Würdiger Rahmen für die Gnade
„Wir kommen aus dem Eichsfeld, genau genommen aus Gieboldeshausen am Südrand des Harzes“, erzählt Peter Ronge, ein Mann in den frühen Sechzigern. „Wir sind heuer ungefähr 1000 Leute, die mit Bussen die rund 350 Kilometer nach Vierzehnheiligen zurück gelegt haben. Wir Eichsfelder kommen jedes Jahr im Juni hierher. Der Peter-und-Pauls-Tag ist der Höhepunkt unserer Wallfahrt. Mit Hochamt und feierlichem Auszug aus der Kirche“.
Anziehendes Barockjuwel. So wie Peter Ronge zieht die Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen, auf einer Anhöhe am Oberlauf des Mains bei Lichtenfels gelegen, Jahr für Jahr rund 1,2 Millionen Menschen an. Viele kommen, weil sie mühselig und beladen sind, wie es in der Bibel heißt. Andere schauen als Ausflügler vorbei, die sich einen schönen Tag machen. Wiederum andere erfreuen sich an Balthasar Neumanns barockem Juwel.
Die Geschichte der Wallfahrt beginnt mit einer Erscheinung. Am 24. September des Jahres 1445 will Hermann, der Sohn des Klosterschäfers von Langheim, gegen Abend seine Herde von der auf einem nördlichen Ausläufer des Staffelberges gelegenen Weide des Hofes Frankenthal nach Hause treiben. Plötzlich hört er das Wimmern eines Kleinkindes. Als er nachsieht, woher die Laute kommen, entdeckt er es, inmitten eines Ackers sitzend. Als er es aufheben will, verschwindet das Kind vor seinen Augen. Der Bursche vertraut sich seinen Eltern an, die ihm aber keinen Glauben schenken. Ein Priester rät ihm, die Vision beim nächsten Mal im Zeichen des Kreuzes zu beschwören.
Vision und Auftrag. Am Peter-und-Paul-Tag des darauf folgenden Jahres hat Hermann wieder eine Erscheinung. Abermals schaut er das Kind, das dieses Mal allerdings von 14 weiteren Kindern umgeben ist. Der Hirte beschwört die Erscheinung im Namen der Dreifaltigkeit. Darauf hin geben sich die Kinder als die 14 Nothelfer zu erkennen. Sie tragen ihm auf, am Ort der Erscheinung eine Kapelle zu bauen.
Zunächst jedoch geschieht nichts, weil die Obrigkeit den Schilderungen Hermann Leichts keinen Glauben schenkt oder ihn gar für einen Betrüger hält. Im einfachen Volk allerdings macht die Kuinde von seinen Erscheinungen die Runde. Als dann eine Tagelöhnerin des Klosters Langheim zusammen bricht und zu ersticken droht, rufen die Umstehenden nacheinander alle möglichen Heiligen ohne sichtbaren Erfolg an. Erst die Zuflucht zu den 14 Nothelfern bricht den Bann: Die Frau kommt zu sich und gesundet bald darauf.
Aufblühende Wallfahrt. Jetzt haben die Kirchenoberen das gewünschte Zeichen. Sie wagen es nicht länger, die Wünsche des Volks zu übergehen. Zunächst wird an der Stelle der Erscheinungen ein großes Holzkreuz, später eine Kapelle errichtet. Am 28. April des Jahres 1448 weiht der Bamberger Bischof Anton von Rotenhan den Altar des noch nicht vollendeten Kirchleins ein. Daneben bauen 18 Jahre später Zisterziensermönche aus Langheim, die die Wallfahrer betreuen, ihre Propstei.
Vierzehnheiligen, wie es jetzt anstelle von Frankenthal heißt, wird binnen Kürze bekannt. Immer mehr Volk strömt von weit her zur Gnadenstätte, unter ihnen die Kaiser Friedrich III und Ferdinand I sowie Albrecht Dürer samt seiner Frau Agnes. Zwei Mal wird die Kirche zerstört, im Bauernkrieg1525 und im Dreißigjährigen Krieg. Genau so oft wird sie – prächtiger als zuvor – wieder aufgebaut.
