Held wider Willen
Auch wenn er mit 106 Jahren wirklich alt geworden ist, seinen 110. Geburtstag am 19. Mai kann er nicht mehr erleben. Die Rede ist von Sir Nicholas George Winton, der es mit seiner Lebensleistung dennoch verdient, immer wieder ins Gedächtnis der Menschheit gerufen zu werden.
Ein kleines Internetvideo taucht regelmäßig auf. Es kündigt eine faszinierende Geschichte an und zeigt zunächst einen älteren Herrn, der offensichtlich als Zuschauer in einer Fernsehsendung sitzt. Bis zu diesem 27. Februar 1988 hatte er einen wesentlichen Teil seiner Biografie für sich behalten. Die Wochenendshow „That’s Life“ machte vor gut 30 Jahren öffentlich, dass er in der von Nazi-Deutschland okkupierten Tschechoslowakei vor Kriegsausbruch insgesamt 669 Kinder rettete. − In der TV-Show sitzt nun eines dieser damals geretteten Kinder neben ihm. Und schließlich hat es die Regie so eingefädelt, dass im Publikum noch zig andere „seiner“ Kinder sitzen. Für den bescheidenen Nicholas Winton ein „unexpected emotional shock“ und wohl eher eine Art Überfall. Doch seitdem geht seine Geschichte um die Welt.
Engagiert für Flüchtlinge
Geboren wird Nicholas Winton am 19. Mai 1909 als Sohn des Ehepaars Wertheim, einer vom Judentum zum Christentum konvertierten deutschen Familie, die zwei Jahre zuvor nach England ausgewandert war. Aus dem deutschen Namen Wertheim wird im Lauf der Zeit das englischer klingende Winton. Trotz dieser offensichtlichen Verwurzelung in England ist Nicholas in jungen Jahren als Banker viel unterwegs: Er hat Stellen bei Banken in England, dann aber auch Hamburg, Berlin und Paris.
Weihnachten 1938 besucht er Prag. Der von Nazi-Deutschland provozierte Konflikt, der die „Sudetenkrise“ ausgelöst und das Ziel hatte, die staatliche Existenz der Tschechoslowakei zu beenden, führt dazu, dass die altehrwürdige Stadt voller Flüchtlinge ist. Das Leid der Menschen scheint ihn nicht kalt zu lassen, vor allem nicht das der Kinder. Zurück in London setzt er alle Hebel in Bewegung, um Kindern die Reise aus Prag heraus zu ermöglichen. Im Hintergrund steht ein britisches Gesetz, das es gestattet, Kinder unter 17 Jahren einreisen zu lassen, wenn sich Adoptiveltern finden und wenn Sorge getragen ist für Visa- und Reisekosten. Pro Kind ist zusätzlich eine Garantiesumme von 50 Pfund zu hinterlegen, was heute etwa € 3.500,00 entsprechen würde.
Lobbyarbeit im Dienst der Kleinen
Nicholas, meist einfach nur Nicky genannt, sorgt aber nicht nur für konkrete Hilfe, sondern auch politischen Lobbyismus. Am 6. Mai 1939 schreibt er an US-Präsident Franklin D. Roosevelt: „Vermutlich haben die Menschen in Amerika nicht bemerkt, wie wenig bislang für Flüchtlingskinder in der Tschechoslowakei getan wurde. Sie sind gänzlich auf private Gewährsleute angewiesen, um nach England zu gelangen. Das heißt, jemand muss für ihren Unterhalt, Versorgung und Bildung aufkommen, bis sie 18 Jahre alt sind. Das wollte bislang kein Land übernehmen, ausgenommen Schweden, das im letzten Februar 35 Kinder aufnahm. In unserer Dienststelle haben wir Akten und Fotografien von über 5.000 Kindern, gar nicht zu reden von vermutlich weiteren 10.000, mit denen wir rechnen. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt konnten wir ganze 120 nach England schaffen. In Böhmen und der Slowakei finden sich Tausende Kinder, oft ohne Obdach und halb verhungert, vielfach ohne Nationalität, aber eins ist allen gemeinsam: Sie haben keine Zukunft, wenn man sie zwingt, dort zu bleiben, wo sie jetzt sind. Ihren Eltern wurde berufliche Betätigung verboten, die Kinder dürfen nicht zur Schule gehen, und neben allen physischen Torturen, denen sie ausgesetzt sind, ist ihre moralische Erniedrigung unermesslich.“
Dankbarkeit bis heute
Bis September 1939 organisiert und finanziert Winton mehrere Transporte von Kindern. Auf diese Weise werden 669 Flüchtlinge gerettet. Am 1. September 1939 soll der letzte Transport abfahren − doch die „Verladung“ verzögert sich. Dann bricht der Krieg aus und die Grenzen sind geschlossen. Später wird Nicky Winton diesen gescheiterten Transport als eines der traurigsten Erlebnisse seines Lebens bezeichnen. Wohl auch deshalb, weil man mit hoher Wahrscheinlichkeit damit rechnen muss, dass die Flüchtlingskinder in Nazi-Konzentrationslagern ums Leben kamen.
Umso größer ist bis heute die Dankbarkeit der von ihm Geretteten. Zur „Winton familiy“ zählen sich über 6.000 Gerettete und deren Nachkommen. Sein Leben wurde verfilmt, seine Tochter verfasste eine Biografie über ihn und sowohl in Tschechien als auch in Großbritannien wurden ihm hohe staatliche Ehren zuteil. Gewiss: Nicky Winton war nicht der einzige, der sich im Umfeld des 2. Weltkriegs um die Rettung von Personen, die von den Nazis verfolgt wurden, bemühte. Über 25.000 Personen werden von der jüdischen Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geführt − Winton ist nicht dabei. Auch bei drei Nominierungen für den Friedens-Nobelpreis ging er leer aus. Das dürfte Sir Nicholas Winton nicht allzu viel ausgemacht haben. Ruhm und öffentliche Anerkennung waren seine Sache nicht: „Ich war kein Held, ich war auch nie in Gefahr. Die Kinder brauchten Hilfe und ich war fähig, sie ihnen zu geben.“
Im Alter von 106 Jahren stirbt er am 1. Juli 2015. Die Erinnerung an ihn wird noch lange lebendig gehalten werden. „Seine“ Kinder und deren Nachkommen tragen dafür Sorge.