Herr, baue Deine Kirche und fange bei mir an
Menschen teilen Geschichte in überschaubare Epochen ein, um einen Überblick zu bekommen, Ordnung zu schaffen und besonders wichtige Termine herauszustellen. Wenn in wenigen Tagen das neue Jahr, das neue Jahrtausend beginnt, soll das nicht nur ein Zahlenereignis sein, sondern gerade für die Christen in der ganzen Welt ein wichtiger Einschnitt, ein Anlaß zum Feiern, aber auch zum Innehalten und Nachdenken. Ich glaub‘ nix! An diesem Schnittpunkt der Geschichte stellt sich aber gerade für die Menschen in Europa auch die Frage nach der Lage des Glaubens, die Frage nach der Zukunft des Christentums und der Kirche in unserer Gesellschaft. Immer weniger Menschen bekennen sich zu einer religiösen Überzeugung, beachten religiöse Gebote und beteiligen sich an religiösen Aktivitäten. Diese Tendenz spiegelt weniger eine Feindschaft gegen die Religion wider, als die vollkommene Gleichgültigkeit gegen sie, frei nach dem Motto: Ich glaub‘ nix, mir fehlt nix; trotzdem ist die europäische Kultur durchdrungen von christlichen Praktiken und Begriffen. Eine Schwächung dieses zentralen, die Gesellschaft tragenden Elements, könnte sie in eine schwere Krise bringen. Niedergang oder Renaissance? Der englische Religionssoziologe David Martin ist der Meinung: In Europa habe ein Prozeß der Säkularisierung, der Befreiung von jeder Religion - besonders vom Christentum - ein Ausmaß erreicht, das in der modernen Welt einmalig sei. Es handelt sich heute um eine Emanzipation aller weltlichen Bereiche vom Einfluß der Religion. Daraus ergebe sich ein Niedergang der religiösen Überzeugungen und Verhaltensweisen. Und das habe zur Folge ein Zerreißen eines über Jahrhunderte entstandenen Geflechtes von Religion und Gesellschaft. Einer solchen These der Religionssoziologen steht allerdings auch eine andere Auffassung gegenüber. Diese besagt, daß heute weltweit eine religiöse Renaissance im Gange sei. Einer solchen Meinung schließt sich der amerikanische Historiker Georg Weigel an: In einem umfassenderen Sinn ist das Wiederaufblühen der Religion weltweit eine Reaktion auf Säkularismus, moralischen Relativismus und Hemmungslosigkeit; ist eine Bekräftigung von Werten wie Ordnung, Disziplin, Arbeit, Hilfsbereitschaft und Solidarität. Was folgt aus diesen sich widersprechenden Thesen? Wohl dies: In der westlichen Welt von heute - im Gegensatz zu anderen Kontinenten wie Asien und Afrika, sowie dem Subkontinent Indien- gibt es beides: Nämlich eine weltweit verbreitete religiöse Gleichgültigkeit im Spiegel der öffentlichen Meinung einerseits; andererseits aber gibt es auch Zeichen einer religiösen Erneuerung. Drängende Fragen. Bereits vor drei Jahrzehnten wies das Zweite Vatikanische Konzil hin auf die Fragen, die auch heute wieder mehr als sonst Menschen bewegen. Es waren jene einleitenden Sätze zu der Erklärung Über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, die weiterhin aufhorchen lassen. Mut der Gaubenden. Schöne Worte allein genügen heute nicht, sondern es ist immer das Zeugnis des Lebens, in dem das Gottesbild durch das Christusbild aufleuchtet. Denn Religion und christlicher Glaube bedeuten mehr als Wissen und Diskussion; sie bedeuten Leben, Zeugnis geben für das Leben durch das christliche Welt- und Menschenbild. Es gehört aber auch Mut dazu, existentiell zu einem Menschen zu stehen, der vor 2000 Jahre gelebt hat und von dem der Anspruch erhoben wird, daß sich in ihm der Sinn der Welt vollendet und die Menschheit in ihm Heil und Erfüllung findet. Warum Christ sein? Ich lebe in einer vom Christentum geprägten Kultur und kann und will mich nicht davon trennen. Oder: Ich habe mich umgeschaut nach anderen Lebensantworten und habe bis heute noch keine überzeugendere als die christliche gefunden. Oder: Der Umgang mit der Geschichte des Christentums zeigt mir, daß ganz offensichtlich ein roter Faden erkennbar bleibt. Profil heute. Was heißt das konkret? Christsein heute ist keine willkürliche Erfindung meinerseits. Soll es ein erkennbares Profil haben, muß es als christliches Glaubensprofil erkennbar und unterscheidbar bleiben. Hier aber tun wir uns nach einer im Rückblick letztlich doch