Auf der anderen Seite der Welt
Bei einem Ministrantentreffen der Franziskaner-Minoriten in Deutschland hat Br. Andreas Joseph Mörtl kennengelernt. Ein Jahr lang war er als Freiwilliger in Bolivien. Hier schenkt der junge Autor uns einen Einblick.
7:25 Uhr am Morgen. Mein Wecker klingelt in fünf Minuten, aber ich bin schon vorher aufgewacht. Die Sonne geht jeden Tag etwa um die gleiche Zeit auf und scheint in mein Zimmer, nur ein paar Mal ist der Himmel regnerisch.
Ich stehe auf und gehe nebenan in mein Bad. Hier habe ich ein Fenster, das ich aber nicht schließen kann. Egal, es hat 18 Grad draußen, im Winter 14 oder 15. Ich blicke hinaus gen Nordwesten, auf das große Flusstal, die satten, grünen Berge der Yungas, einem Ausläufer der Gebirgskette cordillera real hin zum Regenwald. Im Hintergrund türmen sich die mächtigen Anden auf. Die Sonne geht hinter dem Haus auf, in dem ich stehe. Sie beleuchtet die Szenerie in einem hellen Rosa.
Ich blicke auf die Umgebung draußen. Ein besonderer Geruch steigt mir in die Nase: Die Luft ist so anders, voller Gewürze, warm, geprägt von den unterschiedlichsten Baum- und Pflanzenarten. Von unten her höre ich eine Mutter mit ihren Kindern sprechen. Sie gehen zur Schule. In der Ferne höre ich eine Glocke läuten: Ein Konvent von Klarissen feiert die tägliche Morgenmesse.
Ich mache mich fertig, richte mein Bett, schnappe mir einen Besen und kehre das Treppenhaus. Danach gehe ich ins Wohnzimmer: Die Pfarrersköchin ist schon da, im ganzen Erdgeschoss riecht es nach Frühstückseiern, Brot und frittierten Bananen. Nach einiger Zeit kommen die Priester. Dann der Pfarrer. Wir setzen uns an den Tisch und essen. Ein neuer Tag kann beginnen!
Abenteuer Weltkirche
So war ein ganz normaler Morgen in Coroico, einem Städtchen mitten auf dem Land im südamerikanischen Bolivien. In diesem Dorf durfte ich ein Jahr lang arbeiten, wohnen und leben – doch zunächst einmal zu mir:
Ich bin Joseph Mörtl, mittlerweile 20 Jahre alt und komme aus dem oberbayerischen Bergen im Landkreis Traunstein. Nachdem ich vor zwei Jahren, im Juni 2017, damals noch 18 Jahre jung, mein Abitur erlangt hatte, startete das bis heute wohl größte Abenteuer meines Lebens: Ein befreundeter Gemeindereferent hatte mich schon vorher auf die Idee gebracht, einen sogenannten „Internationalen Freiwilligendienst“ zu absolvieren, eine Art FSJ im Ausland. Nach erfolgreicher Bewerbung und Auswahlgesprächen bei der Erzdiözese in München stand dann dem Jahr in Südamerika nichts mehr im Weg.
Ich habe mich bewusst für einen kirchlichen Träger entschieden. Eines der wunderbarsten Dinge an der katholische Kirche ist, dass wir uns als Teil einer Weltkirche sehen dürfen: Freilich mit regionalen Unterschieden, konnte ich doch darauf vertrauen, dass die Religion und die Kirche das einende Band sind zwischen Europa und Südamerika, zwischen mir als Fremdem und den Einheimischen dort. Das waren ein enormer Vorteil und eine große Sicherheit für mich, aber auch für die Bolivianer, in diesem sonst so ganz fremden Land. Dann hieß es Abschied nehmen – im August 2017 ging der Flieger nach La Paz, Bolivien.
Vielfältige Aufgaben
Gewohnt habe ich mit den Pfarrern der Pfarrei Coroico, für die ich gearbeitet habe. Im Pfarrhaus hatte ich mein Zimmer mit Bad, alles in allem war es wie eine große WG. Mein Chef in diesem Jahr war Padre Freddy, der Pfarrer der Pfarrei und gleichzeitig Generalvikar der Diözese Coroico.
Meine Aufgaben ließen sich im Großen und Ganzen in drei Teile aufteilen:
Ich war zunächst zuständig für die Kirche, die im Fall Coroicos sogar die Kathedrale der Diözese war. Praktisch eine Mischung aus Hausmeister und Mesner. Ich habe die Kirche geputzt, wenn es nötig war, habe Gottesdienste vor- und nachbereitet, hergerichtet und aufgeräumt. In meine Zuständigkeit fiel nach einiger Zeit auch die Vorbereitung auf die Sakramente: Wer sich taufen oder firmen lassen wollte, wer die Erstkommunion oder auch das Sakrament der Ehe empfing, wurde von mir in einem kleinen Kurs darauf vorbereitet. Für mich war das eine wunderbare Erfahrung und ein großer Vertrauensbeweis meines Chefs und auch des Bischofs, dass ich diese Aufgabe übernehmen durfte – auch wenn es natürlich, das kann man sich vorstellen, eine äußerst merkwürdige Situation ist, wenn man als 18-/19-jähriger Single teils deutlich älteren Paaren erklären darf, wie sie eine Beziehung zu führen haben! Dazu kam natürlich noch all das, was dem Gottesdienstbesucher verborgen bleibt: das Waschen, Trocknen und Bügeln von Gewändern, Altardecken, Kelchgeschirr. Und das nahm auch einige Zeit in Anspruch – eine Waschmaschine gab es nicht, Handwäsche war angesagt und besonders in der Trockenzeit, wo es wenig Wasser gab, hieß das: gut planen!
