Lasset die Kinder zu mir kommen!
An bestimmten Tagen im Lauf des Kirchenjahres gehören Kinder einfach dazu: So ist es in vielen Gemeinden üblich, dass am Erntedankfest der Kindergarten „auftritt“ und in der Kirche ein Lied singt. Ich verwende bewusst den für die Liturgie unpassenden Begriff „Auftritt“, weil es in der Regel wirklich nicht mehr ist: Die Kirche, der Altarraum, ist die Bühne, auf der der Kindergarten wenigstens einmal im Jahr zeigen will, dass er dazugehört und dass er katholisch ist. Über das Lied hinaus, das die Kinder eingeübt haben, hat der Kindergarten und haben die Kinder aber keinen Platz in der liturgischen Feier des Erntedankfestes: Sie werden nicht angesprochen; sie werden nicht einbezogen; sie verstehen genauso wenig wie sonst; auch ihr Lied steht meist nicht in einer thematischen Verbindung zu den restlichen Liedern und Texten der Messfeier. Ich bezweifle, dass so ein „Auftritt“ auch nur ein einziges Kind oder dessen Eltern näher an die Feier des Gottesdienstes heranbringt: Man kann nämlich an diesem Sonntag nicht ausschlafen. Von Seiten des Kindergartens besteht ein spürbarer Gruppendruck. Und man spürt, dass die Kinder für etwas gebraucht werden, was eigentlich nicht das Ihre ist.
Auftritt für die Herzenswärme
Bei der Kinder- oder Familienchristmette am Heiligen Abend kann es ganz ähnlich gehen: Da haben Kinder mit viel Mühe und Zeit und Einsatz ihre Rollen für das Krippenspiel gelernt. Mütter haben ihre Kinder x-mal zu Proben gefahren, haben mit ihnen Texte gelernt, haben gedrängt, wenn die Kinder keine Lust hatten, haben Kostüme probiert und Streit geschlichtet, wenn eines der Kinder unbedingt die Rolle eines anderen haben wollte. Aber auch da stellt sich oft die Frage: Geht es bei solchen Gottesdiensten wirklich um die Kinder? Geht es darum, dass die Kinder verstehen, erfahren und feiern können, dass Gott Mensch geworden ist – kein erwachsener Mensch, sondern ein Kind wie sie selbst? Wenn ich an manche erwachsene und ältere Menschen denke, die gerne schon länger als eine Stunde vor Beginn der Kinder- oder Familienchristmette die ersten Bänke blockieren und so dafür sorgen, dass die Kinder weiter hinten sitzen müssen, wo sie kaum etwas von dem Geschehen im Altarraum sehen können, vermute ich: Auch bei diesem „Auftritt“ geht es vor allem um die Erwachsenen. Ihnen soll es an diesem Tag warm ums Herz werden. Die Kinder sorgen für die richtige Stimmung. Ansonsten sollen die Kinder aber ruhig sein, sie sollen nicht stören und am liebsten im Hintergrund bleiben, damit die gute Stimmung nicht gestört wird.
Stören Kinder?
Trotzdem wird an Weihnachten mit Hingabe das Lied gesungen „Ihr Kinderlein kommet... “, aber wenn die Kinder dann wirklich in den Gottesdienst kommen, ist es auch nicht recht: Wenn ein Kind mal unruhig ist oder schreit; wenn ein Kind mal kurz rumläuft; wenn ein Kind in der Messe seine Eltern etwas fragt, dann gibt es von manchen Frommen manchen unfrommen Blick: Leute drehen sich um und schauen die Eltern vorwurfsvoll an. Manchmal werden Kinder von Fremden so angesprochen, dass sie erschrecken und zu weinen beginnen. Eltern werden mehr oder weniger deutlich gefragt, ob sie ihr Kind nicht besser erziehen können, gemeint ist: So, dass es ruhig ist und nicht stört. Oft genug geben dann Eltern entnervt auf: Sie verlassen mit ihren Kindern den Gottesdienst und überlegen sich sehr gut, ob sie so einen Versuch nochmal wagen, ihre Kinder mit in den Gottesdienst zu nehmen. Viele Eltern sind es sowieso schon nicht mehr, die sich auf so ein Abenteuer einlassen.
