoß gegen humane Grundwerte, sondern sogar „ein Gebot christlicher Näch-stenliebe“. Die Unvereinbarkeit dieser Sichtweise mit dem christlichen Glauben liegt auf der Hand. Das Gebot „Du sollst nicht töten“ lässt sich nicht in die Aussage „Du sollst töten, wenn du darum gebeten wirst“ umkehren. Auch das Beispiel Jesu, aus Liebe Leid und Tod auf sich zu nehmen, ist eindeutig. Wer demgegenüber das Gebot der Nächstenliebe zu einem Gebot, in bestimmten Fällen zu töten, umzudeuten versucht, hat wesentliche christliche Überzeugungen nicht verstanden: Gott ist nicht nur der Schöpfer, sondern auch der Herr des Lebens. Er hat jedem Menschen das Leben als Zeit der Bewährung zur Erlangung des ewigen Heils anvertraut. Das Ende dieser Zeitspanne zu bestimmen, steht dem Menschen nicht zu.

Effektive Schmerztherapie. Aber wie soll mit unerträglichen Leidenszuständen umgegangen werden? Notfalls – so wird gesagt – müsse der Leidende durch Hilfe zum Sterben „erlöst“ werden. Wird hier aber nicht ein gutes Ziel, die Leidbewältigung, mit einem schlechten Mittel – der Tötung – erreicht? „Leid“ ist nicht an und für sich „menschenunwürdig“. Unvollkommenheit, Beeinträchtigung und Leid gehören untrennbar zum Leben des Menschen dazu. Wie mit diesen Belastungen umgegangen wird, ist ein Gradmesser für die Humanität unserer Gesellschaft. Denn beim Thema „Sterbehilfe“ geht es nicht nur und auch nicht vorrangig um körperlichen Schmerz, sondern auch um viele andere Umstände, die alte und kranke Menschen „am Leben“ verzweifeln lassen: die Angst vor Missachtung der Person, der Verlust des persönlichen Lebenssinns, das Gefühl, anderen zur Last zu fallen – vor allem aber Einsamkeit und soziale Isolierung.
Körperliche Schmerzen können dagegen wirksam bekämpft werden. Die moderne Schmerztherapie ist in der Lage, in 90 bis 95 Prozent aller Fälle eine ausreichende Schmerzlinderung zu erzielen. In den restlichen Fällen kann, wenn es gewünscht wird, das Schmerzbewusstsein gezielt gedämpft oder ausgeschaltet werden, so dass auch bei schwersten Erkrankungen kein Mensch elend zugrunde gehen muss. Dass diese Möglichkeiten der Palliativmedizin noch nicht überall verfügbar sind oder ausgeschöpft werden, ist ein gesellschaftliches Problem, dem schnellstmöglich abgeholfen werden sollte. Dies berechtigt aber nicht dazu, der Patiententötung das Wort zu reden.

Standpunkt der Kirche. Oftmals wird der Eindruck erweckt, die katholische Kirche befürworte eine Lebensverlängerung um jeden Preis und stehe einem qualvollen Tod gleichgültig gegenüber. Das ist natürlich falsch. Einen sinnlosen, leidensverlängernden und den natürlichen Tod unnötig hinauszögernden Einsatz von Apparaten – noch dazu gegen den Willen der Betroffenen – lehnt die Kirche ab. Das Sterbenlassen ist durchaus auch eine christliche Option. „Die Moral verlangt keine Therapie um jeden Preis. Außerordentliche oder zum erhofften Ergebnis in keinem Verhältnis stehende aufwendige und gefährliche medizinische Verfahren einzustellen, kann berechtigt sein. Man will dadurch den Tod nicht herbeiführen, sondern nimmt nur hin, ihn nicht verhindern zu können. Die Entscheidungen sind vom Patienten selbst zu treffen, falls er dazu fähig und imstande ist ...“ (Katechismus der Katholischen Kirche, Ziff. 2278). Ausdrücklich erlaubt die Kirche auch den Einsatz schmerzlindernder Mittel, die möglicherweise zu einer Lebensverkürzung führen können: „Schmerzlindernde Mittel zu verwenden, um das Leiden des Sterbenden zu erleichtern, selbst auf die Gefahr hin, sein Leben abzukürzen, kann sittlich der Menschenwürde entsprechen, falls der Tod weder als Ziel noch als Mittel gewollt, sondern bloß als unvermeidbar vorausgesehen und in Kauf genommen wird“ (KKK, Ziff. 2279).
An diesen Aussagen wird deutlich, dass es keine absolute Pflicht zur Lebenserhaltung bzw. Lebensverlängerung gibt. Es ist aber unter allen Umständen verboten, absichtlich den Tod eines Menschen herbeizuführen. „Die direkte Euthanasie besteht darin, dass man aus welchen Gründen und mit welchen Mitteln auch immer dem Leben behinderter, kranker oder sterbender Menschen ein Ende setzt. Sie ist sittlich unannehmbar“ (KKK, Ziff. 2277).

