Wenn die Päpste abrüsten

14. September 2020 | von

Unser Autor, ein erwiesener Kenner des Vatikan, nimmt uns auf den folgenden Seiten mit, um einige militärische Aspekte des Kirchenstaats in Vergangenheit und Gegenwart zu erkunden. 

Vatikanische Gedenktage besitzen in der Regel liturgischen Charakter. Oder sie rufen den Jahrestag des Amtsantrittes von Papst Franziskus und dessen Namenstag in Erinnerung. Ein rein weltliches Fest begeht man alljährlich am 11. Februar – an diesem Tag wurde im Jahre 1929 der Vatikanstaat gegründet. Militärische Gedenktage kennt der offizielle Kalender des Papstes nicht. Doch der September 2020 lädt dazu ein, einen Blick auf zwei besondere Ereignisse vor 150 Jahren und vor 50 Jahren zu werfen.

Untergang des Kirchenstaats
Im 19. Jahrhundert hatte das Risorgimento, das Streben nach der staatlichen Einheit Italiens, auch vor den Grenzen des Kirchenstaates nicht halt gemacht. Gegen die über 1.000 Jahre alte weltliche Herrschaft der Päpste war von den unterschiedlichsten politischen Kräften zum Kampf aufgerufen worden. 1859 verlor der Papst die Romagna, ein Jahr später musste er auf die Herrschaft über die Marken und Umbrien verzichten. Ihm verblieben nur noch Rom und Umgebung. 
Doch auch dieser Rumpfstaat blieb den Anhängern eines geeinten Italiens ein Dorn im Auge. Das savoyische Königshaus aber war durch internationale Konventionen gebunden und konnte sich nicht offiziell des päpstlichen Territoriums bemächtigen. Man musste zu anderen Mitteln greifen. Der Plan war es, den restlichen Kirchenstaat zu destabilisieren. Giuseppe Garibaldi und seine Freischärler sollten hierzu das Nötige tun. Stünde das Herrschaftsgebiet des Heiligen Vaters in Aufruhr, würde Italien dem Papst „zur Hilfe“ eilen und die Ruhe wiederherstellen. Ein Plebiszit würde folgen, das „den Willen des Volkes“ kund täte, in die italienische Nation aufgenommen zu werden – und der Papst wäre seiner weltlichen Sorgen entledigt gewesen. 

Überraschungserfolg – und Einmarsch
„O Roma o Morte – entweder Rom oder den Tod!“ gab Garibaldi als Devise für seinen Feldzug aus. Dem Revolutionär und Freigeist gelang es, Zigtausende von Freiwilligen für sein Unternehmen zu gewinnen. 1867 fiel man in den Kirchenstaat ein. Am 3. November des Jahres stellte sich eine dreitausend Mann starke päpstliche Streitmacht unter dem Kommando von General Hermann Kanzler, dem aus Deutschland stammenden Befehlshaber der Armee des Papstes, gemeinsam mit einem zweitausendköpfigen französischen Expeditionskorps, das Kaiser Napoleon III. auf Drängen seiner katholischen Untertanen zur Unterstützung des Papstes nach Rom entsandt hatte, bei dem Städtchen Mentana (Latium) den Freischärlern. 
Was kaum jemand für möglich gehalten hatte, gelang: Die zahlenmäßig weit unterlegenen Truppen des Papstes errangen einen historischen Sieg und bereiteten der Identifikationsfigur des Risorgimento eine schwere Niederlage. Doch dieser Sieg vermochte den drohenden Untergang des alten Kirchenstaates nicht zu verhindern – zu sehr wirkten die politischen Gegebenheiten gegen dessen Bestehen. Als 1870 der deutsch-französische Krieg ausbrach, sah sich Napoleon III. ge­zwungen, über seine in Rom stationierten Soldaten zu verfü­gen und diese aus dem Kirchenstaat abzuziehen. Das König­reich Italien nutzte nun die Gunst der Stunde. Am 11. September ließ Viktor Emanuel II. seine Truppen in den Kirchenstaat einmarschieren. 

