Wunder, Zweifel - und viel Glaube
Im September gibt es gleich zwei Gedenktage rund um Pater Pio – seinen Todestag am 23. September 1968 und den Empfang der Stigmata am 20. September 1918. Wir stellen den nicht ganz unumstrittenen Heiligen vor.
Dieses Jahr ist ein besonderes für Pater Pio aus Pietrelcina: Vor hundert Jahren, am Morgen des 20. September 1918, erhielt er die Stigmata, und vor 50 Jahren, am 23. September 1968, starb er im Alter von 81 Jahren.
Pater Pio ist neben dem heiligen Antonius von Padua einer der beliebtesten Heiligen auf der Welt, und seine Faszination wirkt auch auf Nichtchristen und sogar auf nichtgläubige Menschen. Aus seiner Biografie wissen wir, dass sein Leben voller wundersamer Begebenheiten war, die seine Mitmenschen erstaunen ließen: Wunder, Heilungen, die gleichzeitige Anwesenheit an unterschiedlichen Orten, Wohlgerüche, die seinem Körper entströmten, seine Fähigkeit, in den Gedanken und Herzen der Menschen zu lesen, Zukunftsvorhersagen… aber das Außergewöhnlichste sind sicherlich die Stigmata, jene Wunden an den Füßen, den Händen und der Seite, die an die Wunden erinnern, die Jesus bei der Kreuzigung zugefügt wurden. Dieses Phänomen hat die Menschen und vor allem die Ärzte, die den Kapuziner trafen, sehr erstaunt und ist noch heute nicht wissenschaftlich erklärbar. Für Gläubige jedenfalls ist es ein Zeichen, das die Aufmerksamkeit der Welt auf das größte Geheimnis der Geschichte lenken soll: den Erlösertod Christi am Kreuz.
Freuden – und Qualen
Die komplizierte Geschichte von Pater Pios Stigmata beginnt schon lange vor ihrem Auftreten vor hundert Jahren. Wie er selbst seinem Beichtvater erzählte, hatte er bereits als Kind Visionen von Engeln, von Maria, den Heiligen, mit denen er freundliche Unterhaltungen führte, so, als würden sie ihm wirklich gegenüberstehen. Oft jedoch folgten auf diese Begegnungen mit himmlischen Wesen anschließend Qualen durch dämonische Mächte. Dem Geist des Bösen war klar, dass Gott große Pläne für diesen Jungen hatte, und er versuchte wohl, ihn auf jede mögliche Art vom Weg abzubringen.
Diese dämonischen Angriffe verstärkten sich, als der junge Mann entschied, sein Leben ganz Gott zu weihen und in den Orden der Kapuziner einzutreten. Ab da musste P. Pio wahre Kämpfe aushalten: Er erlitt die unterschiedlichsten Krankheiten mit Fieber, das bis 54 Grad Celsius anstieg und das normale Fieberthermometer explodieren ließ, so dass man das Fieber mit Badewannenthermometern messen musste. Nachts, wenn alle Mitbrüder schliefen, verwandelte sich der Konvent in ein wahres „Schlachtfeld“ mit Lärm, Schreien, eiskalten Winden, durch die Luft fliegenden Gegenständen und klappernden Fenstern.
Die Ärzte, die sich das alles nicht erklären konnten, rieten dem Oberen, Pio in sein Heimatdorf zu schicken, um wieder Frieden in den Konvent zu bringen, aber die unerklärlichen Phänomene ließen auch bei ihm zuhause nicht nach.
Vorgezogene Priesterweihe
Mehr als zehn Jahre lang lebte der Heilige zuhause, und in diesen Jahren wurden die Heimsuchungen des Teufels immer schlimmer, bis sich im Jahr 1910 Pater Pios Gesundheit sehr verschlechterte. Die Ärzte gingen davon aus, dass ihm nur noch wenige Monate blieben. Deshalb baten seine Oberen beim Vatikan darum, ihn zum Priester weihen zu dürfen, auch wenn er das dafür vorgesehene Mindestalter von 24 noch nicht erreicht und seine theologischen Studien noch nicht vollendet hatte. Pater Pio wurde in der Kathedrale von Benevento am 13. Mai 1910 zum Priester geweiht und kehrte dann zu seinen Eltern nach Pietrelcina zurück.
In dieser Zeit lebte Pio in einer Holzhütte, die er sich auf einem Grundstück seiner Eltern errichten ließ. Der zukünftige Heilige verbrachte die meiste Zeit des Tages in der Einsamkeit dieses Ortes, er betete und meditierte und blieb dort auch oft über Nacht.
Mit eigenen Augen gesehen
Eines Tages im August 1910 kehrt Pio geschockt nach Hause zurück. Er rannte weinend zu dem Gemeindepfarrer und berichtete diesem, an seinen Händen und Füßen seien blutende Wunden erschienen, die ihm unerträglichen Schmerz bereiteten. Der Priester, Salvatore Pannullo, hielt später schriftlich fest, dass er die Wunden mit eigenen Augen gesehen hätte. Pater Pio bat den Priester weinend darum, gemeinsam mit ihm zu beten, dass die Wunden verschwinden sollten. „Der Herr möge mir gerne den Schmerz zumuten, aber nicht diese äußeren Zeichen.“ Dem Kapuziner war deren Bedeutung bewusst, aber er fühlte sich nicht würdig genug, um diese Zeichen zu tragen. Und sein Wunsch wurde erhört – die blutenden Wunden verschwanden, aber die Schmerzen hatte er für den Rest seines Lebens.
