An Russland glauben
Immer wieder hat unsere Autorin Beatriz Lauenroth von ihrem Leben in Russland berichtet. Ab den 90er Jahren lebte sie dort fast zwei Jahrzehnte. Sie erzählt eine „Geschichte von Mystik und Gewalt“ – auch im Blick auf den Krieg in der Ukraine.
Jeder Russe kennt das Zitat „Умом Россию не понять“: „Verstehen kann man Russland nicht, und auch nicht fassen mit dem Verstand. Es hat sein eigenes Gesicht. Nur glauben kann man an das Land.“ So schrieb der russische Schriftsteller und Dichter Fjodor Iwanowitsch Tjutschew im Jahr 1886. Er bringt meine Erfahrungen und meine Einstellung zu diesem Land auch 140 Jahre später noch auf den Punkt. Ja, an Russland muss man glauben! Und vielleicht gerade heute noch mehr als je zuvor.
Von West nach Ost
Als ich 1991 nach Moskau ging, betrat ich ein Land, in dem „glasnost“ (Transparenz) und „perestroika“ (Umbau) die wohl meist gebrauchten Worte waren. Aber auch aufkeimende Vorbehalte und Widerstände gegenüber dem Aufbruch in eine neue, ungewisse Zeit: „Gorbatschow hat unser Land an den Westen verkauft.“ Ich betrat ein Land, das mir sehr deutlich zeigte: Es gibt sehr viel mehr als meine westeuropäischen Einschätzungen und Erfahrungen.
Während Westeuropa im Blick auf Liberalität und Selbstbestimmung an seiner vermeintlichen Erfolgsgeschichte bruchlos weiterschreibt, ringt Osteuropa politisch wie kulturell noch um seine Identität und Anerkennung in dieser globalen Ordnung. Die Länder der ehemaligen Sowjetunion kämpfen vor allem um nationale Identität und territoriale Souveränität. Der „Westen“ propagiert eine multireligiöse und multikulturelle Gesellschaft, während der „Osten“ in vielfältigen und hochexplosiven ethnischen Konflikten steckt.
Wenn ich an Russland denke, denke ich an Leidenschaftlichkeit – in jeder Hinsicht: als ausgeprägter Nationalstolz und gleichzeitig als eine extreme Sensibilität für alle Bereiche einer immer zutiefst christlich grundierten Kultur.
Vom Beobachter zum „Mit-Spieler“
Nach einem Leben im Wohlstand und in sozialer Sicherheit wohnte ich 1991 anfänglich mit meiner Gemeinschaft, dem Fokolar, in einem Moskauer Arbeiterviertel in einer Wohnung mit dunklem Treppenhaus und denkbar schmucklosem Mobiliar. Davon nahmen wir allerdings nicht viel wahr, denn: Sehr viel stärker war das Leben mit den Menschen, denen wir – unter anderem im 3. Stock der Ulitza Volocaevskaja 56 – begegneten.
Irgendwie schien es mir damals, als ob ich von den Zuschauerrängen des Westens in die Arena des Ostens hinabgestiegen sei und so vom oft besserwisserischen Beobachter – der zu allem eine Meinung und oft von nichts wirkliche Kenntnis hatte – zum Akteur, zur „Mit-Spielerin“ wurde. Aus der Geschichte kannte ich die jahrhundertelangen Erniedrigungen, denen das Volk durch die despotischen Zaren oder durch die „unfehlbare“ Kommunistische Partei zu Sowjetzeiten ausgesetzt war, und wurde nun mit den Konsequenzen konfrontiert: Verschlossenheit und Abgrenzung vor allem dem Westen gegenüber. „Man darf den russischen Bären nicht reizen. Dann bleibt er friedlich und das heißt: in seiner Höhle!“ So erklärte es mir einer meiner Freunde.
Und ich entdeckte eine große Leidensfähigkeit. Der Historiker und Theologe Ivan Kologrivow nennt es in seinem Buch „Das andere Russland“ den Hang der „russischen Seele“ zu Entsagung und zur Loslösung „von der Welt“. Ich habe dies unter anderem im Kleinen hautnah erleben dürfen.
Meine Erfahrung
Ich lernte etwa, geduldig mit vielen Menschen stundenlang in einer Warteschlange für das tägliche Brot zu stehen, und musste lernen, die Enttäuschung zu verarbeiten, wenn ich endlich dran war, zu hören: „Ausverkauft!“. Ich lernte, mein Gehalt nicht aufzusparen, sondern sofort auszugeben, da am Tag darauf die Küchenstühle oder das Waschmittel vielleicht nicht mehr auffindbar waren. Ich lernte, dass das Jetzt zählt. Morgen werden wir die anderen Probleme lösen. Und für jedes Problem gibt es verschiedene kreative Einfallswinkel: Hilfe von Freunden, beten, auch einmal ein kleines Geschenk zustecken und viel improvisieren.
Und ich musste lernen: bei einem oft gehörten, sehr entschiedenen „ich will nicht“ (ja ne chocu) die Freiheit des anderen zu respektieren und nicht weiter zu fragen.
