Weg aus der Sackgasse Sucht
Die Fastenzeit hilft uns, Freiheit zu gewinnen von Gewohnheiten und Genüssen, von denen wir nur schwer lassen können. Vielen Menschen ist ein freiwilliger Verzicht nicht mehr möglich, weil sie bereits in die Abhängigkeit gerutscht sind. Was tun, wenn der „Stoff" lebensnotwendig geworden ist? Unsere Autorin, Internistin an einer Fachklinik für Abhängigkeitserkrankungen, zeigt konkrete Schritte auf, die der Betroffene, aber auch sein Umfeld gehen können.
Alle großen Religionen kennen das Fasten, die Abstinenz zur Vorbereitung auf ein besonderes Ereignis. Nach einer Zeit der Sattheit und Fülle tut es gut, den eigenen Standpunkt neu zu erspüren und auszuloten, wo die Grenze zwischen Freiheit und Abhängigkeit verläuft.
Es gibt Menschen, denen die Freiheit im Umgang mit Suchtmitteln, zum Beispiel Alkohol, verloren gegangen ist. Sie können ihren Konsum schwer oder gar nicht mehr steuern, sie konsumieren missbräuchlich oder abhängig. Der Alkohol nimmt großen Raum in ihrem Denken und Leben ein. Der Betroffene spürt, dass sein Umgang mit dem „Stoff" aus dem Ruder läuft (oder schon gelaufen ist), aber er kann den Schritt zur Abstinenz nicht aus eigener Kraft schaffen.
Wie kann ich erkennen, ob ein Angehöriger, Bekannter, Freund oder Arbeitskollege gefährdet oder abhängig ist? Professor Jellinek, ein amerikanischer Psychiater, hat vor vielen Jahren ein Schema erarbeitet, das heute noch hilfreich ist. Er unterscheidet vier Phasen der Alkoholabhängigkeit: die voralkoholische Phase, die Anfangsphase, die kritische Phase und die chronische Phase.
Abhängigkeit erkennen
Im so genannten Jellinek-Schema werden 47 Stufen unterschieden, die jedoch nicht alle von allen Erkrankten durchlaufen werden müssen. Die Stufe 10, der Kontrollverlust, ist die bedeutungsvollste, denn sie stellt den Beginn der kritischen Phase und das zentrale Kennzeichen der Abhängigkeit dar. In dieser Stufe stellt sich häufiger ein unwiderstehliches Verlangen nach mehr Alkohol ein. Dieses Verlangen ist ausgesprochen stark und hält gewöhnlich an, bis derjenige zu betrunken oder zu krank ist für eine weitere Alkoholaufnahme. Dieses exzessive Trinken braucht nicht durch irgendein persönliches oder psychisch bedingtes Bedürfnis eingeleitet zu werden, sondern kann aus einer gewöhnlichen gesellschaftlichen Gelegenheit entstehen.
Dieser Kontrollverlust bedeutet nicht, dass der Betroffene jeden Tag Alkohol trinkt. Vielmehr setzt er erst während des Trinkens und durch das Trinken ein. Der Kontrollverlust zeigt, dass der Erkrankte nicht mehr zum „normalen" Trinken zurückkehren kann. Es gibt keine Heilung, die Krankheit kann nur durch dauernde und vollständige Abstinenz zum Stillstand gebracht werden. Betrachten wir die einzelnen Phasen des Schemas. In der voralkoholischen Phase finden sich das Erleichterungstrinken und eine Erhöhung der Alkoholtoleranz. In der Anfangsphase kreisen die Gedanken sehr häufig um Alkohol, es folgt heimliches Trinken.
In der kritischen Phasekommt es zu unwiderstehlichem Verlangen nach Alkohol,zu Erklärungen des eigenen Trinkverhaltens („Ich trinke, damit ich besser schlafe") und häufig zu aggressivem Auftreten. Interessensverlust und eine Neigung zu Selbstmitleid schließen sich an. Das Anlegen eines Alkoholdepots, Vernachlässigen der Ernährung und morgendliches Trinken gehören zur kritischen Phase.
In der chronischen Phasekommt es zum Einsetzen eines verlängerten Rausches nach Alkoholkonsum, zu ethischem Abbau und zum Trinken mit Personen unter Niveau. Ängste, Beeinträchtigung des Denkens, Depressionen und organische Nervenschädigungen wie Polyneuropathie (Kribbeln und Gefühl der Taubheit) und Greif- und Gangstörungen treten auf.
Hilfe von außen
Was können Angehörige, Arbeitskollegen und Bekannte tun?Es ist wichtig, den Betroffenen anzusprechen, aber nicht abzukanzeln. Der Verweis auf Alkoholismus als Krankheit mit Behandlungsbedarf kann den Süchtigen entlasten. Hilfreich ist der Hinweis auf Suchtberatungsstellen und Selbsthilfegruppen. Es ist oft ein langer und anstrengender Weg, bis ein Erkrankter einsieht, dass er ohne Hilfe nicht aus seiner Sackgasse kommt.
Leider sind die Verhaltensweisen der „Gesunden" nicht immer hilfreich. Vorwürfe helfen nicht weiter, und das „Decken" der Arbeitskollegen ist keine Kameradschaft, sondern „Mittäterschaft". Ein hilfreicher Weg ist es, mit dem Vorgesetzten zu sprechen, die Beobachtungen in Bezug auf den Umgang mit dem Alkohol mitzuteilen. Im Idealfall führt der Vorgesetzte ein Gespräch, in dem er dem Betroffenen Hilfe anbietet. Für den Süchtigen ist es nicht leicht, zuzugeben, dass eine Abhängigkeit vorliegt und er diese aus eigener Kraft nicht überwinden kann. Aber zahlreiche Betroffene sagen im Verlauf einer Therapie, sie hätten sich von Freunden, der Familie oder auch ihrem Hausarzt eine direkte Konfrontation, verbunden mit Hilfsangeboten, gewünscht.
Regeln für Angehörige im Umgang mit noch oder wieder konsumierenden Angehörigen:
1. Mach dich nicht zum Komplizen – und auch nicht zum Opfer!
2. Lass nicht zu, dass andere (z.B. Kinder) zu Opfern werden!
3. Lass nicht zu, dass andere bedeutsame Beziehungen gefährdet werden!
4. Riskiere nicht die eigene körperliche und seelische Gesundheit!
5. Habe den Mut zu Konsequenzen bei Nichterfüllung deiner Erwartungen!
6. Sei dir bewusst, dass es Hilfen für dich gibt und nimm sie in Anspruch!
7. Nimm aufmerksam und kritisch wahr und sage mutig, wie es dir damit geht!
8. Mach dich nicht abhängig von einer Beziehung zu einem Abhängigen!
9. Beherzige all das, bevor Respekt, Zuneigung oder Liebe gänzlich zerstört sind!