Chorleiter und Bischofssekretär
Der zweite große Teil meines Dienstes war die Kinder- und Jugendarbeit: Die Betreuung der pastoralen Jugendgruppe, bestehend aus ca. 20 Jugendlichen zwischen 13 und 18 Jahren, und die Durchführung vieler gemeinsamer Aktionen hat mir große Freude bereitet! Auch mit den noch kleineren hatte ich zu tun: Erstkommunionvorbereitung oder die Gründung eines Kinder-Kirchenchors standen ebenfalls auf der Tagesordnung. Ich hatte sogar die Möglichkeit, eine Ministrantengruppe in Coroico zu gründen, die es bis dahin nicht gegeben hatte – sechs kleine Messdiener waren es am Ende, die ich anwerben konnte.
Der dritte große Bereich meiner Aufgaben war all das, was gerade anfiel. War die Sekretärin im Urlaub oder krank, habe ich das Pfarrbüro übernommen. Taufregister mussten digitalisiert, Termine geplant und allerhand Zertifikate ausgestellt werden. Einige Zeit war ich Lehrer an der kirchlichen Schule, da ein Lehrer fehlte. Da Coroico eine Kathedrale hat und somit auch Bischofssitz ist, habe ich auch oft mit dem Bischof zu tun gehabt, habe ihn und den Generalvikar sowie die anderen Priester zu Messen auf das Land begleitet und war sozusagen deren „Sekretär“, den Koffer mit Lektionar, Messbuch, Messgewand, Altargeschirr und Heiligen Ölen immer mit dabei.
Besonders dieser Teil meiner Arbeit hat mich sehr gereizt: Die Pfarrei Coroico ist auch zuständig für viele Gebiete, die weit abgelegen liegen und zu denen man teilweise nur durch eine drei- bis vierstündige Fahrt (einfach!) über Erdpisten gelangt. Fernab von jeglichem Tourismus boten mir diese Reisen immer wieder Gelegenheit, mit den unterschiedlichsten Menschen in Kontakt zu treten, ja teilweise auch mit solchen, die noch nie persönlich mit einem hellhäutigen Menschen zusammengetroffen waren. Die meisten Menschen hielten mich auch für einen Geistlichen. Ich hatte dann immer zu erklären, dass ich kein Pfarrer sei, aber viele sprachen mich trotzdem weiterhin mit „padre“ an. Dabei bleibt mir jedoch eines in besonderer Erinnerung: Auch in den abgelegensten Dörfern wurden die Priester und auch ich immer freundlich empfangen; und auch mir als offensichtlich Fremdem wurde immer Essen und Trinken angeboten, manchmal wurden auch kleine Geschenke gemacht – oder große, wie einmal, als wir einen Hahn geschenkt bekamen.
Die „typische“ Mahlzeit sah in etwa meist so aus: Gebratenes Hühner- oder Schweinefleisch mit ständig anderen Konstellationen von gekochten Bananen, Kartoffeln, Salat, schwarzen Kartoffeln und sämtlichem Gemüse. Dazu selbstgemachte Fruchtsäfte- Papaya, Banane, Zitrone und alles, was man sich vorstellen kann.
Und zu Hause in Deutschland?
Der gelebte Glaube spielt an diesem Ort eine besondere Rolle. Die Einwohner von kleinen, abgelegenen Dörfern treten oft an den Generalvikar heran mit der Bitte, sie wollen eine eigene Kapelle bauen. Wenn dann einmal genug Geld gefunden ist, oft durch Spenden, hilft die ganze Dorfgemeinschaft zusammen, baut sich ihr Gotteshaus und besteht dann auf regelmäßig stattfindenden Gottesdiensten. Eine wunderbare Mentalität, die mich auch zum Nachdenken gebracht hat: Würde sich bei uns in Deutschland jemand so für Kirchen und Gottesdienste einsetzten? Würden wir um unsere schönen Kirchen kämpfen? Oder nicht doch eher genervt mit den Augen rollen, wenn eine Sanierung ansteht? Die Antwort muss wohl jeder für sich selber finden.
Ein Zuhause für immer
Inzwischen ist es dunkel geworden. Nach dem Abendessen und gemeinsamen Fernsehen falle ich in mein Bett. Manchmal, wenn meine Mitfreiwilligen, die in der Umgebung ihren Dienst tun, da sind, spielen wir noch bis tief in die Nacht Karten. Von meinem Badezimmerfenster aus kann ich in die Lichter von La Paz am Horizont erkennen und sehe am Bergeshang die Lichter der Autos, die dorthin unterwegs sind oder gerade von dort kommen. Ein leises Rauschen der subtropischen Wälder durchstreift die Nacht. Ich stelle meinen Wecker, obwohl ich weiß, dass ich ihn wieder nicht brauchen werde. Es ist Trockenzeit, ich habe morgens Wasser für den gesamten Tag gebunkert, das jetzt aufgebraucht ist. Morgen werde ich wieder welches holen. Draußen höre ich zahlreiche Straßenhunde bellen, als ob sie mir täglich gute Nacht singen wollten. Ich denke an den heutigen Tag; der morgige wird ähnlich, aber doch ganz anders sein. Ich bete. Dann mache ich die Augen zu.
So war es immer abends. Oder fast immer. Dort, an jenem wunderbaren Ort, den ich ein Jahr mein Zuhause nennen durfte, und der es auch immer irgendwie bleiben wird. Auf der anderen Seite der Welt.