Auch Sterben braucht Liebe
Als das Oberhaus des niederländischen Parlaments im April dieses Jahres dem Gesetz über die aktive Sterbehilfe zustimmte, schlugen hierzulande die Wogen hoch. Niederlande beschließen Lizenz zum Töten oder Holländer sagen Ja zur Euthanasie titelten deutsche Tageszeitungen einhellig. Führende Politiker, mit Ausnahme der schwer an Krebs erkrankten früheren brandenburgischen Sozialministerin Regine Hildebrandt, sprachen sich vehement gegen das Gesetz in unserem Nachbarland aus, und erinnerten dabei stets an die unselige Vergangenheit Deutschlands während des Dritten Reiches. Beide Kirchen betonten, es stünde dem Menschen nicht zu, selbst den Zeitpunkt seines Todes zu bestimmen. Andere Zeitgenossen wiederum sprachen sich für die aktive Sterbehilfe aus, wenn das Leben aus ihrer Sicht nicht mehr lebenswert wäre.
Beide Lager, sowohl Gegner wie Befürworter der Sterbehilfe, berufen sich in ihrer Argumentation auf das Recht eines Individuums auf ein Sterben in Würde. Doch was beinhaltet dieses Recht?
Begriffsbestimmung. Der Wahrig, Deutsches Wörterbuch, vermerkt unter dem Stichwort sterben: Aus dem Leben scheiden, zu leben aufhören. Das Wort sterban stammt ursprünglich aus dem Althochdeutschen und bedeutete demnach erstarren, steif werden. Unter dem Stichwort Würde vermerkt das gleiche Wörterbuch: Achtung gebietendes, ruhiges, überlegenes Verhalten, Wesen eines Menschen auf Grund seiner starken Persönlichkeit, seiner geistig-seelischen Kraft (althochdeutsch wirdi, Ansehen, Ehre). Soweit die reine Bedeutung der beiden Worte, auf die später noch eingegangen wird.
Wunschtod. Jeder von uns, die wir alle wissen, dass wir sterben müssen, hat eine Wunschvorstellung von diesem letzten Akt des Lebens. Viele wünschen sich das Dahinscheiden als einen kurzen, schmerzlosen Vorgang, der ihnen keine oder nicht viel Zeit zum Nachdenken lässt. Um den Tod durch einen Unfall oder etwa durch einen Herzinfarkt kreisen solche Überlegungen. Doch ungeachtet der philosophischen Frage, ob der Sekundentod dem Betreffenden nicht wesentliche Momente der Erkenntnis vorenthält: die Mehrzahl der Menschen scheidet wohl zumindest in den so genannten entwickelten Ländern nach längerem Siechtum aus dem Leben.
Glücklich jener, welcher auf dem letzten Stück seines Lebens dann liebe- und verständnisvolle Pflege erfährt; im Idealfall in vertrauter Umgebung und im Kreise seiner Lieben. Bilder aus dem neunzehnten Jahrhundert zeigen solche romantisierenden Sterbeszenen. Der Vater liegt auf dem Bett, um ihn hat sich die Schar seiner Kinder und sein Eheweib versammelt. Tränen fließen reichlich, aber dem Familienvorstand ist noch genügend Zeit gegeben, seine irdischen Verhältnisse zu ordnen. Frieden liegt über der Szene, der Todkranke scheint keine Schmerzen zu haben.
Selbst zu Zeiten der damals vorherrschenden Großfamilie, mit all ihren Abhängigkeiten, aber auch mit ihren sozialen Möglichkeiten: Diese Art des gelassenen Abschiednehmens war den meisten Zeitgenossen wohl auch damals schon verwehrt. In einer Epoche, in der Seuchen Menschen wie Fliegen dahinrafften, in der Kriege ganze Landstriche entvölkerten, in der Schmerzmittel erst zögernd Eingang in die Medizin fanden, war das Sterben für die meisten der damals Lebenden wohl eine bittere Erfahrung.
