Wie tief ist doch das Meer von Rimini!
Auch nach acht Jahrhunderten sind in Rimini noch die Spuren der Anwesenheit des heiligen Antonius sichtbar. Spuren, die von den Menschen vor Ort mit Glauben und Anteilnahme lebendig gehalten werden.
Ich spaziere am Marecchia-Kanal entlang und betrachte die Boote, die hier mit eingeholten Segeln lustig auf und ab wippen, im Hintergrund das Klimpern und Klirren der Taue und Seile, die vom Wind bewegt werden. Hier gab es eine große Kirche aus dem 17. Jahrhundert: Der heilige Antonius am Hafen. Sie wurde durch alliierte Bomben während des 2. Weltkriegs vollends zerstört, nachdem aber bereits österreichische Kanonen im 1. Weltkrieg erheblichen Schaden angerichtet hatten. Heute stehen an ihrer Stelle ein großes, rotes Haus und ein Gedenkstein. Die Antonius-Statue konnte sich vor der Zerstörung durch die Bomben retten: Sie fand eine neue Heimat in der nahegelegenen Kirche San Nicolò. Die Kirche war nicht ohne Grund hier.
Predigt für die Fische
Es gibt eine Brücke aus den 60er Jahren, die die beiden Ufer des Kanals miteinander verbindet. Ein paar Meter davor, vom Festland kommend, sieht man eine Metall-Stele, auf der der heilige Antonius dargestellt ist und Fische, die ihren Kopf aus dem Wasser strecken, um seinen Worten zu lauschen. Hier hatte der Heilige, der von den Menschen von Rimini enttäuscht war, beschlossen, dass es angebrachter sei, den Fischen im Meer zu predigen. Und das hat er dann auch getan...
Aufmerksame Zuhörer
Vor achthundert Jahren war Antonius die italienische Halbinsel hochgekommen. Von Sizilien aus, wo er Schiffbruch erlitten hatte und dann einige Zeit in Messina blieb, war er nach Assisi gekommen. Dort hatte er am Generalkapitel der Minderbrüder teilgenommen und Franziskus kennengelernt. Aber am Schluss des Treffens blieb er alleine zurück. Bruder Graziano, der Provinzialminister der Romagna, nahm sich seiner an und brachte ihn zur Einsiedelei von Montepaolo in den Bergen des Apennins. Antonius wurde – unerwartet – zu einem Prediger in einer schwierigen Gegend, die von den Unruhen durch ketzerische Strömungen der Katharer gezeichnet war. 1223 kam der heilige Antonius nach Rimini. Es war eine Zeit der Wunder. Die Menschen von Rimini machten sich lustig über den Heiligen. Sie wollten ihm nicht zuhören. Und so also ging er den Fluss entlang bis zum Meer und wandte sich an die Fische: „Hört das Wort Gottes, die Ketzer wollen es nicht hören.“ Und eine Vielzahl von Fischen, „kleine, mittlere und große“, so berichten die alten Legenden, wie sie noch nicht einmal die Fischer in diesen Gewässern gesehen hatten, kamen herbei geschwommen und versammelten sich mit bebenden Kiemen vor dem heiligen Antonius, „sehr geordnet, mit großer Ruhe und in Frieden“. Antonius lud sie ein, dem Herrn zu danken, dafür, dass er sie geschaffen hat, dass er sie vor der Sintflut gerettet hat, dass er ihnen Flossen gegeben hat, mit denen sie frei im Meer herumschwimmen können. Sicher hätte der eine oder andere Fisch gerne applaudiert.
Musikalische Inspiration
Vor einigen Jahren spazierte Lucio Dalla, ein italienischer Musiker, durch die Säle des Kunsthauses in Zürich und blieb fasziniert vor einem Gemälde von Arnold Böcklin stehen, einem Schweizer Maler aus dem 19. Jahrhundert: Das Bild zeigt die Predigt des heiligen Antonius auf den Klippen von Rimini. Ein Hai war sogar ganz aus dem Wasser gekommen, fast auf den Felsen liegend scheint er staunend den Worten des Heiligen zu folgen. Der Heilige schimpfte mit ihm, weil er seine kleinen Geschwister auffrisst (es gibt sogar eine Art flashback auf diesem Gemälde, wo man den Hai beim Jagen sieht). Irgendetwas hat dieses Gemälde bei dem Liedermacher ausgelöst, denn so ist sein in Italien bekanntes Lied „Come è profondo il mare“ („Wie tief ist das Meer“) entstanden. Das hat der Sänger jedenfalls immer mit strahlenden Augen erzählt.