Kapitulation des päpstlichen Heeres
Am 20. September standen die Italiener vor den Toren der Ewigen Stadt. Der Papst teilte seiner Armee mit­, dass er aufgrund einer überwältigen Übermacht des Feindes (fast 60.000 Mann) und eines daher zu befürchtenden Blutbades da­von absehen wolle, von seinen Soldaten zu verlangen, bis zum letzten Mann zu kämpfen. Jedoch solle der Kirchenstaat nicht ohne Gegenwehr aufgege­ben wer­den. Nach dem Schlagen einer Bresche in der Stadtmauer Roms bei der Porta Pia habe man die weiße Fahne zu hissen – was dann auch geschah.
Am Nachmittag des Tages unterschrieb General Kanzler die Kapitulation des päpstlichen Heeres, das nun aufgelöst wurde. Nur die Palastgarden des Papstes und eine Kompanie der Päpstlichen Gendarmerie durften weiter ihren Dienst in­nerhalb der vatikani­schen Mauern aus­üben. Der Heilige Vater zog sich als „freiwilliger Gefangener“ in den Vatikan zurück. Für fast sechs Jahrzehnte sollten es zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Königreich Italien keine geregelten Beziehungen geben.

Souveräner Vatikanstaat
Am 11. Februar 1929 kam es zur Aussöhnung des Papstes mit Italien – der souveräne Staat der Vatikanstadt entstand. Wer auf den neuen, nur 44 Hektar großen Kirchenstaat schaute, stellte mit Erstaunen fest, dass er – in der Relation zur Zahl der Staatsangehörigen und der Bewohner – die größte Militärmacht der Erde vor sich hatte. 
Doch die „Armee“ des Papstes stellte keine Bedrohung für den Weltfrieden dar. Im Vatikan sah man weder Panzer noch Abschussrampen für Raketen. Es waren die Palastgarden des Papstes, die ihm mit traditioneller Bewaffnung – Degen, Hellebarde, Pistole und Karabiner – dienten: die aus siebzig Aristokraten gebildete Päpstliche Nobelgarde, die 1506 geschaffene Päpstliche Schweizergarde, die Päpstliche Palatingarde, die sich aus einer fünfhundert Mann starken römischen Bürgermiliz zusammensetzte, und eine Truppe von hundertfünfzig päpstlichen Gendarmen. 
Die vier Korps dienten der Bewachung des Papstes und des Apostolischen Palastes, sicherten die Grenzen des Kleinstaates und sorgten für die Aufrechterhaltung der Öffentlichen Ordnung.  Sie stellten den Geleitschutz und die Thronwache beim Papst und leisteten Ordnungs- und Ehrendienste bei feierlichen Zeremonien im Vatikan. Bei offiziellen Besuchen von Monarchen, Staatsoberhäuptern, Regierungsverantwortlichen und Botschaftern traten sie zur Begrüßung an und geleiteten die Gäste in die Audienzräume. Selbst nach dem Tod des Papstes kamen ihnen gewichtige Verpflichtungen zu; so sorgten sie für den Schutz der Kardinäle und des Konklaves.

Auflösung der Garde
Auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) durfte man das farbenprächtige Aufgebot päpstlicher Soldaten noch bewundern, doch bereits während der weltweiten Kirchenversammlung kamen die päpstlichen „Truppen“ in die Kritik. Immer mehr verdichteten sich in den folgenden Jahren die Anzeichen, dass den Garden keine große Bedeutung mehr zugestanden würde. In einem Brief vom 14. September 1970 teilte dann der Papst seinem Kardinalstaatssekretär mit, dass er zu dem Entschluss gekommen sei, die Nobelgarde und die Palatingarde aufzulösen. Die Päpstliche Gendarmerie solle in eine zivile Polizei-Einheit umzuwandeln sein. Nur die altehrwürdige Schweizergarde dürfe als bewaffnetes Korps des Heiligen Stuhles weiter bestehen bleiben. 
In dem Schreiben begründete Paul VI. seine Entscheidung mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, nach dessen Lehre auch die Umgebung des Nachfolgers Petri den religiösen Charakter seiner Mission wiederzugeben habe. Wörtlich erklärte der Papst: „Unsere in der Vergangenheit hoch verdienten Militärkorps sind daher nicht mehr zeitgemäß für einen Dienst am Heiligen Stuhl, weil die Notwendigkeiten entfallen sind, für die sie damals errichtet wurden.”
Heute stellen Schweizergardisten und Gendarmen die weltliche Schutzmacht des Vatikans. Papst Franziskus setzt in sie sein Vertrauen. So hat er die Sollstärke der Schweizergarde auf 135 Mann erhöht und den Neubau ihrer Kaserne bewilligt. Und auch die Gendarmerie darf sich auf eine dringend nötige Erweiterung ihres Quartiers freuen.

Zuletzt aktualisiert: 14. September 2020
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