Hinter dem oft aufbrausenden Charakter der Menschen entdeckte ich aber auch eine tiefe Religiosität, fast eine Volksmystik, die sich trotz der eigenen Schwächen immer wieder zugesteht: „Wir sind das Volk Gottes.“ Auf diesem Hintergrund ist auch mein eigener Glaube gewachsen. In den mehrstündigen Liturgien der russisch-orthodoxen Kirche habe ich Gott oft so nah gefühlt wie nie zuvor. In der Tretjakow-Gemäldegalerie ließ ich mich immer wieder in die Geschichte und in die so widersprüchliche Mentalität der Russen hineinkatapultieren: in die wechselvolle, spannungsreiche Geschichte von Gewalt und Harmonie.
Vielleicht hat mich Russland eine Form des Dialogs gelehrt, bei der es vor allem um das Zuhören geht, um das in die „Haut des Anderen“ Schlüpfen. So sind Freundschaften entstanden, die an Intensität auch nach 14 Jahren nicht nachlassen. Und vielleicht habe ich auch dadurch Raum gefunden, einige meiner (verborgenen) Talente entwickeln zu können: Empathie und Tatkraft.
Das „Neue Russland“
Fast 20 Jahre habe ich in Russland gelebt. Wenn ich zurückblicke, denke ich oft: „Es waren meine bisher glücklichsten Jahre.“ Warum?
Weil ich etwas gesehen habe, in aller bruchstückhaften Vorläufigkeit schauen durfte. Ich habe etwas von der Verheißung für dieses Land gesehen: in meinen Freundschaften mit vielen Russinnen und Russen, bei meinen Besuchen und Begegnungen in Sankt Petersburg, Krasnojarsk, Tscheljabinsk und Moskau, in der Erlöserkathedrale ebenso wie an der Lomonossow-Universität, in der Gemeinde des in seiner ökumenischen Offenheit reformfreudigen Geistlichen Alexander Men. Ich habe die Verheißung für jenes sozusagen Neue Russland gesehen, das auf der Grundlage des Evangeliums wieder zu den Wurzeln seiner Kultur und Geschichte, seinem ebenso stolzen wie bescheidenen Selbstverständnis findet. Das Russland, das in kleinen Gemeinschaften das Leben aus dem Wort Gottes neu entdeckt und so auf vielstimmige Weise wieder zur Sprache kommt und entsprechende Resonanz findet; dabei zugleich aber auch hörbereit und offen bleibt für andere, offen für Europa und die Welt. Ja, das unter diesem Aspekt betrachtete Neue Russland ist eine souveräne Gemeinschaft von Gemeinschaften, von kleinen „Hauskirchen“, die sich – übers ganze Land verstreut, in unterschiedlichste Milieus und Lebenswelten hinein ausgesät – und sich nicht von ihren Politikern oder einer Nomenklatura vereinnahmen, oder vielleicht sogar in „Geiselhaft“ nehmen lässt.
Diesem Russland bin ich begegnet. Mit seinen Männern und Frauen, Alten und Jungen, Eltern und ihren Kindern habe ich das Leben geteilt, mit diesem Russland bin und bleibe ich verbunden.
Gerade auch jetzt, in diesen Tagen und Wochen, da ein ganzes Land mit den Taten eines einzelnen Akteurs, der doch immer nur in seinem Namen handelt, völlig isoliert zu werden droht. Und dieses Neue Russland weiß sich verbunden mit den Menschen der Ukraine, ihrem Streben nach Selbstbestimmung und Freiheit, ohne die es keinen Frieden geben kann.
Ukraine 2022
Die Erfahrung in Russland lässt mich nicht los. Sie hat mich für immer geprägt und begleitet mich auch heute. Im Zentrum der Fokolarbewegung in den Niederlanden haben wir 42 Menschen aus der Ukraine aufgenommen. Wir sprechen miteinander Russisch, und sie sind dankbar dafür, ihre tragischen Erlebnisse in ihrer Sprache teilen zu können.
Gestern treffe ich Mascha auf dem Flur. Sie hat gerade erfahren, dass einer ihrer Söhne erschossen wurde. Oksana, Mutter von zwei kleinen Kindern, weint mit ihr. Letzte Woche ist ihr Mann an der Front gefallen. Ich weiß nicht, was ich tun soll! Ich gehe zu ihnen und halte sie ganz fest, die eine rechts und die andere links. Ich scheine den Schrei von Jesus am Kreuz in meinen Armen zu halten. Wer wird diese meine Schwestern trösten? Dann erinnere ich die Worte des Propheten Jesaja und möchte mit ihm wiederholen: Herr, sende mich. Auch wenn ich schwach bin: ich möchte deine Arme sein.
Und ich weiß: Gott wird trösten. Der Gott unter uns weint nun mit uns allen, weil der Mensch die ihm geschenkte Freiheit missbraucht. Aber er wird eines Tages die Tränen dieser Menschen – und auch die unseren – trocknen.