Der Klang der Barmherzigkeit

Aus pastoraler und kirchenmusikalischer Perspektive wirft unsere Autorin – sie ist Theologin, Musikwissenschaftlerin und Kirchenmusikerin – einen Blick auf das „Jahr der Barmherzigkeit“.
24. Oktober 2016 | von

Wer sich in der zweiten Jahreshälfte 2015 auf der Homepage zum Jahr der Barmherzigkeit umsah, fand dort neben Materialien für die Gestaltung von Gottesdiensten und Arbeitshilfen auch das Mottolied des Heiligen Jahres, „Misericordes sicut Pater“ mit  seinem Text von Pater Eugenio Costa SJ und der Musik des britischen Komponisten Paul Inwood. Die Partitur kann in verschiedenen Sprachen heruntergeladen werden, auch mp3-files zum Anhören standen von Anfang an zur Verfügung. Für Kirchenmusiker war das eine spannende Angelegenheit. Denn Papst Franziskus ist offenbar der Meinung, dass ein Mottolied, eine Hymne, dazugehört, wenn die katholische Kirche ein Heiliges Jahr feiert und mehr noch, dass Barmherzigkeit und Kirchenmusik etwas miteinander zu tun haben. Das ist eine wunderbare Ermutigung für alle, denen dieser Glaube nach vielen Jahren des Dienens abhanden gekommen und eine Erinnerung an diejenigen, denen dieser Zusammenhang nicht bewusst ist.

Cor se incurvatum
Was genau Kirchenmusik und Barmherzigkeit verbindet, macht ein Blick auf die Bekehrungsgeschichte des heiligen Kirchenvaters Augustinus deutlich. Er bekennt, nicht ganz ohne Scheu, dass die wunderbaren Melodien der Lieder, die die Christen in ihren Gottesdiensten sangen, ihn zu Tränen rührten. Gleichsam entschuldigend fügt er an, dass es zunächst die Musik war, die ihn erreichte, bevor sein in sich verkrümmtes Herz sich genügend geöffnet hatte, um auch die mit der Melodie verbundenen Worte wahrnehmen zu können. Augustinus hätte sich dessen nicht zu schämen brauchen, denn Musik, der wortunabhängige Klang, steht ganz am Anfang und am Ende jedes menschlichen Lebens. Schon im Mutterleib kann der Embryo Klänge wahrnehmen, die Stimme seiner Mutter kennt er schon lange, bevor er ihre Worte versteht. Auch alte Menschen reagieren, wenn nichts anderes sie mehr erreicht, noch auf vertraute Melodien. Musik kann beruhigen, Verkrampftes lösen, Verhärtetes erweichen und so den Boden für die verbale Botschaft bereiten. Es ist der Ton, der die Musik macht, auch dann, wenn wir einen Text vorlesen. Eine lieblos heruntergeleierte Lesung erreicht die Hörer nicht, ebenso wenig wie ein theatralischer, den Inhalt aber nicht nachvollziehender Vortrag. Nicht umsonst kommt es also auch bei der nicht mit Musik verbundenen Rede auf die Sprachmelodie an. Wer den elementaren Zusammenhang von Musik und Barmherzigkeit im Kern erfassen will, braucht nur darauf zu achten, was Mütter und Väter tun, wenn ihr Kind sich wehgetan hat oder aufgeregt ist und nicht einschlafen kann. Die meisten von ihnen, auch diejenigen, die nicht bei „Deutschland sucht den Supersänger“ mitmachen würden, fangen in diesem Moment an zu singen oder zu summen.

Attonitis auribus audiere
Daraus lässt sich schließen, dass Musik, wenn wir als Kinder Gottes zu unserem Vater kommen, ebenso dazugehört wie das uns aufrichtende oder zu neuer Orientierung verhelfende Wort. Tatsächlich war es schon für die ersten Christen unstrittig, dass Musik beim Gottesdienst eine entscheidende Rolle spielt. Allerdings waren sie sehr vorsichtig im Umgang mit Instrumenten, sprich mit nicht an das Wort gebundener Musik. Warum? Weil ihre Erfahrung mit den ekstatischen heidnischen Kulten sie gelehrt hatte, dass Musik durchaus auch gefährlich entgrenzend sein kann. Genau aus diesem Grund hat Joseph Ratzinger vor vielen Jahren zu Recht darauf hingewiesen, dass es, auch wenn das einigen pastoralen Mitarbeitern überhaupt nicht gefallen wird, Musik gibt, die im Gottesdienst nichts zu suchen hat. Und ja, ich begebe mich hier jetzt gerne in die Arena und schreibe, nicht nur die Rockmusik, die Papst Benedikt XVI. damals erwähnte und deren dumpfes Dröhnen die feinen Antennen spiritueller Wahrnehmung beschädigen kann, sodass wir den Klang der Stille nicht mehr vernehmen können, sondern auch Technomusik oder seicht das liturgische Niveau absenkende „Helene-Fischer-Gottesdienste“ gehören dazu. Sie zu untersagen, ist ein Gebot der Barmherzigkeit – nicht nur gegenüber Kirchenmusikern. Denn Studien von Neurowissenschaftlern zeigen deutlich, dass solche Musik zwar Spuren im Gehirn hinterlässt, aber keine Wege schafft, die zu gehen sich lohnen würde.

