Chronist der russischen Seele
Nur wenige Maler seiner Zeit verfügten über eine derartige Bandbreite künstlerischer Ausdrucksmittel wie der Russe Ilja Repin. Von der klassischen Akademiemalerei über den kritischen Realismus bis hin zu zarten impressionistischen Werken. Virtuos meisterte Russlands berühmtester Maler alle Bildaufgaben.
„Alles was mich umgibt, erregt mich in höchstem Maße, gibt mir keine Ruhe und fordert einfach, gemalt zu werden; die Wirklichkeit ist viel zu empörend, um mit ruhigem Gewissen wie ein gesticktes Muster dargestellt zu werden.“ Diese Passage aus einem Brief des russischen Malers Ilja Repin vom 30. November 1883 liest sich wie ein Manifest seines gesamten Werkes. Es ist die Zeit, in der er sich zu größtem Ruhm aufschwingt. Bewundert werden seine Bilder wegen ihrer packenden Darstellung der russischen Realität, die oft mit Sozialkritik verbunden ist.
Schonungslos realistisch. Bereits eines seiner ersten großen Werke rüttelte die Öffentlichkeit wie ein Paukenschlag auf: die Wolgatreidler. 1872/73 begründet Repin mit diesem genialen Jugendwerk und seiner schonungslosen Darstellung der Realität eine neue Epoche der nationalen Kunst. Das Wagnis, das Schicksal realer Menschen aus der unteren Schicht in den Rang eines bedeutenden, großformatigen Bildes zu erheben, gelang. Der Maler zeigt elf Menschen, die wie Vieh ins Joch gespannt, an Land ein Schiff auf der Wolga ziehen. Mit dieser Darstellung des zum Zugtier degradierten Menschen übt Repin Sozialkritik: In Lumpen gehüllt, Lappen um die Köpfe gewickelt legen sich die erschöpften Männer in den Gurt. Der Maler schildert jeden einzelnen ausdrucksstark, liest aus jedem Gesicht eine bewegende Lebensgeschichte heraus.
Traum Maler. Dieses Werk katapultierte den jungen Maler in die Riege der führenden Künstler des zeitgenössischen Russlands. Wie hatte ihn das Leben auf diesen Höhepunkt vorbereitet?
Am 24. Juli 1844 wird Ilja Jefimowitsch als Sohn des Militärsiedlers Jefim Wassiljewitsch und der Tatjana Stepanowa im ukrainischen Tschugujew geboren. Er verlebt dort seine Kindheit, besucht die Militärtopographieschule und macht dort eine Lehre beim Ikonenmaler Iwan Bunakow. Diese Zeit weckt in ihm den leidenschaftlichen Wunsch, professioneller Maler zu werden. 1863 macht sich Ilja auf nach St. Petersburg. Nach einem Jahr Zeichenunterricht wird er von der Akademie der Künste angenommen. Während seiner Studienzeit verbringt er 1870 mit Malerfreunden die Sommermonate an der Wolga, um in die Atmosphäre wirklichen Lebens einzutauchen - und findet dort die Inspiration für seine Wolgatreidler.
Ein Jahr später schließt er die Akademie mit Bravour ab und erhält ein mehrjähriges Auslandsstipendium. 1872 heiratet er Vera Schewzowa und bekommt mit ihr im selben Jahr eine Tochter. Kurz darauf treibt ihn der Hunger auf neue Eindrücke nach Wien, Rom, Neapel – schließlich für drei Jahre (1873 – 1876) ins Zentrum der damaligen künstlerischen Avantgarde: nach Paris. Dort taucht er in das pulsierende Leben des Künstlerviertels Montmartre ein und ist fasziniert von den Werken der Impressionisten. Ihn besticht deren Fähigkeit, einen flüchtigen Augenblick wiederzugeben, Luft und Licht auf die Leinwand zu bannen. Diese modernen Stilmittel setzt er in einem zentralen Werk der Frankreichjahre um, im „Pariser Café“ (1875). Im folgenden Jahr bricht er seinen Frankreichaufenthalt vorzeitig ab und kehrt nach Russland zurück.
Russland im Bild. Die malerischen Ausdrucksmittel, die er sich in diesen Jahren angeeignet hat, wird er in sein zukünftiges Schaffen einbinden, doch seine primäre künstlerische Aufgabe der folgenden Zeit ist die Suche nach der russischen Seele. 1872 wird er Mitglied der Künstlergruppe der „Wanderer“, die sich der Darstellung des wahren Russlands verschrieben hat. Repin wird deren prominentestes Mitglied und beschäftigt sich mit den Sujets der russischen Geschichte, aber auch mit zeitgenössischen Themen. Bilder von sozialer Klarsicht, scharfsinniger psychologischer Beobachtung und malerischer Bravour entstehen. 1879 malt er etwa „Die Verhaftung des Propagandisten“. Ein Jahr darauf entsteht die erste Version von „Die Saporosher Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief“. Auffallend ist, dass Repin in den Jahren ab 1880 zunehmend nach Licht- und atmosphärischen Effekten sucht wie etwa in dem Gemälde „Unerwartet“ von 1885. Die überraschende Heimkehr eines begnadigten Verbannten zu seiner Familie ist ein zeitgenössisches Sujet. Repin setzt das Thema virtuos mit atmosphärischem Einsatz von Farbe und Licht in Szene. Wie ein Gespenst platzt der Heimkehrer in das friedliche Familienidyll bei Klavierspiel und Lektüre, das sich in einer freundlich-hellen Wohnstube abspielt, ein. Die Momentaufnahme gleicht einer Schrecksekunde, alle Beteiligten sind in banger Erwartung. Wie mag wohl das Leben inzwischen alle verändert haben? Wie mag es für sie weitergehen? Meisterhaft spitzt Repin diesen Moment psychologisch zu und stellt darüber hinaus die Frage nach dem Sinn und der Wahrheit des Lebens.
Abtaster menschlichen Wesens. Auch in seinen grandiosen Porträts berühmter Zeitgenossen geht es ihm um Sinn und Wahrheit eines Menschenlebens. Herausragend das Bildnis Modest Mussorgskys. Den russischen Komponisten porträtiert Repin 1881, kurz vor dessen Tod. Er malt ein virtuoses Porträt, das die Summe eines Lebens, einer Freundschaft zieht. In der freien und ausdrucksstarken Malerei, den offenen, zugleich Verletzlichkeit verratenden Augen enthüllt Repin einen großzügigen, sensiblen und lebensfrohen Charakter.
Ein Jahr später gibt es in Repins Leben eine Verwerfung: Er trennt sich von seiner Frau Vera, mit der er drei Kinder hat. Seine Karriere schreitet unbeirrt voran. Er gilt als der führende russische Maler seiner Zeit und wird 1893 mit einem Lehrauftrag an der Kaiserlichen Akademie der Künste betraut. Nach der Oktoberrevolution von 1905 quittiert Repin den Lehrdienst und zieht sich auf sein Landgut Koukkula am finnischen Meerbusen zurück. Dort stirbt er am 29. September 1930.
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