Lebendige Erinnerung
An der Stele des Wunders kommen zwei Menschen zu mir, ein Mann und eine Frau. Giuseppe Mazzotti, 55 Jahre alt, ist Grafiker. Antonietta Di Paola, 71 Jahre alt, ist die erste Frau in Rimini, die Fotografin wurde. Sie hatte einen Laden nur wenige Schritte von der Brücke entfernt. Ihr gegenüber war der Laden des Bilderrahmenbauers Davide Farinella (er kann leider nicht mehr dabei sein, denn er ist bereits gestorben). Sie erzählen mir: „Die Stadt hatte die Wunder des heiligen Antonius vergessen. Wir haben versucht, die Erinnerung daran wieder zu beleben.“
Das Wunder mit dem Esel
Ja, die Fischpredigt war das erste Wunder des heiligen Antonius. Und wenige Tage später ereignete sich im Zentrum von Rimini ein weiteres Wunder: Bononillo, ein Ketzer, hatte sich mit Antonius angelegt und ihn herausgefordert. Er würde sein Maultier drei Tage lang hungern lassen, danach wollte er ihm Hafer anbieten. Antonius hingegen sollte dem Maultier eine geweihte Hostie zeigen. Falls das Maultier die Hostie statt des Hafers wählen würde, würde der Ketzer das Wunder anerkennen. Und so geschah es: Das Tier verneigte sich vor dem Heiligen, der die Monstranz in die Höhe hob. Auf dem zentralen Platz von Rimini steht eine kleine Kapelle, die nach dem Erdbeben von 1672 neu aufgebaut worden ist und an die Verehrung durch das Maultier und die Bekehrung des Ketzers erinnert.
Glühende Antonius-Verehrer
Die drei Freunde Davide, Antonietta und Giuseppe aus Rimini haben sich sehr dafür engagiert, um an die Geschichte von Antonius zu erinnern. Vor zehn Jahren haben sie zu Weihnachten die Brücke mit großen Jakobs-Pilger-Muscheln geschmückt, haben die Ankunft der Heiligen Drei Könige auf Booten organisiert und eine beleuchtete Krippe gestaltet. Der Stadtteil San Giuliano a Mare wurde dadurch wiederbelebt. Im Juni organisieren sie an den Tagen um den 13. Juni Konzerte und Feste an den Ufern und einen Spaziergang über die „Brücke der Wunder“ bis zu der kleinen Kapelle von Bramante: „Wir wollten so die beiden Wunder verbinden.“ Die drei Freunde gründen eine Vereinigung, sie treffen den Drehbuchautor Tonino Guerra, beziehen Händler und Künstler ein. Sie haben ein Projekt: Gerne würden sie ein Zeichen setzen für das erste Wunder. Gerne hätten sie die Brücke von Laternen in Fischform beleuchtet, alle in einer Reihe vor einer Antonius-Statue. Im Studio von Giuseppe verstehe ich ihre Hingabe besser: Antonius erscheint hier in jedem Winkel, als Bildchen an der Wand, als Stiftehalter, auf den Regalen stehen kleine Antonius-Figuren, es gibt ein Porträt, das Giuseppes Mutter von den Brüdern in Padua geschenkt bekommen hat, zusammen mit ein paar kleinen Büchlein.
Stadt mit vielen Gesichtern
Rimini ist eine seltsame Stadt, die sich nicht wirklich selbst erzählen kann. Ein ruhiges Meer, Sandstrände, im Sommer Hochburg der Movida, ein rauschendes Nachtleben, das ist das stereotype Bild, das man von ihr hat. Aber dann geht man durch das Zentrum und stößt auf den Dom, der ein Kruzifix von Giotto enthält, und ein historisches Stadtzentrum. Die Fischer sind die Kinder einer Migration Mitte der 60er Jahre von der Insel Lampedusa. So kamen auch Tunesier hierher. Im September tragen die Menschen, die aus Lampedusa stammen, die Madonna di Porto Salvo, die Schutzheilige der entfernten Insel, in einer Prozession durch die Straßen. Und Rimini macht sich dieses Fest zu eigen: Ein Fischerboot bringt die Madonna aufs Meer. Die Mitglieder des von Franziskus von Paola gegründeten Ordens kümmern sich um die Kirche des Maultierwunders. Hier, in dieser schon immer weltlichen und linksorientierten Stadt, organisiert Comunione e liberazione, eine Bewegung der katholischen Kirche, in jedem Spätsommer ihr Treffen. Giuseppe und Antonietta erzählen von dem Filmemacher Fellini, der Restaurierung des Kinos Fulgor, vom Grand Hotel. Sie sprechen über Andrej Tarkovskij, den russischen Regisseur, der in seinen letzten Lebenstagen über einen Film über den heiligen Antonius nachgedacht hatte. Die Fischpredigt hat auch Gustav Mahler fasziniert, der ihr eines seiner Lieder gewidmet hat. Antonius ist immer präsent im täglichen Leben der Stadt.
Zwei Wunder, inniger Glaube
Ich spaziere weiter am Ufer des Marecchia entlang, bis zum Platz der Drei Märtyrer (drei Widerstandskämpfer, die hier 1944 von den Faschisten gehängt wurden). Auch ich verbinde die beiden Wunder. Rimini ist wirklich schön. Im Zentrum der Piazza ist in der Pflasterung eine Sonne dargestellt: fast so, als wolle sie auf die beiden antiken, romanischen Stadttore und die Brücke von Tiberius hinweisen.
Giuseppe Mazzotti würde gerne das Ufer der Fischpredigt zur vierten Himmelsrichtung der Stadt machen. Ich stehe wieder vor der Kapelle des Maultierwunders. Vier russische Frauen stehen davor. Sie beten. In den Händen halten sie Büchlein mit einem Antoniusbildnis. Ich höre zu. Ich verstehe kein Wort. Aber es ist eine eindringliche Litanei. Dann ein Kreuzzeichen, mit großen, weiten Gesten. Sie gehen an der Statue des Heiligen vorbei und berühren den Habit. Antonius ist lebendig.