Ut mens concordet vocis
Ein Gebot der Barmherzigkeit ist es auch, die Musik im Gottesdienst ernst genug zu nehmen, um zuzugeben, dass sie nicht Umrahmung oder Zwischengesang, sondern Verkündigung ist. Daraus folgt wiederum, dass sich das Ernstnehmen dessen, was am jeweiligen liturgischen Ort erklingen sollte, lohnt. „Lasst uns miteinander“ ist gewiss ein Lied, dass man zu vielen Gelegenheiten singen kann, aber ganz sicher nicht „zum“ Gloria, auch dann nicht, wenn der Pfarrer, wie die Gemeindereferentin dem Kirchenmusiker gegenüber betont, um dessen etwaige Widerworte bereits im Keim zu ersticken, sein „ok“ schon gegeben hat. Denn wenn dem so ist, irrt er. „Lasst uns miteinander“ ist nämlich kein Gloria und kann es deshalb genau so wenig ersetzen wie eine Lesung aus dem Kleinen Prinzen oder aus Khalil Gibrans Gedichten diejenige aus den Paulusbriefen. Wer das jetzt penibel findet, kann ja einmal im Bundespräsidialamt nachfragen, ob man beim nächsten Empfang von Joachim Gauck „zur“ Nationalhymne nicht vielleicht „Kein schöner Land in dieser Zeit“ singen könnte. Auf das Ergebnis dieser Anfrage darf man gespannt sein. Zum Ernstnehmen der liturgischen Ordnung gehört auch deren Korrektur dort, wo sich Fehler in die liturgischen Dokumente eingeschlichen haben. So ist zum Beispiel zu lesen, dass man den Sanctus auch sprechen kann. Das ist aber, wie jeder einsehen wird, der sich ein mit dumpfer Stimme gemurmeltes „Zum Geburtstag viel Glück“ vorstellt, wie man jugendsprachlich sagen würde, „völlig daneben“. Denn es verfehlt das, was an dieser Stelle in der Liturgie gefeiert wird, die Berührung von Himmel und Erde im Einstimmen der Gläubigen in den Gesang der Engel. 

Die barmherzige Umarmung
Wer sich in der Tagzeitenliturgie in das Gebet der Kirche einschwingt, kommt ganz selbstverständlich in die Situation, vom Erbarmen Gottes zu singen. Nirgendwo wird die mütterliche Zuwendung unseres Gottes zu den Armen, Traurigen, von Schmerz erfüllten oder Verlassenen so häufig erwähnt wie im Buch der Psalmen, jenen 150 Liedern, die alle nur denkbaren emotionalen Befindlichkeiten vor Gottes Angesicht auszudrücken helfen. Und auch in den Cantica, also den feierlichen Gesängen aus dem Evangelium in den Kardinalhoren Benedictus und Magnificat, spielt die Barmherzigkeit Gottes keine Nebenrolle. „Durch die barmherzige Liebe unseres Gottes hat uns besucht das aufstrahlende Licht aus der Höhe um allen zu leuchten, die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes“. Mit dieser Rede vom voraussetzungslos geschenkten Erbarmen gehen wir in den Tag, um an dessen Abend daran erinnert zu werden, dass Gott allen barmherzig ist, die ihm in Ehrfurcht nahen, dass die Stolzen sich aber auf einen harten Aufprall gefasst machen müssen. Die Lieder des Gotteslobes thematisieren die barmherzige Liebe Gottes in zahllosen Facetten. Da bittet der Beter Gott darum, von ihm freundlich in die Arme genommen zu werden und sich seiner zu erbarmen, er fragt sich, von Zweifeln übermannt, ob Gott ihn wohl in sein Erbarmen eingeschrieben hat und spricht seinen Brüdern, Schwestern und sich selbst schließlich die erlösende Gewissheit zu, dass der Herr uns allen mit Erbarmen begegnen und uns seines Friedens Licht leuchten lassen wird. Diese Hoffnung trägt uns, von ihr wollen wir singen.

Zuletzt aktualisiert: 09. November 2016
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