Sterben einst. Nichtsdestotrotz war vor dem Triumph der Medizin, wie wir Heutigen ihn in seiner Doppelgesichtigkeit erleben, ein Sterben in Würde wohl noch viel selbstverständlicher als heute an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Zwar stirbt niemand gern, wie das Sprichwort weiß, das seine Gültigkeit auch schon seinerzeit hatte. Aber Sterben und Tod waren den Menschen früherer Jahrhunderte vertraut, sie hatten tagtäglich mit ihnen zu tun. Sei es auf Grund der hohen Säuglingssterblichkeit, sei es, dass die Pflege der Alten und Kranken im Kreise der Familie selbstverständlich war. Der Tod war alltäglich, schon die Kinder erlebten ihn in der engsten Umgebung. Erfahrungen, die sie für den Rest des Lebens prägten. Schlug für einen Angehörigen die letzte Stunde, dann geschah dies zumeist vor aller Augen. Die Frage nach einem Sterben in Würde stellte sich nicht. Es war die Regel bei denen, die eines natürlichen Todes starben und beispielsweise nicht einem Gemetzel auf irgendeinem Schlachtfeld zum Opfer fielen.
Verdrängung. Die hoch industrialisierten und arbeitsteiligen westlichen Gesellschaften unserer Tage haben auch den Tod in ihre Arbeitsteilung mit aufgenommen. Der Tod ist ein Geschäft geworden, nährt ganze Berufsgruppen. Darüber ist er anonym geworden, verdrängt aus dem Bewusstsein der Massen und aus deren alltäglichem Leben. Nur wenn sich Katastrophen ereignen, wie etwa die Anschläge auf das Welthandelszentrum in New York im September dieses Jahres mit Tausenden von Toten, halten wir für einen Augenblick inne und werden uns schmerzlich unserer eigenen Sterblichkeit bewusst.
Gerade weil in der modernen Welt selbst komplizierte Abläufe meistens mehr oder weniger reibungslos funktionieren, übertragen wir diese Erfahrung auch auf den Privatbereich. Auch von unserem Körper erwarten wir, dass er reibungslos funktioniert, selbst wenn wir ihn beispielsweise mit Nikotin, Alkohol oder einfach einem Zu viel an Nahrung traktieren. Werden wir krank, erwarten wir vom Arzt, dass er uns wieder kuriert. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der wir bei einem Kraftfahrzeug-Mechaniker davon ausgehen, dass er unser Auto repariert.
Schon greifen Ärzte ins menschliche Erbgut ein, lassen Krankheiten wie etwa die Parkinson’sche oder angeborene Erbkrankheiten in absehbarer Zeit heilbar erscheinen.
Doch irgendwann ist eine jegliche Lebensspanne durchschritten, der letzte Akt steht an. Wohl dem, der jetzt eine irgendwie geartete Sterbebegleitung erfährt. Sei es durch Angehörige, sei es durch Menschen, die sich in der Hospizbewegung zusammenfinden, sei es durch Ärzte oder Geistliche. Er wird sich in den schwersten Stunden seines Lebens zumindest nicht verlassen fühlen. Und wenn diese Menschen mitfühlen, vielleicht auch entsprechend ausgebildet sind, wird sich dieses Sterben in Würde vollziehen wie es oben definiert ist: als Respekt vor dem aus dem Leben Scheidenden mit all seiner seelischer Kraft und Einzigartigkeit.
