Die Liebe siegt über das Böse

10. Oktober 2022 | von

Es gibt die Art von Liebe, die spontan und uneigennützig wie ein Spiegel der Liebe Gottes ist. Und diese Liebe kann Wunder wirken, vor allem dann, wenn sie das Herz von Menschen berührt, die Fehler gemacht haben. So geschah es einem Räuber, der in den Worten des heiligen Antonius die Liebe erkannt hatte…

Seit vielen Jahren schon arbeitet Sr. Claudia in einem Verein, der sich um missbrauchte Frauen kümmert. Zusammen mit ihren Mitschwestern hatte sie in ihrer Stadt ein kleines Zentrum für diese Mädchen und Frauen gegründet. Jeden Tag kommen sie, meistens geschickt von den Einrichtungen, die gegenüber ihrem stillen Schmerz ohnmächtig sind. Deshalb hat die Schule, in der ich unterrichte, Sr. Claudia eingeladen, um gemeinsam mit anderen Menschen, die sich in unterschiedlicher Form für die Rechte der Schwächsten einsetzen, in der großen Schulaula von ihrer Arbeit zu berichten. Ihre Stimme jedoch war es, die sich unter allen anderen besonders hervorgehoben hat – und das nicht etwa, weil sie lauter als die anderen gesprochen hatte…

Dilemma zwischen Überzeugung und Hilfe

Sr. Claudia erzählte die Geschichten der Frauen, denen sie begegnet: Sie berichtete von Gewalt und psychischer Manipulation, die in vielen Fällen das Leben der Frauen umhüllen wie ein Spinnennetz. Aber sie berichtete auch von dem Weg aus diesen Situationen heraus, den die Frauen dank der Hilfe der Ordensschwestern gehen können. Die fast 300 Schülerinnen und Schüler hörten ihr sehr aufmerksam zu. Es herrschte eine interessierte, aufmerksame Stille im Raum. Bei der folgenden Fragerunde meldete sich eine Schülerin zu Wort: „Ich möchte Sie etwas fragen: Wenn eines dieser Mädchen Sie bitten würde, es zu einem Schwangerschaftsabbruch zu begleiten, was würden Sie dann tun?“ Die Schwester lächelte sie an und erwiderte: „So etwas ist mir schon passiert und ich habe das getan, was ich in diesem Moment von meinem Gewissen her als richtig empfunden habe. Es war ein Mädchen, das besonders brutale Gewalt erfahren hatte, eines Abends nach einem Discobesuch. Sie wurde schwanger und konnte es nicht akzeptieren, diese Schwangerschaft auszutragen, die nicht nur alle ihre Projekte durcheinanderbrachte, sondern – so das Mädchen – ihr es auch unmöglich machen würde, das Geschehene zu überwinden. Sie konnte es sich nicht vorstellen, sich um ein Kind zu kümmern oder zur Welt zu bringen, das diesem schrecklichen Mann ja sicher in irgendeiner Form ähneln würde. Ich habe alles versucht, um sie davon zu überzeugen, dass dieses kleine Leben auf jeden Fall gerettet werden müsse und sie das Kind nach der Geburt zur Adoption geben könne, wenn sie es sich nicht zutrauen würde, sich darum zu kümmern. Sie aber weinte immerzu und lehnte jegliche Lösung ab, auch eine Adoption. Da musste ich also in meinem Inneren eine sehr schwierige Entscheidung treffen: Mein Glaube gebot mir, dieses unschuldige Leben zu schützen, aber gleichzeitig musste ich mich um das verzweifelte, hilflose Mädchen kümmern, das ich auf keinen Fall alleine lassen konnte. Ich sagte ihr klar und deutlich, dass ich ihre Entscheidung nicht teilen könnte, aber gleichzeitig auch ihre Freiheit in der Entscheidung respektieren würde. Also ging ich mit ihr ins Krankenhaus und versuchte, ihr beizustehen, da auch ihre sehr traditionsbewusste Familie sie völlig sich selbst überlassen hatte. Als ich während des Eingriffs im Flur wartete, litt ich fürchterlich für dieses kleine Leben und betete inständig für das Kind, aber auch für seine Mutter. Nach dem Eingriff verschwand das Mädchen völlig aus meinem Blick.

