Antonius geht nicht mehr fort

08. Dezember 2018 | von

Die Geschichte des heiligen Antonius im italienischen Friaul ist jahrhundertealt. Angeblich war es der Heilige höchstpersönlich, der über den Bau des ersten franziskanischen Heiligtums in Gemona gewacht hat. Eine lange Geschichte des Glaubens und der Verehrung, die auch heute noch unverändert weitergeht.

Die Antoniusverehrung hier ist anders. Ich bin in Gemona, im Friaul, einer Region im Nordosten Italiens. Aus dem Fenster des Konventes sieht man die Berggipfel Österreichs, die Julischen Alpen überragen den Ort. Es ist windig. Man erzählt mir, dass auf der natürlichen Terrasse, auf der der Ort liegt, immer Wind weht. Bisher bin ich auf meiner unendlichen Reise auf der Suche nach dem heiligen Antonius fast immer im Süden gewesen. Dort ist der Glaube physischer Art, er wird zur Schau gestellt, ja fast in die Welt geschrien. Man weint vor dem heiligen Antonius, man berührt ihn, zeigt Schmerz und Freude ganz offen. P. Celestino, 74 Jahre alt, jahrzehntelang tätig als Prediger und heute Oberer des Heiligtums in Gemona, weist mich darauf hin: „Hier ist der Glaube individuell, eine persönliche Angelegenheit. Eine private Geschichte, sehr reserviert.“ 

Ruhe und Stille
Br. Giovanni, 63 Jahre alt, begleitet mich durch die Straßen des Ortes. Es ist Nachmittag und niemand ist unterwegs. Er sagt mir, dass sie hier die Piazza erst nachträglich errichtet haben, in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Piazza del Ferro, Platz des Eisens, eine Art Balkon über der Ebene, durch die der Fluss Tagliamento fließt. „Aber außer an Markttagen ist sie (die Piazza) menschenleer.“ Die Menschen hier sind stolz und still. Mir ist bewusst, dass ich auf Stereotype verfalle, aber ich komme gerade aus der Basilikata im tiefen Süden Italiens (siehe SENDBOTE, Ausgabe Oktober 2018) und bin etwas durcheinander. Die Menschen hier sind friulani, furlans, sie sprechen ihre eigene Sprache. Man grüßt sich mit mandi, „ich empfehle dich Gottes Schutz“. Und Antonius ist hier sant’Antoni di Glemone.
Ich bin hoch nach Gemona gekommen, weil hier vor 800 Jahren das erste Antonius-Heiligtum entstanden ist. Die erste ihm geweihte Kirche, die noch vor der Basilika in Padua erbaut wurde. Ein Besuch lohnt sich: Wie die Portiunkula bei Assisi befinden sich ihre Reste im Inneren der neueren Basilika, fast im Zentrum des Mittelschiffes und neben dem Altar. 

Ein echtes Antonius-Wunder
Antonius war in den Zwanzigerjahren des 13. Jahrhunderts Provinzialminister der franziskanischen Provinz Norditalien. Diese reichte von Mailand bis über die östlichen Alpen. In Gemona gab es bereits eine kleine Brüdergemeinschaft. Sie lebten in Laubhütten. Antonius wollte, dass sie sich Behausungen aus Stein bauten und eine kleine Kapelle. Er blieb gerade so lange, um deren Bau mitzuerleben, lebte in einer kleinen Zelle und wirkte ein seltsames Wunder: Die Brüder brauchten Hilfe, um die für den Bau des Kirchleins notwendigen Steine zu transportieren. Sie baten einen Bauern um Hilfe, der mit seinem Ochsenkarren vorbeikam. Der Mann wollte sich über den heiligen Antonius lustig machen, deutete auf seinen schlafenden Sohn auf dem Karren und gab vor, dass der Sohn tot sei und er auf dem Weg zum Friedhof, um ihn zu begraben. Der Bauer zog weiter, hielt den Karren an und versuchte, seinen Sohn zu wecken, um sich mit ihm über die Brüder lustig zu machen, aber der Sohn war nun wirklich gestorben. Verzweifelt kehrte der Bauer zum heiligen Antonius zurück und flehte ihn an. Der Heilige segnete den Jungen, der wieder lebendig wurde. 
Wann geschah dieses Wunder der Auferstehung? Im Jahr 1228, wenn man der Legende zur Entstehung der ersten Kirche Glauben schenkt. Antonius überwachte die Arbeiten an der ersten franziskanischen Ansiedlung in Gemona und zog dann weiter auf seiner Reise. In Oxford wird ein Dokument aufbewahrt, das bezeugt, wie die Kirche inmitten der Berge 1248 dem heiligen Antonius geweiht wurde. 
Diese Geschichte habe ich im Kopf, als ich Udine hinter mir lasse und in Richtung Gebirge abbiege, um die Ebene am Fuß der Berge Chiampon und Glemina zu erreichen. Gemona liegt unterhalb der Gipfel jener harschen und zu Gerölllawinen neigenden Berge. Und da muss ich unweigerlich an das schlimme Erdbeben vom 6. Mai 1976 denken, dessen Epizentrum genau unter dem Ort lag, der komplett in sich zusammenstürzte. 400 Tote. Ein Riss in der Geschichte des Friaul. Es gibt ein Vorher und ein Nachher. Am Morgen des 7. Mai vor 42 Jahren gab es Gemona nicht mehr. Und auch heute will und kann das hier niemand vergessen.

