In Betlehem geboren
Es war Franz von Assisi, der am Weihnachtsfest des Jahres 1223 in Greccio das Weihnachtsmysterium durch eine lebende Krippe sinnenfällig darstellen ließ. Historisch stand die Krippe, in die das Jesuskind gelegt wurde, in Betlehem. Renzo Allegri, ein in Italien sehr bekannter Journalist, stellt unseren Lesern die bewegende Weihnachtsfeier in Betlehem vor. Ablauf und geschichtliche Hintergründe erfuhr er im Gespräch mit P. Stéphane Milovitch, dem Guardian des Franziskanerklosters an der Geburtskirche.
Weihnachten wird in der ganzen Welt gefeiert. Die Christen blicken auf Jesus, den eingeborenen Sohn Gottes, der ein wirklicher Mensch werden wollte, um die Menschheit aus der alten Schuld Adams zu erlösen. Dieses Glaubensereignis sprengt alle Dimensionen. Nichts und niemand bleibt davon unberührt, selbst Atheisten nicht. Weihnachten erreicht alle Kulturen und alle menschlichen Kategorien.
An Heiligabend verändert die Welt für ein paar Stunden ihr Antlitz. In Städten und Dörfern, wo immer Menschen wohnen, funkelt und glitzert es im Schein festlicher Beleuchtung. Frohe Gesichter, Lachen, Händeschütteln, Austausch von Glückwünschen und Geschenken, Umarmungen, Gesten der Versöhnung, stimmungsvolle Gefühle, Tränen und Freude. Der Grund dafür liegt im Mysterium jener Geburt, die sich vor gut zweitausend Jahren ereignete im kleinen Stall von Betlehem in Palästina. Millionen von Familien überall auf dem Erdenrund stellen diese Szene in einer eigenen Krippe nach. Doch der geschichtliche Ort dieses Ereignisses ist Betlehem. Wer dort Weihnachten feiert, kann sagen: „Hier ist Jesus geboren“, und er wird dieses kleine Wörtchen ‚hier‘ tief bewegt aussprechen.
Vom französischen Franziskanerpater Stéphane Milovitch (45 J.) lassen wir uns erzählen, wie Weihnachten am Geburtsort Jesu „erlebt“ werden kann. Zwanzig Jahre wirkt er nun im Heiligen Land, wo den Brüdern des heiligen Franziskus seit sieben Jahrhunderten die Seelsorge anvertraut ist. Pater Stéphane ist Guardian (Hausoberer) des Konventes an der Geburtskirche, der mächtigen Basilika, Hauptziel der Pilger und Touristen aus aller Welt. Erbaut hat sie Kaiserinmutter Helena im Jahr 326 an jener Stelle, wo nach der Überlieferung Jesus geboren wurde. Im Lauf der Jahrhunderte gab es Zerstörung und Wiederaufbau. Zwei Treppen führen hinunter in die Krypta, zur Geburtsgrotte, wo Maria und Josef Zuflucht fanden, weil in der Herberge kein Platz war.
Dort brachte Maria ihren erstgeborenen Sohn zur Welt, wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe. Drei Stellen in der Grotte laden zum Gebet ein: Ein 14-zackiger Stern markiert den Ort der Geburt. Einige Meter dahinter steht die Krippe, in die das Jesuskind gelegt wurde. Gegenüber dann der Altar der Magier. Sie kamen aus dem fernen Orient, um den neugeborenen König anzubeten. An diesen literarisch und archäologisch dokumentierten Stellen wird in Betlehem Weihnachten gefeiert.
„Hier in Betlehem ist alle Tage Weihnachten“, so Pater Stéphane. „Ob die Pilger im Februar oder August kommen, sie wollen Weihnachten feiern. Und mit ihnen erleben wir Priester hier täglich Weihnachten, wenn es in der Liturgie heißt ‚Jesus ist heute geboren‘. Doch der 25. Dezember ist auch für uns ein besonderer Tag, voll bewegender Freude.“
DER BAUM DES FRIEDENS
Pater Stéphane beschreibt die Vorbereitungen auf das Fest. Am Adventskranz über der Geburtsgrotte entzünden die Familien eine Kerze, die bis Weihnachten in ihren Häusern brennt. Der Schmuck in den Straßen ist nicht so überladen wie in europäischen Städten, aber liebevoll-innig gestaltet. Die Christen sind ja eine Minderheit in Stadt. Die Kinder freuen sich besonders über den mächtigen Weihnachtsbaum vor der Basilika, „Baum des Friedens“ genannt.
Das Fest selber ist geprägt von Gebet und liturgischen Feiern, ganz Betlehem wird zu einer großen Kirche. Pilger aus aller Welt treffen ein, neben Katholiken auch andere Riten und Religionen. Die Priester, Bischöfe und alle Ordensleute aus dem Heiligen Land ziehen nach Betlehem, allen voran der Patriarch von Jerusalem. Dann der Bürgermeister von Betlehem, der per Gesetz ein Christ sein muss, der Präsident von Palästina, Abu Mazen, mit seinen muslimischen Ministern, die Botschafter aus katholischen Ländern wie Italien, Frankreich, Belgien und Spanien. Betlehem wird zum großen ökumenischen Zentrum mit einer atemberaubenden mystischen Atmosphäre. Alles erfolgt entspannt und herzlich, als sei die Welt plötzlich eine große Familie geworden.
