Niemals lachend, niemals traurig
Viele Heiligenviten der Spätantike gleichen einander wie eineiige Zwillinge. Ähnlich wie die byzantinischen Künstler die Umrisse der Gestalten von alten Ikonen oder Malbüchern auf die auf Holz aufgezogene Leinwand übertrugen, fügten die Hagiografen Textbausteine zusammen, die aus Bibelzitaten, aus legendären Versatzstücken und aus erbaulichen Schriften stammen.
Serienmäßige Vorbildbiografie
Ein Paradebeispiel dafür bildet die Lebensbeschreibung des heiligen Martin von Tours, die der Historiker Sulpicius Severus gegen Ende des 4. Jahrhunderts verfasste: „O wahrhaft seliger Mann! Keinen hat er gerichtet, keinen verurteilt, keinem Böses mit Bösem vergolten! Ja eine solche Geduld hatte er gegen alle, dass er, obwohl höchster Priester, sich auch von den untersten Klerikern ohne Wehr beleidigen ließ. Niemand sah ihn jemals zornig, niemand aufgeregt, niemand traurig, niemand lachend; immer blieb er gleich. Himmlische Freude trug er auf seinem Gesicht; er erschien als einer außerhalb der Natur des Menschen.“
Der heilige Bischof von Tours bleibt in dieser Schilderung völlig profillos. Er erscheint wirklich „außerhalb der Natur des Menschen“. Es handelt sich um einen Text, der wie ein serienmäßig fabrizierter Heiligenschein zu Aberhunderten anderen Christenmenschen passen würde, die im liturgischen Kalender der Kirche ihren Platz behaupten.
Angesichts einer derartigen Darstellung fragt man sich unwillkürlich: Was hat der heilige Martin wohl in seinem Herzen verspürt, als die Neidhammel unter den Klerikern ihn angifteten? Wie hat er sich verhalten, wenn ihm ein heulender Junge über den Weg lief? Was hat er beim Anblick einer schönen Frau empfunden, vor allem wenn diese ihm auch noch sympathisch erschien? Solche Fragen stellen sich spontan, weil man zwischen den Zeilen dieser Vita Martini nur eines herauslesen kann, nämlich dass der Verfasser bei jedem Buchstaben, den er aufs Pergament kritzelt, aufs sorgfältigste darauf bedacht ist, seine Leserschaft am Lesen zwischen den Zeilen zu hindern. Immerhin überliefert Sulpicius Severus eine Menge verlässlicher Angaben zur Biografie des Heiligen.
Überlieferte Fakten
Geboren wird Martin um 316 in der römischen Provinz Pannonien, im heutigen Ungarn. Mit 15 Jahren tritt er in Pavia in die römische Armee ein. In diese Zeit fällt auch die berühmte Begegnung mit dem Bettler, dem er seinen halben Mantel schenkt. Mit 18 Jahren empfängt er die Taufe. 361 gründet er in der Nähe von Poitiers das erste Kloster im damaligen Gallien. Zehn Jahre später wird er vom Volk zum Bischof von Tours berufen. Bei der Legende, der zu folge er sich in einem Gänsestall versteckte, um das Amt nicht antreten zu müssen, dürfte es sich um eine fromme Mönchsmär handeln. An einem Novembertag des Jahres 397 verstarb der verdiente Klostergründer und Kirchenmann, hochverehrt als Klostergründer und Missionar.
Als eine der kostbarsten Reliquien wird seit jeher der übrig gebliebene halbe Mantel, die capa, wie man damals sagte, aufbewahrt, und zwar in einer eigens dafür gebauten Capella, zu deren Betreuung man einen Capellanus bestellte. Wenn Martin seinerzeit seinen Mantel nicht geteilt hätte, gäbe es heute weder Kapellen noch Kapläne.
Verehrung und Brauchtümer
Schon kurz nach seinem Tod avancierte der Bischof von Tours zu einem der beliebtesten Heiligen. In der Folge entstanden anlässlich seines Gedenktags einige (allerdings kalenderbedingte) Gebräuche, die allesamt in dem weiten Feld zwischen Frömmigkeit und Fröhlichkeit anzusiedeln sind.
In den ersten Jahrhunderten waren die Christgläubigen gehalten, vor dem Epiphaniefest ein vierzigtägiges Fasten zu beobachten. Diese vierzig Fasttage zählte man unter Auslassung der Sonnabende und der Sonntage von Epiphanie aus zurück und kam so dazu, den Beginn der großen Fastenzeit auf den Tag nach Martini, also auf den 12. November, festzusetzen.
Das Martinsfest fiel demnach auf den letzten Tag vor der großen Fastenzeit. Verwundert es da vielleicht, dass manche Christenmenschen sich ein kleines Fettpölsterchen zulegen wollten, um die kommenden harten Tage besser zu überstehen?
Überdies fand am 11. November der letzte große Markttag im Jahr statt. Von daher versteht es sich von selbst, dass der Martinstag zu einem wichtigen Zinstermin wurde und dass an besagtem Datum auch der übliche Gesindewechsel erfolgte. Dass es dabei oft recht weinfeucht zuging, liegt in der Natur der Sache. Die Gänse hatten den Sommer über Fett angesetzt, der neue Wein hatte die richtige Gärung gerade erreicht – und damit ist auch das Geheimnis gelüftet, wie der heilige Martin zur Gans als einem seiner Attribute und die Weinbauern zu ihrem Patron kamen. In Italien ist es in manchen Gegenden noch heute Brauch, dass man sich am Abend des 11. November im vertrauten Kreis zusammensetzt und vom vino novello kostet.
Ich geh mit meiner Laterne...
Während die Gänse am Martinstag aus sehr profanen Gründen ihre Federn lassen müssen, haben die mancherorts an diesem Abend üblichen Fackel- und Laternenumzüge einen frömmeren Beweggrund. Ein aus dem 11. Jahrhundert stammendes Missale aus Monte Cassino sah für die Messe am Martinstag einen Evangelientext vor, in dem es unter anderem heißt: „Legt euren Gürtel nicht ab und lasst eure Lampen brennen.“ (Lukas 12,35) Vom Licht war auch in dem vom Konzil von Trient erneuerten Römischen Brevier in einer der Lesungen zum Martinsfest die Rede: „Dieses ist die Lampe, die angezündet wird…“ Von daher legt sich die Vermutung nahe, dass die Laternenumzüge zu Sankt Martini letztlich einen liturgischen Ursprung haben. Aber dessen sind sich heutzutage nur noch wenige bewusst, die sich an dem Lichterfest delektieren.