Abgeschoben, anonym. Doch dürfte dieser Idealfall in Wirklichkeit eher die Ausnahme sein. Noch viel zu oft vollzieht sich Sterben anonym in irgendeinem Zimmer irgendeines Krankenhauses oder eines Altersheims. Häufig sind die Sterbenden allein in ihrem Todeskampf. Sei es, weil sie keine Angehörigen haben und das Personal der betreffenden Einrichtungen sich nicht kümmert. Sei es, weil sie gerade von ihren Angehörigen zum Sterben abgeschoben worden sind. Doch niemand sollte über eine solche Handlungsweise leichtfertig den Stab brechen. Die Kleinfamilie heutiger Prägung ist in aller Regel gar nicht mehr in der Lage, häusliche Pflege zu gewährleisten, die auch das Sterben in gewohnter Umgebung beinhaltet. Außerdem sind Sterben und Tod in unserer sich offensichtlich ewig jung und vor allem vital fühlen Gesellschaft derart an den Rand gedrängt worden, dass die Beschäftigung mit ihnen fast einem Tabubruch gleichkommt. Denn Sterben bedeutet, die Spielregeln der unerwachsenen Dauerjugendlichen zu verletzen. Wenn schon sterben, dann bitte schön braun gebrannt und mit einem Motorrad zwischen den Schenkeln! Wenn wir schon sterben müssen, dann wenigstens an einem von uns festgelegten Zeitpunkt und zu unseren Bedingungen. Womit wir wieder bei der so genannten Euthanasie wären.
Euthanasie. Erstaunlich genug, dass sich diese Spaßgesellschaft, wie sie häufig genannt wird, überhaupt mit diesem sie so störenden Thema beschäftigt. Das Wort stammt aus dem Griechischen und ist eine Zusammensetzung aus eu = gut und thanatos = Tod. Also, wörtlich übersetzt: Der gute Tod. Das Problem ist, dass verschiedene gesellschaftlichen Gruppen darunter Verschiedenes verstehen.
Die einen meinen damit die Erleichterung des Todeskampfes durch die Gabe von Medikamenten seitens des Arztes, die anderen das Eingehen auf den bewussten Todeswunsch eines Menschen. Das Schlagwort vom Töten auf Verlangen macht in diesem Zusammenhang immer wieder die Runde.
Rückblick. Zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkrieges schreckten die Bundesdeutschen beim Thema Euthanasie im Februar 1973 aus der Ruhe ihrer Wirtschaftswunderdemokratie hoch. In unserem Nachbarland Holland hatte die damals 45-jährige Ärztin Geertruida Postma van Boven ihre nach einem Schlaganfall gelähmte 78-jährige Mutter Margina Grevelink auf deren Verlangen hin durch die Gabe einer Überdosis Morphium getötet und dies öffentlich eingestanden. Die Gemüter erhitzten sich an der Frage, was humaner sei: Das Leben eines todkranken Menschen mit Mitteln der Medizin so lange wie irgend möglich zu erhalten, eventuell sogar künstlich zu verlängern, oder aber unter bestimmten Bedingungen den Tod des Betreffenden bewusst herbeizuführen. Das holländische Gericht, vor dem die Ärztin wegen Tötung auf Verlangen angeklagt ist, bezog Position und urteilte milde. Sie wurde zu einer Woche Haft verurteilt, die Strafe überdies auf Bewährung ausgesetzt.
Graben und Grauzone. Seither ist die Diskussion um die Euthanasie nicht mehr zur Ruhe gekommen. Elf Jahre nach dem Fall Boven in Holland machte der umstrittene Arzt Julius Hackethal von sich reden. Er hatte einer seiner Patientinnen, der schwer an einem Krebs des Gesichts und der Weichteile des Kopfes erkrankten Hermy E:, auf deren Wunsch hin Zyankali verabreicht. Auch gegen Hackethal ermittelte die Staatsanwaltschaft Traunstein wegen des Verdachts auf Totschlag.Gemeinsam mit Hackethal focht seinerzeit die Deutsche Gesellschaft für humanes Sterben (DGHS) für das Menschenrecht auf Tod und Erlösung. Ähnliche Gesellschaften wurden auch in der Schweiz und in Holland gegründet.
Bis auf den heutigen Tag verläuft der Graben zwischen den kontrovers diskutierenden gesellschaftlichen Gruppen in der medizinischen und juristischen Grauzone zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe. Schütten wir ihn zu! Führen wir endlich eine längst fällige Diskussion. Die Würde der Betroffenen verlangt dies.