Jesus kennenlernen

Erst ein paar Monate später kam sie vorbei und sagte, dass sie mich sprechen wolle. Sie sagte mir, dass sie nicht verstehen könne, welche Art von Liebe mich dazu gebracht hatte, sie zu dem Schwangerschaftsabbruch zu begleiten, wo das doch deutlich gegen meine Überzeugung und mein Gewissen sprechen würde. Sie sagte auch, dass sie diese Liebe gerne besser kennenlernen würde, und wenn „mein“ Evangelium die Menschen so frei machen würde, um jeden Preis den anderen zu lieben, dann wolle sie sich diesem Jesus annähern und ihn vielleicht sogar in ihr Leben aufnehmen. Sie erklärte mir, dass sie oft an das Kind denken würde, das sie so überzeugt abgelehnt hatte und fragte sich, ob es mit „meinem“ Jesus in ihrem Leben vielleicht leichter gewesen wäre, das Kind anzunehmen und jetzt vielleicht in den Armen zu halten. Sie hatte mit viel Schmerz und großem Bedauern verstanden, dass sie möglicherweise einen riesigen Fehler begangen hatte, und es war ihr wichtig, vor allem mit mir darüber zu sprechen, der Einzigen, die ihr nahe war – auch wenn ich damals wusste, dass sie den größten Fehler ihres Lebens begehen würde. Ich erinnere mich, dass ich erst einmal gar nichts antwortete, sondern sie nur umarmte und ihr den Vorschlag machte, uns gemeinsam ein wenig in die kleine Kapelle unseres Zentrums, wo wir auch das Allerheiligste aufbewahren, zu setzen. Ich sagte ihr, dass sie dort direkt Gott erzählen könne, was sie in sich für ihr ungeborenes Kind empfinde und auch den Schmerz der Vergewaltigung und des Schwangerschaftsabbruchs. Ich würde auch jetzt bei ihr bleiben. Wir setzten uns nebeneinander, verbunden und arm, genauso arm und verbunden wie wir angesichts ihrer Entscheidung im Vorraum in der Klinik waren. Damals, in diesem schrecklichen Moment, musste meine Liebe zu ihr stark aus der Liebe, die Jesus für mich hat, schöpfen, aber auch aus der Zartheit ihres Gesichtes eines erwachsenen und doch hilflosen Mädchens, das mein Herz so angerührt hat.“ Schwester Claudia beendet ihre Erzählung und sagte zu der Schülerin, die ihr die Frage gestellt hatte: „Weißt du, auch wenn du in der 10. Reihe sitzt, kann ich dein Gesicht erkennen und ich sehe, dass du dieselbe Zartheit hast wie dieses andere Mädchen, deshalb glaube ich, dass du mich verstehst.“

Bedingungslose Liebe als Türöffner

Das Mädchen wurde rot, sie sagte nichts mehr, aber flüsterte mit ihren Freundinnen, um ihre Verlegenheit zu überspielen. Nach einiger Zeit sagte sie im Unterricht zu mir: „Wissen Sie, die Antwort dieser Nonne hat mich tief berührt. Ich muss zugeben, dass meine Frage damals als Provokation gemeint war, aber Sr. Claudia hat mir gezeigt, dass nur eine Liebe, die niemals aufgibt, auch dann nicht, wenn der andere einen Fehler macht, es wert ist, gelebt zu werden. Es war gut, dass das Mädchen aus der Erzählung zurückgekommen ist, denn wenn man einem so wunderbaren Menschen begegnet, darf man ihn sich nicht entkommen lassen!“

Die Klasse schien wie schwebend, so als erwarte sie eine definitive Antwort von mir auf eine Sache, die nicht so einfach abgeschlossen werden konnte. Ich entgegnete ihr ruhig: „Danke Giada, in gewisser Weise hast du so den Kreis geschlossen. Du hast uns klar gemacht, wie sehr Worte und Gesten, die von der Liebe Gottes inspiriert wurden, Herzen bekehren können, ohne viel Lärm zu machen. Einmal habe ich in einem Buch über das Leben des heiligen Antonius gelesen, dass eine Gruppe von Banditen, die neugierig waren, ob Antonius wirklich so heilig war, wie man sagte, einer seiner Predigten zuhörte. Einer von ihnen wurde von Antonius‘ Worten so angerührt, dass er sein Leben änderte, nicht mehr stahl und tötete und ein völlig neuer Mensch wurde. Ich glaube nicht, dass es dem heiligen Antonius an diesem Tag bewusst war, was für einen Sturm der Liebe seine Worte im Herzen dieses Mannes ausgelöst hatten. Er war einfach nur er selbst gewesen. Auch Sr. Claudia hat dieses Mädchen mit ihrem ganzen Wesen geliebt, weil sie wusste, dass sie sie nicht alleine lassen durfte, auch wenn sie ihre Entscheidung nicht gutheißen konnte. Und das hat dieser jungen Frau einen konkreten Anhaltspunkt geboten, eine außerordentliche Gelegenheit, Gott auf dem einzigen Weg zu begegnen, den sie in jenem Moment sah: das glaubwürdige Zeugnis der bedingungslosen, aber auch schwierigen Liebe von Sr. Claudia.“

Lieber hl. Antonius, ich möchte dir ein großes Danke sagen, weil du mir immer beistehst und hilfst. Ich habe sieben Enkelkinder, und es ist immer alles gut gegangen. Bitte bleib uns noch lange treu.

G. S., Österreich

Zuletzt aktualisiert: 10. Oktober 2022
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