eher euphorisch zu nennenden Zeit heute schwer. Heilkraft des Glaubens. Die Zukunft des Christseins im dritten Jahrtausend hängt, vielleicht mehr noch als in der bisherigen Christentumsgeschichte, wesentlich ab von der Heilkraft des Glaubens. Um diese umfassend zu beschreiben müssen wir von dem Glauben sprechen, der Berge versetzt, der betend Leid überwindet. Es ist der Glaube, den Jesus bei den Kranken vorgefunden hat, die er geheilt hat: Dein Glaube hat dich gesund gemacht. Die Heilkraft des Glaubens zeigt sich in der Kunst des gesunden Lebens, wie sie die frühchristliche Spiritualität als Konkretisierung des Evangeliums verstanden hat. Die Kunst des gesunden Lebens zeigt sich in der Feier des Kirchenjahres, die eine heilende Wirkung auf den Menschen hat, die ihm den Rythmus schenkt, der ihm guttut, und die ihn mit den wichtigsten Bildern seiner Seele in Berührung bringt. Die heilende Wirkung des Glaubens kann sich auch in den Sakramenten vollziehen, in denen Jesus den heutigen Menschen genauso berühren und heilen will, wie er es damals durch seine Berührung getan hat. Göttlicher Funke. Es geht aber nicht nur um den Glauben, der den Menschen davon überzeugt, daß Gott seine Leiden zu heilen vermag. Es geht vielmehr darum, daß ich in meiner oft leidvollen Lebenssituation glauben darf, daß ein gesunder Kern in mir ist. Ich glaube daran, daß in mir ein einmaliges Selbst ist, das Gott geformt und gebildet hat. Es ist das wahre Selbst des Menschen. Und dieses Selbst, dieser göttliche Funke ist und bleibt unberührt von Leid, Krankheit, Bitterkeit, von Zerissenheit und Spaltung. Glauben heißt, mit diesem inneren Selbst in Berührung zu kommen. Kirche morgen. Die große Herausforderung für die Kirche im kommenden Jahrtausend wird sein, ob und wie sie den Weg zu den Menschen findet und ein glaubwürdiges Zeugnis gibt. Die Kirche von morgen wird christlich sein, ihr Fundament in dem einen gründen, dessen Tod und Auferstehung wir als Kirche feiern und verlebendigen. Daher ist unser dringendster Auftrag, die Trennungen zu überwinden und alles daran zu setzen, wieder der eine Leib Christi zu werden, nicht zersplittert, zertrümmert, und zerstört, sondern als Einheit in Verschiedenheit. Die Kirche von morgen wird eine solidarische Kirche sein, die sich wie Jesus auf die Seite der Menschen stellt, die benachteiligt, ausgegrenzt und allein sind. Die Kirche von morgen muß eine geschwisterliche Kirche sein, welche die Ergänzung von Frauen und Männern als Auftrag, Bereicherung und Geschenk erkennt. Die Kirche von morgen mischt sich ein, läßt sich nicht instrumentalisieren von unterschiedlichen Regierungen, Moden oder Strömungen. Ihr höchstes Ziel ist Gerechtigkeit, das Wohl des Menschen, der als Abbild Gottes geschaffen wurde. Die Kirche von morgen wird eine betende Kirche sein, denn aus uns vermögen wir nichts. Doch wir haben die Zusage: Bittet, und euch wird gegeben. Keine Utopie. Die Kirche von morgen wird eine charismatische Kirche sein, die den Mut hat, durch den Geist Gottes Mauern einreißen, sich verwirren, aufrütteln, erschüttern, ändern zu lassen. Die Kirche von morgen wird eine pilgernde Kirche sein, die sich nicht in Häusern und Palästen einrichtet, denn der Menschensohn hat keinen Ort, wo er sein Haupt betten kann (Mt 8, 20). Die Kirche von morgen wird eine hörende Kirche sein, die ganz Ohr ist; eine sehende Kirche, welche die Anliegen der Menschen nicht aus dem Blick verliert; eine fühlende Kirche, die keine Angst vor Berührung hat. Die Kirche von morgen ist eine gütige Kirche, in der das Gesetz für den Menschen da ist, nicht der Mensch für das Gesetz. Die Kirche von morgen ist eine heilende Kirche, die nicht straft, wo Versagen ist, sondern vergibt. Die Kirche, die aus dem Evangelium lebt, ist keine Utopie. Sie wird Wirklichkeit durch die Menschen in ihr, durch Menschen mit Mut, Hoffnung und Begeisterung. Wenn sich in wenigen Tagen die Pforten öffnen zum Beginn des großen Jubiläumsjahres sind die Christen in aller Welt dazu eingeladen, die Schwelle zu überschreiten in das neue christliche Jahrtausend. Herr, baue deine Kirche und fange bei mir an.- Herr, ich sehne mich nach dieser Kirche, ich fange heute an! |