Selbsttötungsvereine. Die Kirche will verhindern, dass zu irgendeinem Zeitpunkt des Lebens eines Menschen eine Entscheidung darüber gefällt wird, ob dieses Leben noch „wert“ ist, gelebt zu werden. Solche Qualifizierungen stehen niemandem zu – auch nicht dem Betroffenen selbst. Die Selbsttötung ist daher nach christlichem Verständnis ebenfalls abzulehnen.
Aber auch aus säkularer Perspektive stellt sich die Selbsttötung – für die sich insbesondere der Verein „Dignitas“ einsetzt – nicht als „Recht“ dar. Sie ist eine rein tatsächliche Handlungsoption, mit der man sich aus der Rechtsgemeinschaft verabschieden kann. Wer so handeln will, kann auf Dauer nicht mit Gewalt daran gehindert werden. Aber eine Unterstützung dieses Vorgehens ist nicht zu rechtfertigen. Sie würde voraussetzen, dass man im konkreten Fall das Leben für nicht mehr lebenswert, für „lebensunwert“ hält.
Und wenn es überhaupt „lebensunwertes Leben“ gibt, dann wäre es die logische Konsequenz, ein solches Leben auch dann zu beenden, wenn es der Betroffene nicht ausdrücklich wünscht oder nicht mehr wünschen kann. In den Niederlanden geschieht dies jährlich in hunderten von Fällen! Auf diese schiefe Ebene sollte sich jedoch kein Rechtsstaat begeben.

Töten ist keine Hilfe. Die Debatte um Leben und Tod leidet am Gebrauch unscharfer Begriffe. Über allem steht der Begriff der „Sterbehilfe“, der zunächst positive Empfindungen weckt. Wer wollte schon einem anderen die „Hilfe“ verweigern? „Hilfe“ ist bei schwerkranken und sterbenden Menschen in vielfältiger Weise notwendig, wie z. B. Hilfe gegen Schmerzen, Hilfe gegen die Angst vor „Übertherapie“, die Angst, anderen zur Last zu fallen oder zu vereinsamen.
Die Abhilfe besteht jedoch nicht darin, den Patienten zu töten, sondern darin, seine Schmerzen zu bekämpfen, belastende Eingriffe zu unterlassen, Angehörige zu entlasten und persönliche Betreuung und Begleitung zu gewährleisten. Hier wird zurecht von „Hilfe“ gesprochen.
Meist verbirgt sich hinter der Rede von „Sterbehilfe“ jedoch etwas ganz anderes: gemeint ist eine „Hilfe“ zum Sterben oder sogar direktes Töten. Töten ist jedoch keine Hilfe. Töten beseitigt keine Ängste und kein Leid. Töten beseitigt den Leidenden. Welchen Nutzen hat der Betroffene durch eine „Hilfe“, durch die er vom Leben zum Tod befördert wird? Der Begriff der „Hilfe“ wird gegenstandslos, wenn das Subjekt des Hilfsanspruchs nicht mehr existiert.