Liturgie für alle und mit allen
In c. 837 § 1 CIC (= Codex Iuris Canonici; Gesetzbuch der Lateinischen Kirche) ist ein Text zu finden, der mich sehr nachdenklich macht. Da heißt es: „Die liturgischen Handlungen sind nicht private Handlungen, sondern Feiern der Kirche selbst, die das Sakrament der Einheit ist …; die liturgischen Handlungen gehen daher den ganzen Leib der Kirche an, stellen ihn dar und erfüllen ihn; seine einzelnen Glieder aber berühren sie in unterschiedlicher Weise gemäß der Verschiedenheit der Weihen, der Aufgaben und der tatsächlichen Teilnahme.“ Die Liturgie, also jede Feier eines Gottesdienstes, so heißt es da, geht den ganzen Leib der Kirche an und stellt ihn dar. In der Feier eines Gottesdienstes soll also erkennbar werden, wie bunt und vielgestaltig und wie eins die Kirche ist. Oder anders gesagt: An einer konkreten Gottesdienstgemeinde soll man beispielhaft sehen und ablesen können, wer und was Kirche ist.
Mindestalter 65?
Die Realität sieht aber oft so aus: In dem Bild, das unsere normalen Gottesdienstgemeinden vermitteln, kommen – abgesehen von zwei, vielleicht drei „Auftritten“ einiger Kinder im Laufe eines Kirchenjahres – Kinder nicht vor. Jugendliche kommen auch nicht vor – vielleicht ein paar Ministrantinnen und Ministranten, für deren Dienst man gar nicht froh genug sein kann. Eltern kommen auch nicht vor. Bei einem fremden Betrachter könnte sich der Verdacht einschleichen, dass man mindestens 65 Jahre alt sein muss, um am Sonntag die Messe mitfeiern zu dürfen. Das Bild, das unsere normalen Gottesdienstgemeinden vermitteln, ist das einer alt gewordenen Kirche, der ihr letztes Stündlein bald geschlagen hat.
Wenn das einmal bewusst wird, dann fehlt es nicht an Vorwürfen: Die Eltern erziehen ihre Kinder nicht mehr religiös. Die Kinder können sich nicht anpassen. Die Jugendlichen haben sowieso nur Unfug im Kopf. Und die Medien sind schuld und die Schulen und die Lehrerinnen und Lehrer sowieso…
Voll, tätig und gemeinschaftlich
Der c. 837 § 1 CIC macht mich auch da sehr nachdenklich, denn es heißt dort, dass die liturgischen Feiern die einzelnen Glieder der Kirche in ganz unterschiedlicher Weise berühren und zwar gemäß der tatsächlichen Teilnahme. Dieser Text steht in engem Zusammenhang mit Nr. 26 der Liturgiekonstitution des II. Vatikanischen Konzils. Dieses Konzil hat in Nr. 21 derselben Konstitution gefordert, die liturgischen Feiern so zu ordnen, dass das christliche Volk sie möglichst leicht erfassen und in voller, tätiger und gemeinschaftlicher Teilnahme mitfeiern kann. Diese Forderung des Konzils gilt auch und ganz besonders im Blick auf die Kinder: Die Gottesdienstfeiern sollen so gestaltet sein, dass auch die Kinder möglichst leicht, also auch ohne ausufernde Katechesen und Belehrungen, erfassen können, was da eigentlich gefeiert wird. Und die Gottesdienste sollen so strukturiert sein, dass auch die Kinder in voller und tätiger Weise, also aktiv und so, wie es ihrem Alter und ihren Möglichkeiten entspricht, mitfeiern können.
In Mk 10, 13-16 wird berichtet, wie Jesus seinen Jüngern eine Lektion erteilt. Die Jünger hatten nämlich versucht, Eltern mit ihren Kindern abzuwimmeln: Sie würden Jesus nur stören. Doch Jesus ist da ganz anderer Meinung. Er will, dass die Kinder zu ihm kommen können, denn ihnen gehört das Reich Gottes. Ja, Jesus macht dort, ebenso wie in Mk 9, 36, Kinder zum verpflichtenden Maßstab für alle Gläubigen.
Ob wir nun „Ihr Kinderlein kommet …“ singen oder mit Jesus sagen „Lasset die Kinder zu mir kommen…“, die Aufforderung an uns bleibt, unsere Kirche und unsere Gottesdienste so zu gestalten, dass Kinder dort wirklich vorkommen und aktiv beteiligt sein können. Auch die Figur des heiligen Antonius, der das kleine Jesuskind auf seinem Arm trägt, weist in dieselbe Richtung: Kinder sind nämlich nicht gerne allein, auch nicht das Jesuskind.