Neumanns Neubau. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts jedoch berichten zeitgenössische Quellen vom schlechten baulichen Zustand des Gotteshauses. Lange Verhandlungen zwischen dem Hochstift Bamberg und der Abtei Langheim, die beide Rechte an Vierzehnheiligen haben, beginnen. Unter dem Bamberger Fürstbischof Friedrich Carl von Schönborn und Abt Stephan Mösinger nehmen die Neubaupläne 1735 endlich Gestalt an. Friedrich Carl hat bittet Balthasar Neumann um einen Entwurf. Die Pläne überzeugen den Fürstbischof. Am 23. April 1743 wird feierlich der Grundstein gelegt. Langheims Baumeister Krohne, der als Bauleiter vor Ort vorgesehen ist, muss auf Druck des Abtes von Neumanns Plan abweichen. Dieser beschwert sich darauf hin beim Bamberger Bischof, so dass der Abt, um sein Gesicht zu wahren, Krohne wegen angeblicher Unfähigkeit entlässt. Johann Jacob Michael Küchel übernimmt den Bau im Sinne Neumanns, dessen Wirkungskreis sich nach dem Tod seines Gönners Friedrich Carl nur noch auf das Bistum Würzburg erstreckt. 1753 ereilt der Tod Balthasar Neumann. Am 15. September 1772 wird der Neubau eingeweiht.
Blitz und Brand. Während der Säkularisation 1803, die die Zisterzienser vertreibt, werden bedeutende Kirchenschätze verschleudert. 1835 schlägt der Blitz in den südlichen Fassadenturm ein. Der anschließende Brand zerstört den Dachstuhl, den anderen Turmhelm, Teile der Innenausstattung und die Orgel. Wie durch ein Wunder bleibt das Gewölbe unversehrt. Das Dach wird niedriger wieder aufgebaut, die Türme erhalten statt des Zwiebeldachs spitze Helme. Auf Veranlassung des bayerischen Königs Ludwig I übernehmen Franziskaner die Seelsorge in Vierzehnheiligen, die sie bis auf den heutigen Tag ausüben. Um 1900 erhalten die Türme ihre eingeschnürten Zwiebelhelme zurück, im Innern werden die Fresken Guiseppe Appianis aus den Jahren 1764 bis 1770 wieder frei gelegt. Seither sieht die Wallfahrtskirche im Wesentlichen so aus, wie wir Heutigen sie kennen.
Beglückendes Raumerlebnis. Beeindruckt den Besucher beim Näherkommen die doppeltürmige Fassade aus gelbem Sandstein mit der großen Freitreppe davor, so gerät er ob des Innenraums der Kirche mit seinen fünf großen Kuppeln vollends in Verzückung. Aus drei Geschossen strömt Licht in den Raum, so dass dieser darüber alle Erdenschwere verliert. Den Eindruck verstärkt noch der helle Stuckmarmor, der keinerlei Schatten oder gar Düsternis erlaubt.
Die Deckenfresken Guiseppe Appianis zeigen Verkündigung und Geburt Christi im Chor, die Nothelfer in der Hauptkuppel. In der Mitte des Kirchenschiffs zieht der freistehende Gnadenaltar der Wessobrunner Stuckateure Johann Michael Feichtmayr und Johann Georg Übelhör den Blick auf sich. Eingefasst von einer schwingenden Balustrade, trägt er die Figuren der 14 heiligen Nothelfer Achatius, Ägidius, Barbara, Blasius, Christophorus, Cyriakus, Dionysius, Erasmus, Eustachius, Georg, Katharina, Margarete, Pantaleon und Vitus. Auf dem Scheitelpunkt seines Baldachins sitzt im Strahlenkranz das Jesuskind auf der Weltkugel.
Heiter und beschwingt. Der Hochaltar, dem Appianis ursprüngliches Altarblatt fehlt, geht auch auf Küchel zurück; das Altarbild zeigt die Himmelfahrt Mariens, von August Palme zu Beginn des vergangenen Jahrhundert gemalt.
Aus der Erbauungszeit ist auch noch die Kanzel auf uns gekommen. Sie ist in ihrer heiteren Beschwingtheit bereits dem Rokoko verpflichtet. Putten tragen schwebend den Kanzelkörper mit den Abbildungen der Evangelisten Johannes, Lukas, sowie Matthäus des Älteren und Jüngeren. Sie sind von Muschelwerk umlagert, der Schalldeckel ist als Strahlenkugel geformt.
Ein rußgeschwärzter Raum, in dem die Opferkerzen der Pilger brennen, sowie ein Raum voller Votivgaben runden den Gesamteindruck ab.
Wahrlich ein würdiger Rahmen für die Gnade, die Tausende von Hilfesuchenden seit mehr als einem halben Jahrtausend in Vierzehnheiligen erfahren haben.