„Wir müssen raus, es hilft nichts“
Wir helfen dort, wo es Not tut. Das zeichnet die Caritas Antoniana aus. Auch jenseits solcher institutioneller Hilfsprojekte setzen sich Christen für andere ein.
Corona – seit Monaten hat das Virus die Welt fest im Griff. Alles ist anders. Die Menschen überall auf der Welt müssen mit den Folgen der Pandemie kämpfen, die mittlerweile auch die entlegensten Teile des Planeten erreicht hat. Eine kleine Gruppe Geistlicher und Ordensschwestern traut sich auf dem Land im südamerikanischen Bolivien, sich trotz aller Ausgangsbeschränkungen und Gefahren den Auswirkungen des Virus entgegenzustellen. Dies ist die Geschichte des kleinen Bistums Coroico, in dem ich ein Jahr lang leben und arbeiten durfte und wohin mich immer noch eine tiefe Freundschaft mit den Menschen verbindet.
Strenge Beschränkungen
Bolivien – ein Land, das seit Monaten in der Ausgangssperre lebt. Bei dieser Sperre handelt es sich jedoch nicht um eine „Beschränkung light“, wie wir sie erlebt haben. An den Wochenenden dürfen alle das Haus verlassen, von 8:00 bis 15:00 Uhr, selbstverständlich mit Maske und Mindestabstand. Außerdem darf jeder Bolivianer noch einmal zusätzlich pro Woche bis nachmittags auf die Straße, wann genau, entscheidet die letzte Nummer des Personalausweises. 1 und 2 am Montag, 3 und 4 am Dienstag und so weiter. Das heißt im Klartext: Dreimal die Woche darf man also das Haus verlassen.
In Bolivien gibt es nicht viele bestätigte Coronafälle. Höchstens in den Städten einige Hundert, und die vor allem im Osten des Landes, hunderte, tausende Kilometer entfernt von Coroico. Dennoch gelten auch hier die gleichen Regelungen. Denn in Bolivien weiß man: Wenn das Virus einmal um sich greift, wird das ohnehin schon schwache Gesundheitssystem innerhalb von Tagen kollabieren – gar nicht zu denken an die, die bis ins nächste Krankenhaus oder zumindest ins nächste „centro de salud“, so etwas wie eine kleine Arztpraxis, mehrere Stunden brauchen. Man hat Angst in Bolivien.
Gefährdete Existenzen
Coroico ist Provinzhauptstadt, beschaulich im Grünen gelegen mit etwa zweieinhalbtausend Einwohnern. Dazu gehören viele kleine, abgelegene Dörfer mit selten mehr als einer Handvoll Einwohnern. Die Menschen leben größtenteils von der Landwirtschaft und Viehzucht, viele davon von der traditionell wichtigen Coca-Pflanze, die als Heilmittel und teilweise sogar als „heilig“ gilt.
Mit den Ausgangssperren verlieren besonders diese Menschen nahezu ihre komplette Lebensgrundlage: Sie können ihr Gemüse und Fleisch nicht mehr verkaufen und sich auch immer weniger Lebensmittel leisten, deren Preise in die Höhe gehen, sofern sie überhaupt noch vorhanden sind. Und wie immer trifft es die, die ohnehin am bescheidensten leben.