Heftige Schmerzen
Der erste Brief, in dem Pater Pio seinem Beichtvater von diesen „unsichtbaren Stigmata“ berichtet, trägt das Datum 8. September 1911, ungefähr ein Jahr nach dem Erscheinen. In diesem Brief beschreibt er die Wunden und erklärt, dass sie ihm „heftigen und akuten Schmerz“ zufügen, und weiter schreibt er, „dieses Phänomen dauert seit fast einem Jahr an, und bitte seien Sie nicht aufgebracht, wenn ich Ihnen erst jetzt davon berichte, aber es ist wegen meiner großen Scham darüber. Wenn Sie wüssten, wie hart es ist, mich selbst dazu zu bringen, Ihnen davon zu schreiben.“
Versetzung nach San Giovanni Rotondo
Anfang 1916 kehrte Pater Pio in einen Konvent zurück. Ein paar Monate blieb er in Foggia und dann ging er in das Dorf San Giovanni Rotondo in einen kleinen Konvent, der eher einer Einsiedelei ähnelte und abseits des Ortes lag. Seine mystischen Erfahrungen wurden immer intensiver und erreichten am 20. September 1918 ihren Höhepunkt. In einem Brief an seinen Beichtvater vom 22. Oktober 1918 schreibt Pater Pio: „Am Morgen des zwanzigsten des vergangenen Monats im Morgengrauen, nachdem ich die Messe gefeiert hatte, wurde ich ganz müde und fiel wie in einen süßen Schlaf. Alle meine inneren und äußeren Sinne und auch alle meine Seelenfähigkeiten waren in eine große Ruhe getaucht. Absolute Stille war um mich und in mir. Ich fühlte einen tiefen Frieden. Das alles geschah blitzschnell. Während all das geschah, sah ich vor mir eine mystische Person, ähnlich der, die ich am Abend des 5. August gesehen hatte. Der einzige Unterschied war, dass aus seinen Händen, Füßen und der Seite Blut tropfte. Dieser Anblick erschreckte mich sehr und was ich in diesem Moment fühlte, ist unbeschreiblich. Ich dachte, ich würde sterben, und wäre sicher auch gestorben, wenn der Herr nicht eingegriffen und mein Herz gestärkt hätte, das aus meiner Brust zu springen drohte. Die Vision verschwand, und ich bemerkte, dass aus meinen Füßen, Händen und aus meiner Seite Blut tropfte. Versuchen Sie, sich meine emotionale Aufgewühltheit vorzustellen, die ich seither verspüre. Die Herzwunde blutet heftig… und ich befürchte, zu verbluten. In mir höre ich dieses Rauschen, ähnlich dem eines Wasserfalls, und ständig kommt Blut.“
Öffentliches Interesse
Diese Situation konnte nicht länger versteckt werden. Pater Pios Mitbrüder und Kirchenmitarbeiter sahen die Wunden und das Blut, und die Geschichte drang nach außen. Als auch die Lokalzeitungen davon erfuhren, wurde San Giovanni Rotondo sofort zu einer Attraktion für Menschen von überallher. Heilungen und Konversionen begannen sofort, aber gleichzeitig begann auch ein heftiger Kampf. Der Vatikan erhielt viele Briefe, die an die Kongregation für Glaubenslehre gerichtet waren. Diese Briefe erhielten Aussagen von offiziell glaubwürdigen Menschen wie Priestern und Bischöfen.
Der Bischof von Manfredonia, zu dessen Diözese San Giovanni Rotondo gehört, schrieb, dass Pater Pio einen Skandal unter den Menschen ausgelöst habe. Daraufhin sendete der Vatikan Inquisitoren, Ärzte und Theologen, die auf mystische Phänomene spezialisiert waren, nach San Giovanni Rotondo und beauftragte sogar atheistische Fachleute, um eine verständliche Erklärung für die Vorfälle zu finden.
Die Situation war gespalten: einerseits diejenigen, die Pater Pio kritisierten und denen von der Kongregation für Glaubenslehre mehr Gehör geschenkt wurde, während Aussagen zugunsten des zukünftigen Heiligen eher am Rand betrachtet und dann archiviert wurden. Während also in San Giovanni Rotondo der Enthusiasmus um Pater Pio weiter wuchs, wuchsen im Vatikan Skepsis und Zweifel.
