Messgewänder auf der Flucht

25. Juli 2022 | von

Die abenteuerliche Geschichte der Danziger Textilschätze schildert unsere Autorin – vielleicht ein Anreiz, sie selbst im Lübecker St. Annen Museum zu besichtigen.

Es ist eine Geschichte, wie sie das Leben auch in diesen Tagen schreiben könnte. Menschen werden durch den Krieg aus ihrer Heimat vertrieben. Sie fliehen in der Hoffnung auf freundliche Aufnahme in eine ferne Fremde. Manche von ihnen nutzen auf diesen Wegen zuvor geknüpfte Beziehungen und können sich des Willkommens am Zielort sicher sein. So ging es auch den evangelischen Christen der Danziger Marienkirche. Sie hatten sowohl über die Verbindungen zu ihren Mitchristen, als auch über das alte hansestädtische Netzwerk Verbindungen zur Partnerstadt Lübeck. Als die Lage in Danzig im Jahr 1944 angesichts der nahenden russischen Truppen brenzlig wurde, machten sich deshalb viele von ihnen auf, um an einem anderen Ufer der Ostsee eine neue Heimat zu finden.

Jeder, der Flucht und Vertreibung aus den Erzählungen der eigenen Familie kennt oder in den letzten Jahren Kontakt zu Geflüchteten hatte, weiß, dass man in einem solchen Fall nur das allernotwendigste mitnehmen kann. Als meine Mutter im Alter von fünf Jahren ihre Heimat Schlesien verließ, befanden sich im kleinen Holzwagen, den ihre Mutter und Großmutter zogen, nur eine kleine Auswahl dessen, was die junge Familie, die sich gerade neu eingerichtet hatte, besaß.

Wertvolle liturgische Gewänder

Und auch die Danziger Flüchtlinge hatten keinen Raum für Extras im Handgepäck. Mitgenommen wurde nur, was für das Überleben oder die Erinnerung essenziell und zugleich tragbar war. Genau darum hat die Geschichte der Danziger Textilschätze eine so besondere Bedeutung. Denn bei diesen kostbaren Gegenständen handelt es sich um Messgewänder aus dem 14. Jahrhundert. Dass sie den Christen der Danziger Marienkirche so viel bedeuteten, dass deren Pfarrer Gerhard Gülzow nicht nur eine Wagenladung mit den Gewändern ins sichere Lübeck schicken, sondern auch vielen Familien diese kostbaren Textilien mitgeben konnte, zeigt, welch immensen Wert die Gläubigen in Danzig diesen Paramenten beimaßen. Der Umfang der Danziger Textilschätze ist gewaltig. Hunderte Objekte mit feinsten Stickereien mit purem Gold und hochwertigen Seidenstoffen, die bei Gottesdiensten und Prozessionen verwendet wurden, umfasst die Sammlung, von der sich heute die Hälfte als Dauerleihgabe im Lübecker St. Annen Museum befindet.

Orientalisches Flair in Ostseeliturgien

Schon vor der erzwungenen Verbringung nach Lübeck war die Geschichte der Danziger Paramente lang und bewegt. Angefertigt wurden sie im 14./15. Jahrhundert eigens für die feierlichen Gottesdienste in der Marienkirche. Ein Messgewand zu stiften, war den begüterten Familien und Bruderschaften, in denen sich die Fernkaufleute organisierten, eine Ehre und zugleich Teil ihrer spirituellen Praxis. Die Kostbarkeit und reiche Ausstattung der Paramente zeigen wie in einem Spiegel die Vernetzung der Fernkaufleute. Denn einige der Stücke sind aus asiatischen Seiden gefertigt und mit arabischen Inschriften versehen. Ihr orientalisches Flair macht die damals schon globale Struktur der Handelswege deutlich. Werkstätten aus Lucca, Florenz, Bologna, Modena, Pisa, Venedig und Genua steuerten Stoffe für die Paramente bei. Viele von ihnen sind Lampasgewebe aus Seide mit eingewebten Gold- und Silberfäden, die für den einzigartigen Schimmer sorgen, der in der auf Konzentration bedachten Ausstellungsform im St. Annen Museum, die dem sakralen Charakter der Stücke Rechnung trägt, besonders wirkungsvoll aufscheint.

Versteckt, vergessen, ausgestellt

Dass die Gewänder von den Kaufleuten und Bruderschaften gestiftet wurden, führte dazu, dass man sie auch nach der Reformation zunächst weiterverwendete. Eine ideologisch begründete Abkehr vom Tragen der Messgewänder wäre bei den zwar großzügigen, aber zugleich sparsamen und auf ihren Ruf bedachten Hansekaufleuten nicht in Frage gekommen. Erst im 17. und 18. Jahrhundert setzte sich in den Gottesdiensten der Danziger Marienkirche langsam das Tragen protestantischer Gewänder durch. Angesichts der zahlreichen Kriege und der Plünderungen, die Danzig in diesen Jahrhunderten zu erleiden hatte, versteckte man die kostbaren Paramente zu ihrem Schutz in der Marienkirche und mauerte sie dabei zum Teil auch in Nischen ein. Dort gerieten sie in Vergessenheit und kamen erst 1791 bei Bauarbeiten wieder zum Vorschein. Im 19. Jahrhundert begannen Privatsammler und Museen, sich für die Textilschätze zu interessieren. 1938 war rund die Hälfte der ursprünglichen Paramentensammlung verkauft. Sie zu retten, sah Pfarrer Gülzow als seine Aufgabe an und er hatte Erfolg. Die 541 verbliebenen Stücke wurden, sofern sie nicht Teil der Wagenladung waren, an die fliehenden Familien verteilt. Als die sich samt Pfarrer in Lübeck wieder trafen, sammelten sie die wertvollen Gewänder und übergaben sie zunächst der Lübecker Marienkirche, wo sie ab 1964 auch ausgestellt wurden. Aus konservatorischen Gründen entschied man sich 1990 aber, die Textilschätze als Dauerleihgabe dem St. Annen-Museum zur Verfügung zu stellen. Dort werden sie seit 2019 in wechselnder Auswahl in einem eigens dafür eingerichteten Raum der Dauerausstellung präsentiert. 200 nach Thüringen in das dortige Pfarramt gelangte Objekte, die 1949 beschlagnahmt und nach Danzig zurückgebracht wurden, befinden sich seitdem im Bestand des Danziger Nationalmuseums.

In der Verbindung der Hansestädte Danzig und Lübeck wird dieses geistlich-künstlerische Netzwerk übrigens nicht nur durch die Danziger Paramentenschätze, sondern auch durch das von Pfarrer Gerhard Gülzow auf dem Hamburger Glockenfriedhof geborgene Glockenspiel der Danziger Marienkirche repräsentiert, das in der Lübecker Marienkirche eine neue Heimat fand.

Zuletzt aktualisiert: 25. Juli 2022
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