Hier kommen nun Bischof Juan, Padre Freddy und ihr Team ins Spiel, bestehend aus den vier Priestern der Pfarrei Coroico, einigen Franziskanerschwestern und Freiwilligen der „Pastoral Social Caritas Coroico“. Mit Sondergenehmigungen stellen sie sogenannte „Canastas Familiares“ zusammen, also Taschen voll mit Grundnahrungsmitteln und Hygieneartikeln wie Eier, Öl, Milchpulver, Mehl, Zucker, Salz, Butter, Seife, Waschmittel, Desinfektionsmittel, Masken und vielem mehr. „Eine Familie mit vier Kindern kann damit gute zehn Tage leben, Haushalte mit weniger Personen entsprechend länger“, erzählt mir Padre Freddy in einem Telefonat. „Wir können natürlich nicht allen helfen. Aber wir sehen zu, dass jeder zumindest das Mindeste zum Leben hat. Die Menschen, denen wir helfen, leben immer noch unter teils schlimmen Bedingungen. Aber sie haben etwas, um überleben zu können.“
Da die Preise für Lebensmittel und Hygieneartikel seit Beginn der Pandemie gestiegen sind, ist diese Aktion natürlich sehr kostspielig für Pfarrei und Diözese. Eine Art Kirchensteuer gibt es in Bolivien nicht. Die Kirche muss kämpfen um ihr Geld, das teils aus Zuschüssen, zum größten Teil aber aus Messintentionen und Spenden stammt.
„Vielleicht kennst du ja jemanden, der uns helfen kann. Ich weiß nicht, woher ich noch Geld nehmen soll.“ Padre Freddys Stimme ist sonst immer kräftig, impulsiv, voller Tatendrang. In diesem Telefonat klingt sie müde, erschöpft.
Unbürokratische Hilfe
Schon seit dem Alter von weniger als zehn Jahren kenne ich Br. Andreas und die Franziskaner-Minoriten. Kennengelernt haben wir uns damals in Maria Eck in Oberbayern bei einer Ferien-Kinderfreizeit. Die Freundschaft blieb über viele Begegnungen in Oberbayern und Schwarzenberg erhalten, auch, wenn man sich nicht jedes Jahr sieht. Ich wandte mich also an Br. Andreas mit der Bitte um eine kleine Hilfe. Ganz unbürokratisch und schnell landete eine Zusage in meinem E-Mail Postfach. Mit wenig Geld ist den Bolivianern in Coroico viel geholfen – mit einigen Hundert Euro kommen dutzende Familien nun ohne Sorgen durch die nächsten Wochen, dank den Brüdern. Das Geld, das auf einem speziellen Konto liegt, das durch bischöfliche Vollmacht auch auf den Namen der Diözese lautet, kommt direkt bei denen an, die es brauchen.
Gott ist bei uns!
Und während hier in Deutschland langsam sämtliche Beschränkungen gelockert werden, wurde dort in Coroico vor wenigen Tagen der erste Coronafall bestätigt. Das gesamte öffentliche Leben wird nun für eine Woche komplett pausieren. Wie es danach weitergeht? Ungewiss. Aber in Südamerika ist die Krise noch am Anfang. „Wir beten, dass wir das alles gut überstehen“, erzählt mir Padre Freddy. „Ich lese täglich die Messe, die wir über unser eigenes Radioprogramm in alle Dörfer übertragen. Das gibt den Menschen Kraft.“ In der Kathedrale befindet sich eine Statue der Mutter Gottes, sie ist die Schutzpatronin Coroicos und wird von den Bewohnern sehr verehrt. Sogar einige Wunder werden ihr von den Leuten zugeschrieben. „Den Menschen tut es in der Seele weh, nicht in die Kirche zu ‚ihrer‘ Maria zu können. Wir haben deshalb meinen Pick-Up etwas verziert und die Statue mit viel Aufwand darauf gehoben. So sind wir dann durch das Dorf gefahren, um den Leuten zu zeigen: Gott ist auch jetzt bei uns.“ Die Menschen stehen an den Fenstern, einige weinen.
Bischof Juan Vargas und Padre Freddy tun, was sie können, auch, wenn es wenig ist. Der Bischof ist 73 Jahre alt, Padre Freddy vorerkrankt. Beide gehören zur Risikogruppe. Dennoch lassen sie es sich nicht nehmen, zu den Menschen zu fahren, trotz aller Gefahren. „Was sollen wir denn tun? Wie sollen die Menschen überleben? Wir müssen raus, es hilft nichts.“