Fürchterliches Erdbeben
Ich gehe zusammen mit Br. Giovanni durch die Via Bini: Die Hauptstraße des alten Ortes, die einzige, die so wieder aufgebaut wurde „wie damals“. Ich bin auch mit Gabriele Marini, der viele Jahre lang Bürgermeister von Gemona war, unterwegs durch den Ort; vor jedem Haus erzählt er mir vom Erdbeben und dem Wiederaufbau. In jedem Winkel des Ortes gibt es Erinnerungen an das, was in jener Nacht geschehen ist. 
Ein Führer des wunderschönen Doms sagt mir: „Wir dürfen und wollen nicht vergessen. Da sind noch immer der Schmerz, die Erinnerung, aber auch der Stolz: Wir haben es geschafft, unser Dorf wieder aufzubauen.“ Den Satz ‚Il Friûl al ringrazie e nol dismentee – das Friaul bedankt sich und vergisst nicht‘ hört man noch heute in Gemona. Ebenso wie: „Zuerst die Fabriken, dann die Häuser, dann die Kirchen,“ wie damals der Erzbischof von Udine, Alfredo Battisti, sagte. Das Heiligtum des Antonius und den Konvent der Brüder gab es nicht mehr.

Wechselhafte Klostergeschichte
Dieses Kloster war im Lauf seiner Geschichte allerdings schon häufiger in seiner Existenz bedroht gewesen: 1767 ordnete Venedig die Räumung des Konvents an. Ende des 18. Jahrhunderts war die Kirche eine Kaserne für französische Soldaten. Aber der Ort braucht seinen Heiligen. Er vergisst nicht. Die Brüder, Franziskaner (OFM), kommen 1845 zurück. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wird ein großes Heiligtum geplant: ein „unmöglicher Tempel“, der nicht über aufwendige Zeichnungen herauskam und Konflikte mit der Pfarrei von Gemona auslöste. Am Ende wurde es nicht gebaut.
Das Erdbeben, Orcolat, der böse Riese, benannt nach einem legendären Riesen, der in den Bergen lebt und die Erde zum Beben bringt, machte das Heiligtum dem Erdboden gleich. Die Brüder konnten sich retten: Der Kirchturm stürzte ein, das Dach der friulanischen Portiunkula brach zusammen, der Konvent war nur noch Schutt. Nur die Kapelle der Rosenkranz-Madonna blieb erhalten. Und noch einmal blieb der heilige Antonius zäh und verließ den Ort nicht. Auch die Brüder blieben. Einen Monat nach dem Erdbeben ließen sie sogar die Glocken wieder läuten. Am Tag des Heiligen, dem 13. Juni 1976, ging die Prozession durch die Trümmer des Ortes. Die Menschen aus Gemona hatten sich die Ärmel hochgekrempelt, man hatte bereits mit dem Wiederaufbau begonnen. Eine antike Statue des Heiligen wurde unversehrt aus den Trümmern geborgen, sie trug ein Gewand aus Stoff nach österreichischer Tradition. Die Staute hat eine Lilie in der Hand und steht heute in dem Gang, der zur Zelle des heiligen Antonius führt. Die Statue in der Antoniuskapelle hingegen wurde zerstört, dann aber wieder restauriert. Sie trägt Zeichen und Narben, aber heute steht sie in der friulanischen Portiunkula. Am 1. Dezember 1977 wurde der Grundstein für den neuen Konvent gelegt. Fragmente aus dem alten Heiligtum (Flachreliefs, Lehnen von Chorstühlen) wurden in die Architektur der neuen Kirche eingegliedert. Der Dachstuhl erinnert an die Wellen des Erdbebens. Es gibt einen Riss, aber es gibt auch Licht. Das neue Heiligtum ist schön. Sein einziges Schiff ist wie ein gutes Gefühl. Die 
Ruinen haben Spuren vom heiligen Antonius zu Tage gebracht, zum Beispiel eine Steinplatte, auf der steht, dass Miser Sct Antonio da Padova eine Kapelle bauen ließ. Auch ein Fresko der Verkündigung kam unter bröckelndem Putz wieder zum Vorschein. 

Vertrauensvoller Glaube
In der Stille von Gemona ist das eine zähe und hartnäckige Geschichte. Eine Frau kniet vor der Antoniusstatue. Das ist eher eine Geste aus dem Süden: Man wendet sich aus einer dringenden Not an den Heiligen, für eine unmittelbare Hilfe. Man geht dafür nicht zum Allerheiligsten, sondern vertraut auf die Fürsprache des Heiligen. Auch hier wiederholt man: „Der heilige Antonius funktioniert. Auf ihn ist Verlass.“ Die Menschen aus Gemona, hart und streng, glauben an die kleinen Wunder. Sogar aus Österreich kommen Grüppchen zum Wallfahrtsort, zu einem grenzüberschreitenden Heiligen. Ein Mann verharrt bewegungslos im Gebet, scheinbar ewig. Eine Frau betritt die Sakristei und übergibt P. Celestino eine Spende: „Ein Versprechen an den heiligen Antonius“, sagt sie. „Wofür?“, fragt Celestino. „Das ist egal. Es ist ein Versprechen!“, antwortet die Frau reserviert und geht.

Zuletzt aktualisiert: 08. Dezember 2018
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