Kontaktverbote und Einschränkungen
Am 10. Mai 1922 unterzeichneten die Kardinäle der Inquisition einen langen Brief an den Oberen des Kapuzinerordens mit einer Liste von Einschränkungen für Pater Pio. Ein Jahr später, am 31. Mai 1923, erklärte die Kongregation für Glaubenslehre ein erstes Urteil über Pater Pio: „Die Kongregation für Glaubenslehre… hat eine Untersuchung der Phänomene, die Pater Pio von Pietrelcina zugeschrieben werden, durchgeführt… und erklärt, dass sie aufgrund dieser Ermittlung keine Grundlage für den übernatürlichen Charakter dieser Phänomene finden konnte und fordert deshalb die Gläubigen auf, ihr Verhalten dieser Erklärung anzupassen.“
Mit dieser Erklärung bestätigte die Glaubenskongregation, dass die Stigmata, die Heilungen und die anderen Vorkommnisse rund um den Kapuzinerpater nicht die Frucht göttlichen Wirkens seien und entsprechend entweder das Werk eines Betrügers oder des Teufels seien.
Diese Erklärung hatte disziplinäre Folgen. Kontakte und Beziehungen zu Pater Pio wurden verboten. Auch Wallfahrten wurden untersagt, ebenso wie Besuche, Briefe und Konversationen oder Kontakte jeder Art. Pater Pio müsse aus San Giovanni Rotondo in ein Klausurkloster ins Ausland geschickt werden. Jede Erinnerung an ihn sollte ausradiert werden.
Widerstand der Gläubigen
Auf diesen harten Affront gegenüber Pater Pio folgte jedoch sofort eine andere unerklärliche Begebenheit. Niemand gelang es, diese Forderungen umzusetzen. Irgendetwas schien immer im Weg zu stehen. Die einfachen Menschen verteidigten Pater Pio und das führte zu einem tiefen Riss innerhalb der Kirche. Auf der einen Seite stand die Römische Kurie, die weiter an den Verurteilungen und den Einschränkungen festhielt, auf der anderen Seite die normalen Menschen, die diese Einschränkungen einfach ignorierten.
1931 wurde Pater Pio sogar in seinem eigenen Kloster „eingekerkert“. 750 Tage lang wurde ihm die Ausübung des priesterlichen Dienstes verweigert.
1939 änderte sich mit der Wahl von Eugenio Pacelli zum Papst die Situation im Vatikan. Pius XII. ordnete an, Pater Pio in Frieden zu lassen und darauf folgte eine ruhigere Phase für den Kapuziner. Jedoch wurde keine der Verurteilungen aufgehoben.
Verschwundene Stigmata
1960 gab es eine neue große Untersuchung mit ernsten Anschuldigungen und neuen Verurteilungen. Pater Pio wurde entwürdigenden Verhören unterzogen und wieder mit unterschiedlichen Methoden bestraft. Erst 1964 ordnete der neue Papst, Paul VI. an, dass Pater Pio wieder völlig frei seinen priesterlichen Aufgaben nachgehen dürfe.
Zur gleichen Zeit jedoch hatte sich Pater Pios Gesundheit verschlechtert. Im September 1968 begannen die Stigmata, zu verschwinden. Die Fotos während seiner letzten Messe, die er am Tag vor seinem Tod gefeiert hatte, zeigen, dass seine Hände völlig frei von blutigen Spuren waren.
Tod – und neue Kontroversen
Pater Pio starb um 2.30 morgens am 23. September 1968. Die Ärzte und Brüder, die sich um seinen Leichnam kümmerten, stellten fest, dass die Stigmata völlig verschwunden waren und fotografierten die entsprechenden Körperstellen. Pater Pios Feinde erklärten: „Das ist der wissenschaftliche Beweis dafür, dass alles nur Schwindel war.“ Die Freunde des Paters hingegen waren perplex und traurig. Aber an den folgenden Tagen sahen sie beim Ansehen dieser Fotos, dass noch ein anderes unerklärliches Phänomen aufgetreten war. Die Wunden, die 50 Jahre lang offen waren und geblutet hatten, waren vollständig und ohne Narben zu hinterlassen verschwunden. „Das ist eine wissenschaftlich nicht zu erklärende Tatsache,“ bestätigten die Ärzte, „und es ist ein neues großes Wunder, denn das Gewebe rund um die Wunden ist völlig verheilt.“
Und noch immer führen die Stigmata von Pater Pio zu Kontroversen. Im September 2009 organisierten die Brüder von San Giovanni Rotondo ein Symposium speziell zu den Stigmata, an dem Ärzte, Theologen und Geschichtswissenschaftler teilnahmen. Die wissenschaftliche Sektion stand unter der Leitung von Ezio Fulcheri, Professor für Anatomische Pathologie der Universität Genua und Paläontologie an der Universität von Turin. Am Ende einer langen Untersuchung erklärte Fulcheri: „Ich habe alle möglichen Dokumente untersucht, Fotos, Röntgenaufnahmen und ärztliche Befunde, die im Laufe der Jahre für Pater Pio erstellt worden waren. Meine endgültige Schlussfolgerung ist, dass die Stigmata von Pater Pio nicht wissenschaftlich zu erklären sind. Auch wenn Pater Pio sich diese Wunden selbst zugefügt hätte, indem er Nägel in seine Hände geschlagen oder Säure benutzt hätte, kann die Wissenschaft nicht erklären, wie diese Wunden 50 Jahre lang offen bleiben und bluten konnten.“