Wie Traufkinder zu Taufkindern wurden

16. August 2021 | von

Was das jenseitige Los der ungetauften Kinder betraf, gingen die Meinungen zwischen Kirchenvolk und Kirchen-männern zeitweise erheblich auseinander.

Inmitten der idyllischen Bergwelt des Bündner Oberlandes, etwas abseits von der Hauptstraße, die von Chur zum Lukmanierpass führt, liegt der Flecken Falera, an dem sich einst eine prähistorische Kultstätte befand.

Dies mag mit dazu beigetragen haben, dass die dortige Bevölkerung noch lange nach ihrer Missionierung allerlei fragwürdige Praktiken pflegte, angesichts derer die Grenze zwischen Glaube und Aberglaube nicht immer klar zutage trat. So war es im 18. und 19. Jahrhundert weitherum üblich, Kinder, die tot geboren oder ohne Taufe verstorben waren, zur Remigiuskirche in Falera zu bringen. Dort wurden sie auf den Marienaltar gelegt, in der Hoffnung, dass die Gottesmutter sie, wenn auch nur für eine kurze Zeit, wiederbeleben würde, sodass sie getauft werden konnten.

Kein Platz im Himmel?
Nach damaliger Auffassung nämlich blieb Ungetauften der Himmel verschlossen. Das galt auch für Totgeborene oder für Säuglinge, die ungetauft verstarben. Obwohl sie selber noch keine Sünden begangen hatten, glaubte man, dass sie aufgrund der Erbsünde der Gottesschau nicht teilhaftig würden. Gleichzeitig war ihnen auch eine kirchliche Bestattung verwehrt – es sei denn, ein mitfühlender Pfarrer setzte sich über die bestehenden Vorschriften hinweg. Diese rigorose Haltung stieß nicht nur bei den geprüften Eltern, sondern auch bei manchen Theologen auf Widerstand. Was schließlich dazu führte, dass findige Gottesgelehrte den ungetauft verstorbenen Säuglingen einen jenseitigen Platz zwischen Himmel und Hölle zuwiesen, nämlich den (wie es in der Fachsprache heißt) Limbus infantium. Darunter verstand man eine Art Vorhölle. Weniger pessimistische Gottesgelehrte bevorzugten den Ausdruck Vorhimmel. Damit meinte man einen Ort, an dem die ungetauften Säuglinge im Jenseits zwar keinen Qualen ausgesetzt waren, aber doch vom Paradies und damit von der ewigen Seligkeit ausgeschlossen blieben.

Dies brachte es mit sich, dass Eltern, denen ein Kind vor der Taufe wegstarb, alles versuchten, um dem unschuldigen Menschenwesen dennoch einen bescheidenen Platz im Himmel zu sichern. Es mag dies ein Indiz sein für den tiefen Glauben an die Wirksamkeit des Taufsakramentes. Aber nicht nur. Denn im Volk war die Vorstellung verwurzelt, ein Ungetauftes könne als „Wiedergänger“ oder als unerlöste Seele die Lebenden heimsuchen und ihnen mancherlei Schaden zufügen. Solche gespenstisch anmutenden Ansichten fanden auch Eingang in mancherlei sagenhafte Geschichten und Schauerlegenden und gehörten über Jahrhunderte hin zum verbreiteten Gedankengut.

Taufe für tote Kinder?
In der Gegend um Falera führte das zu der bereits erwähnten Praxis. Man legte das tote Kind auf den Altar, entzündete Kohlen, um den Leichnam zu erwärmen, sprach Gebete und rief die Hilfe der Heiligen und der Gottesmutter an. Anschließend ermittelte man mittels einer Daunenfeder, ob die Leiche atme, was wegen des Kerzenrauchs und der Hitze des Kohlenfeuers fast immer der Fall war. Bewegte sich die Feder, konnte der anwesende Pfarrer das scheinbar für einen Augenblick wieder zum Leben erweckte Kind taufen und in geweihter Erde begraben. Den kirchlichen Obrigkeiten war dieses Treiben natürlich nicht geheuer. Weil sich diese Gepflogenheit aber trotz mehrfacher Verbote nicht ausrotten ließ, sah sich der Bischof von Chur schließlich gezwungen, die Sache gezielt anzugehen. 1767 wurden zwei Männer und zwei Hebammen vereidigt, welche jeweils feststellen mussten, ob ein totes Kind vor dem Gnadenbild tatsächlich Lebenszeichen zeigte. Die Taufe war nur gestattet, wenn die Regungen des Kindes nicht auf äußere Einflüsse wie Berührungen oder Luftbewegungen zurückgeführt werden konnten.

Diese Art von „Totentaufe“ wurde zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert auch in dem graubündnerischen Dorf Brienz und im bernischen Büren praktiziert. Auch an niederösterreichischen Marienwallfahrtsorten wie Maria Taferl, Maria Dreieichen oder Maria Langegg, sowie in dem in der Nähe von Augsburg gelegenen Kloster Ursberg war dieser theologisch abwegige Brauch verbreitet, ebenso in Polen und Tschechien. Leider haben wir keine Zeugnisse davon, wann diese fragwürdige Praxis ein Ende fand.

Regen- statt Taufwasser?
An anderen Orten versuchte man, nicht getauften Säuglingen das Himmelstor zu öffnen, indem man sie entlang der Dachtraufe von Kirchen begrub; daher der theologische Fachausdruck „Traufkinder“. Dem zugrunde lag die Vorstellung, dass dem Regenwasser, welches mit dem Kirchendach in Berührung kam, eine besondere Wirkkraft eigne, die dem Taufwasser fast gleichkam. Irgendwie lief dieser Glaube darauf hinaus, die am Rand des Gotteshauses Begrabenen würden zumindest „ein bisschen getauft“. Wie neuere Grabungen belegen, war diese ungewöhnliche Bestattungsform lange Zeit auch in niederösterreichischen Gegenden um Gossam und Göttweig üblich. Bezüglich dieser Sache empörte sich schon die Wienerische Kirchenzeitung  im Jahr 1785 über „abergläubigste Abteilungen auf den Kirchhöfen“.

Vom Limbus ist in verschiedenen kirchlichen Dokumenten die Rede. Allerdings gehörte diese Vorstellung nie zur offiziellen Lehre. Im Katechismus der Katholischen Kirche von 1993 ist davon nichts mehr zu lesen. 2007 ließ der Vatikan verlauten, dass diese Theorie unvereinbar sei mit dem Glauben an Gottes Barmherzigkeit. Bereits vor seiner Wahl zum Papst hatte Joseph Ratzinger den Limbus als „bloße theologische Hypothese“ bezeichnet und empfohlen, sie fallen zu lassen.

Zuletzt aktualisiert: 16. August 2021
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