Die Mär vom kirchlichen Sezierverbot
Immer wieder kann man hören, dass die Kirche die Anatomie anfänglich als Frevel betrachtete. In Wirklichkeit existierte zu keiner Zeit ein entsprechendes Verbot.
Die Zwillingsbrüder Cosmas und Damian wurden zu Beginn des vierten Jahrhunderts in Syrien geboren. In Kilikien (in der heutigen Türkei) starben sie während einer Christenverfolgung den Martertod. Einer alten Überlieferung zufolge betätigten sich die beiden als Ärzte. Von den Kranken, die sie unentgeltlich behandelten, sollen sich viele zum Christentum bekehrt haben. Die Legende, welche bekanntlich immer dann geschwätzig wird, wenn die Historie verstummt, weiß zu berichten, dass sie einem Patienten einst ein krankes Bein amputierten und es durch das Bein eines eben verstorbenen Schwarzen ersetzten.
Chirurg aus finanzieller Not
Was den beiden Ärzteheiligen zugestanden wurde, war kirchlicherseits in Bezug auf ihre schutzbefohlenen Klerikerärzte nicht gern gesehen. Tatsächlich finden sich in den vatikanischen Archiven mehrere Eingaben von Priestern, die darum baten, sich nicht bloß dem Seelenheil, sondern auch der Heilkunst widmen zu dürfen. In einem dieser Fälle begründet ein Pfarrer und graduierter Mediziner seine Eingabe damit, dass er von den geringen Einkünften seiner Kirche nicht leben könne; er möchte deshalb „weil in arte cirurgica expertus, die Chirurgie ausüben“ dürfen. Die Antwort aus Rom fiel positiv aus, allerdings mit einer Einschränkung: „Aber nur solange als du es finanziell nötig hast, und nur wenn du es ohne Amputationen machst.“
Die Einschränkung ist verständlich. Tatsächlich findet sich in einem von Papst Innozenz III. im Jahr 1215 erlassenen Schreiben der Satz: „Die Kirche vergießt kein Blut.“ Dieses Verbot betraf aber nur Ärzte, welche an kirchlichen Universitäten ausgebildet worden waren, nicht aber Zahnbrecher oder Chirurgen, welche ihrem Handwerk zumeist in Barbierstuben oder in der eigenen Behausung nachgingen.
Suche nach anatomischen Erkenntnissen
Schon knapp ein Jahrhundert vorher, im Jahr 1130, hatte das Konzil von Clermont den Mönchen untersagt, sich als Ärzte zu betätigen.
Diese Restriktionen waren es, welche Anlass gaben zu der bis heute kolportierten falschen Behauptung, die Päpste hätten das Sezieren von Leichen mit einem Verbot belegt. Das passte natürlich in das weit verbreitete Klischee von der angeblichen Fortschrittsfeindlichkeit der Kirche.
Richtig ist, dass bis ins späte Mittelalter an den Universitäten keine Leichen seziert wurden. Allerdings hätte schon der berühmteste Arzt der Antike, nämlich Hippokrates (460-370 v. Chr.), gerne gewusst, wie es im Inneren eines Menschen aussähe. Später erhoffte sich Galenos von Pergamon (129-200 n. Chr.) diesbezügliche Einsichten durch das Sezieren von Tierkadavern. Um zu gesicherteren anatomischen Kenntnissen zu gelangen, begann die Universität Bologna im frühen 14. Jahrhundert mit kirchlicher Erlaubnis damit, menschliche Leichen zu sezieren.
Im 15. Jahrhundert erlaubten die Päpste Sixtus IV. und Clemens VII. auch Medizinstudenten, sich an Sektionen zu beteiligen. In Bologna wurden solche Eingriffe sogar in den Kirchen durchgeführt, weil es dort kühl genug war, um die Verwesung hinauszuzögern.
Als Wegbereiter und Begründer der modernen Anatomie gilt der Flame Andreas Vesal (1514-1564), dem es gelang, viele seit Galenos’ Zeiten überlieferte Unstimmigkeiten zu korrigieren. 1538 veröffentlichte dieser in Padua praktizierende Arzt den ersten Medizinatlas mit verblüffend stimmigen Darstellungen von Blutgefäßen und Muskelsträngen. Seine Sektionen führte er im Beisein der Studenten durch, die auf diese Weise eine dem damaligen Wissensstand angemessene Ausbildung erhielten. Zu diesem Zweck wurden in der Folge amphitheaterähnliche Hörsäle gebaut, damit die Demonstrationen des Professors von einer größeren Menge Anwesender mitverfolgt werden konnten. Der unbeabsichtigte Nebeneffekt bestand darin, dass die öffentlich stattfindenden Eingriffe bald nicht mehr nur dem Fortschritt der Wissenschaft dienten, sondern gleichzeitig zum unterhaltenden Gesellschaftsereignis gerieten, eine Fehlentwicklung, welche erst im 19. Jahrhundert unterbunden wurde. Damals begannen die Anatomen, sich in entsprechenden Instituten einzurichten, zu denen ausschließlich Fachleute Zutritt hatten.
Woher die Leichen kamen
Ein ungutes Gefühl überfällt einen, wenn die Rede auf die Beschaffung der Leichen kommt. Ursprünglich handelte es sich dabei um Selbstmörder oder um hingerichtete Verbrecher, welchen die Kirche ein ehrenvolles Begräbnis auf dem Friedhof versagte. Heute wissen wir, dass der seinerzeit berühmte Vesal der Anatomie auf teilweise makabere Weise zum Durchbruch verhalf. Neuere Nachforschungen im Archiv der jüdischen Gemeinde von Padua lassen den Schluss zu, dass Studenten des berühmten Medikus über mehrere Jahrzehnte hin auf dem dortigen jüdischen Friedhof Bestattete heimlich ausgruben, um die Leichen zu Forschungszwecken zu verwenden. Aus den Akten geht überdies hervor, dass diese Praktiken den höchsten Herrscherkreisen nicht unbekannt waren. Gleich mehrfach nämlich sah sich der Doge von Venedig genötigt, die Paduaner Universitätsleitung auf diesen Missstand hinzuweisen und den jüdischen Friedhof bewachen zu lassen. Noch Schlimmeres wird aus der Zeitenwende vom 18. zum 19. Jahrhundert berichtet. Immer wieder kam es vor, dass Verbrecher von ihren Eltern verlassene Kinder einfingen und umbrachten und deren Leichen an die Anatomen verschacherten.
Obduktionen heute
Heute wird die Sektion (oder Obduktion) oft durchgeführt, um die Todesursache oder vorherbestehende Erkrankungen Verstorbener festzustellen. Gerichtliche Obduktionen werden in der Regel staatsanwaltlich angeordnet, wenn eine nicht natürliche Todesursache (Tötungsdelikt, Unfalltod, Suizid) vermutet wird. Nicht selten geschieht es, dass Menschen ihren Körper der Forschung zur Verfügung stellen. Die Motive dafür sind unterschiedlicher Natur. Einzelne tun dies, um die Bestattungskosten zu sparen. Die meisten hingegen begründen ihren Entschluss damit, dass sie sich auf diese Art erkenntlich zeigen möchten für eine gute medizinische Behandlung. Das Anatomische Institut in Basel zitiert einen Brief, der angeblich die Absichten der Mehrheit der Spendenden wiedergibt: „Da ich selbst viel Gutes von der Medizin erfahren habe, soll mein Körper denen zugutekommen, die später wieder helfen sollen und dafür eine solide Ausbildung brauchen.“