POLITISCHER PFERDEWECHSEL
Nach einem sehr alten Ritual kommt der Patriarch bereits am Nachmittag des 24. Dezember. Ein Autokorso begleitet ihn von seinem Amtssitz in Jerusalem, die israelische Polizei sperrt die Seitenstraßen und schaltet die Ampeln auf Grün. Herzlich applaudierende Menschen säumen den Straßenrand. Am Eliaskloster, der Stadtgrenze zu Betlehem, warten die bürgerlichen und kirchlichen Autoritäten der Stadt. Nach antiker Tradition aus dem Osmanischen Reich eskortieren den Patriarchen bei dieser Reise fünf Pferde. Aus politischen Gründen werden beim Durchqueren der Mauer, die Israel vom Westjordanland trennt, die israelischen Pferde durch palästinensische ersetzt. „Bei der Einfahrt nach Betlehem“, so Pater Stéphane, „stoppt der Autokorso am Grabmal der Rachel, wo die Pfarrer der Stadt den Patriarchen begrüßen. Begleitet von den Pfadfindern, geht es im Schritttempo durch Wohngebiete weiter, bis zum Spalier der Seminaristen und Ordensleute auf dem Platz vor der Basilika. Als Oberer der Konventsgemeinschaft begrüße ich den Patriarchen an der Demutspforte (dieser Eingang kann nur in gebückter Haltung passiert werden, weil er so niedrig ist) und geleite ihn in die Kirche zur Eröffnung der feierlichen Vesper mit ihren traditionellen Hymnen und Gebeten.“
Die Basilika hat nur fünfhundert Sitzplätze. Die Bänke werden entfernt, so finden zweitausend Menschen Platz. Anfragen zur Teilnahme kommen aus der ganzen Welt. Eintrittskarten (natürlich kostenlos) bekommen nur Pilger, nicht die Einwohner von Betlehem. Gegen 21 Uhr öffnet die Basilika. Es geht langsam voran, da jeder durch eine Sicherheitsschleuse muss.
Der Hauptgottesdienst zur Feier der Geburt Jesu beginnt um 23,30 Uhr. Der Patriarch zelebriert mit etwa 150 Bischöfen und Priestern, weltweit per Fernsehen ausgestrahlt. Nach der gesungenen Matutin kommt fünf Minuten vor Mitternacht Präsident Abu Mazen mit seinem Gefolge und wird vom Patriarchen
in aller Form begrüßt.
GLORIA AN HISTORISCHER STELLE
Schlag Mitternacht ertönen die Glocken der Basilika über die ganze Stadt und Bläser intonieren das „Gloria“. Ein Sakristan zieht das Tuch, das die Krippe unter dem Altar bedeckt, weg: da liegt die Figur des Jesuskindes. Dies ist der ergreifendste Augenblick, alle denken an die Geburt des Heilandes. An diesem Ort hat der Gloria-Gesang eine besondere Bedeutung. Singend verkündeten die Engel den Hirten: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seiner Gnade. Der Patriarch inzensiert das Jesuskind, dann beginnt die heilige Messe in Latein, mit den Lesungen in acht Sprachen. Präsident Abu Mazen mit Gefolge sind Muslime. Nach antiker Tradition können Muslime wohl an der Messfeier teilnehmen, nicht aber an der Kommunion. Nach dem Agnus-Dei-Gesang verabschiedet der Patriarch den Präsidenten, der sich dann mit seinem Gefolge zurückzieht.
GENAU HIER WAR ES
Nach der Eucharistiefeier wird die Statue des Jesuskindes aus der Krippe unter dem Altar zur Krippe in der Grotte übertragen, bei der es sich ja um die echte Krippe handelt, in die Maria ihren Neugeborenen gelegt hat. In Prozession zieht der Patriarch mit dem Jesuskind zur Geburtsgrotte. Dort folgt eine sehr bewegende Zeremonie, begleitet von gregorianischen Gesängen in Latein aus dem vierten-fünften Jahrhundert. Beim 14-zackigen Stern, wo der Tradition nach Jesus geboren wurde, fügt der Kantor an den entsprechenden Stellen der Evangelientexte jeweils ein „hic“ ein: das ist hier geschehen, an diesem Ort. So wird an das größte Ereignis erinnert, das die Erde erlebt hat, und die Herzen der Teilnehmenden werden von unsäglicher Freude erfüllt. Dies dauert bis drei Uhr morgens, doch an Weihnachten ist Betlehem in Gebet getaucht.
UNTER FREIEM HIMMEL
Den gesamten Festtag hindurch werden an der Geburtsgrotte Messen gefeiert, in der Stadt wird unter freiem Himmel gebetet und gesungen. Örtliche und angereiste Chöre, auch Gruppen von Pilgern singen weihnachtliche Lieder in den nächtlichen Himmel, an vielen Punkten der Stadt. Die ergreifenden Melodien schaffen eine bezaubernde Atmosphäre.
Ihnen, den Lesern, entbietet Pater Stéphane einen christlichen und einen franziskanischen Gruß. Sein christlicher Wunsch: „Dass die Liebe Gottes zu uns verstanden wird, der ein Mensch werden wollte und am Kreuz zu unserem Heil gestorben ist.“ Sein Wunsch als Franziskaner: „Blicken wir mit realistischen Augen auf Weihnachten, so wie Franziskus in Greccio. Um Gottes große Liebe zu uns besser zu erfassen, wollte Franziskus mit leiblichen Augen sehen, in welche Armseligkeit hinein das Jesuskind gekommen ist.“