Vorbild „Abtreibungsrecht“. Besonders gefährlich wird es, wenn in der Diskussion um die „Sterbehilfe“ Parallelen zur Abtreibungsregelung gezogen werden. Als zentrales juristisches Argument führt der CDU-Politiker Kusch an, dass unsere Rechtsordnung bei der Abwägung zwischen „Autonomie“ und „Leben“ mit zweierlei Maß messe: „Die Schwangere darf sogar fremdes Leben zerstören, aber der Todkranke darf nicht die Beendigung seines eigenen Lebens verlangen.“
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die Abtreibungsgesetze zu einem Dammbruch im Lebensschutz führen, dann wäre er hiermit erbracht. Oft sind diejenigen, die den Rechtsschutz ungeborener Kinder beibehalten wollten und vor negativen Folgen hinsichtlich des Rechts auf Leben allgemein gewarnt haben, „belehrt“ worden, dass es sich beim Schwangerschaftsabbruch um eine absolut singuläre Situation handle, die keiner Verallgemeinerung zugänglich sei. Die Angst vor einem Dammbruch sei unbegründet und geradezu irrational.
Tatsächlich hat sich aber in der Folgezeit bestätigt, dass die Bresche, die von der Abtreibungsgesetzgebung in die Mauer des Lebensschutzes geschlagen wurde, die Stabilität des gesamten Gefüges zerstört hat. Nicht nur in der Debatte um das Embryonenschutzgesetz, sondern nunmehr auch beim
§ 216 StGB wird die Abtreibungsregelung als Argument für eine weitere Aufweichung des Rechtsschutzes benutzt.

Gefährliches Argument. Dies sollte durchschaut werden: Wenn aus der „Berechtigung“ der Schwangeren, „fremdes Leben“ zu zerstören, überhaupt irgendetwas gefolgert werden kann, dann eben das Recht, fremdes Leben zerstören zu dürfen – und nicht nur das Recht, das eigene Leben zerstören zu lassen. Damit wäre das Recht auf Leben generell zur Disposition gestellt. Wer diesen „Lösungsweg“ konsequent weitergeht, landet am Ende beim „Recht des Stärkeren“, das – so der Philosoph Robert Spaemann – überhaupt kein Recht ist, sondern blanker Zynismus.
Auch aus Gründen der praktischen Vernunft sollte sich jede Parallele zur Abtreibungsregelung verbieten. Es ist hinreichend bekannt, dass die geltenden Gesetze zum Schwangerschaftsabbruch zu einer Zerstörung des Rechtsbewusstseins für das Lebensrecht ungeborener Kinder geführt haben und dass ihre praktische Anwendung keinerlei ernstzunehmender Kontrolle unterliegt. Soll der legalisierten Tötung Ungeborener im Mutterleib „nach Beratung“ nun auch die „Entsorgung“ der alten und kranken Menschen „nach Beratung“ folgen? Wenn wir im Bereich der „Sterbehilfe“ zu ähnlichen Zuständen kommen sollten wie bei der Tötung ungeborener Kinder, dann können ältere und kranke Menschen ihres Lebens nicht mehr sicher sein!

Lebensperspektiven. Die Argumente für das Töten als „Hilfe“ überzeugen nicht. Der Wunsch zu sterben beruht auf vielfältigen Motiven, denen auf andere Weise begegnet werden kann und muss. Körperliche Schmerzen können heute wirksam gelindert werden. Einsamkeit und soziale Isolierung sind durch persönliche Betreuung und Pflege zu überwinden, so dass auch in Alter und Krankheit die Lebensperspektive nicht verloren geht. Es ist unser aller Aufgabe, nicht Hilfe zum Töten, sondern Hilfe zum Leben zu leisten. Die Organisation und Mithilfe bei der Tötung oder Selbsttötung ist der falsche Weg. Unsere Gesellschaft muss in der Lage sein, bessere Lösungen für individuelle oder soziale Konfliktsituationen zu finden!
Gerade seit einigen Jahren haben die Palliativmedizin und die Hospizbewegung starken Aufschwung genommen. Diese müssen ausgebaut und gefördert werden. Gleichzeitig muss sich die Einsicht durchsetzen, dass nicht jeder Therapieversuch sinnvoll ist und dass ein Zulassen des Sterbens, kombiniert mit guter Symptombehandlung, einen würdigen Abschluss des Lebens darstellen kann. Töten ist dagegen strikt abzulehnen, auch wenn es durch die eigene Hand geschieht. Wir dürfen nicht über das Geschenk des Lebens verfügen.

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016