Weisheitslehren in der Bibel
Wer weiß heute noch, dass eine ganz Menge von Sprichwörtern und geflügelten Worten auf das Buch der Bücher zurückgehen?
Mein jüngster Bruder heißt Othmar. Wenn der Vater uns Bekannten vorstellte, sagte er: Das ist der Benjamin. Vor gut einem halben Jahrhundert wussten die Menschen noch, was damit gemeint war. Benjamin hieß der Jüngste von den zwölf Söhnen des Patriarchen Jakob.
In unserer Familie waren wir nur fünf Kinder. Da herrschte gelegentlich schon mal das reinste Tohuwabohu – ein Ausdruck, der sich bereits ganz am Anfang der Bibel findet und der heute gelegentlich als Redewendung herhalten muss, wenn alles „wüst und wirr“ erscheint. Wüst und wirr sah es bei uns zu Hause gelegentlich schon aus, wenn wir Kinder herumtollten. Dann hieß es: „Aufhören jetzt! – Wenn Spaß, dann Spaß und wenn Ruhe, dann Ruhe; alles zu seiner Zeit.“ Vermutlich ahnte die Mutter nicht, dass sie damit die Bibel zitierte (Koh 3,1). Und dann mischte sich auch noch der Vater ein: „Ordnung ist das A und O.“ Womit er, wohl unwissentlich, ein Wort aus der Geheimen Offenbarung des Johannes variierte. Die ist, wie das ganze Neue Testament, in griechischer Sprache verfasst. Der letzte Buchstabe dieses Alphabets ist das Omega (gesprochen als schönes langes Ooo). Dort lässt der Verfasser Christus sagen: „Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende.“ (Off 22,13) Will sagen, dass Christus alles umfasst und deshalb über allem steht – über allem von A bis Z oder eben von A bis Ooo.
Sprichwörter-Rätsel
Bevor es weitergeht, machen wir jetzt ein kleines Experiment in Sachen Bibelkenntnisse. Frage: Wie viele der zehn folgenden Sentenzen finden sich in der Bibel? Die Lösung erfolgt am Schluss dieses Beitrags – aber jetzt bitte nicht schummeln!
1) Das eine tun ohne das andere zu lassen.
2) Wenn zwei zusammen schlafen, wärmt einer den andern.
3) Müßiggang ist aller Laster Anfang.
4) Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.
5) Alles Gute kommt von oben.
6) Konkurs? Da hat mal wieder einer auf Sand gebaut.
7) Ehre wem Ehre gebührt.
8) Das ist wie Perlen vor die Säue werfen.
9) Sie sind ein Herz und eine Seele.
10) Es gibt nichts Neues unter der Sonne.
Heute lassen die Bibelkenntnisse auch unter kirchenaktiven Gläubigen oft zu wünschen übrig. Dennoch ist das Buch der Bücher, wenn auch in verkappter Form, allgegenwärtig, zumindest was unsere Sprache betrifft. Denn dieses strotzt nachgerade von Redewendungen, welche einen biblischen Ursprung haben.
Biblische Hintergründe
Dass man einem Ochsen zum Dreschen das Maul nicht verbinden – will sagen eine Leistung gerecht entlohnen – soll, war bereits zu Zeiten des Mose bekannt (Dtn 25,4). Dass der Arbeiter seines Lohnes wert ist, hat der Evangelist Lukas moniert, lange bevor jemand auf den Gedanken verfiel, Gewerkschaften zu gründen (Lk 10, 7). Wer sich in der Astronomie oder am Börsenmarkt oder in der Schmetterlingskunde überhaupt nicht auskennt, mag wohl sagen: Für mich ist das ein Buch mit sieben Siegeln – eine Redewendung, die sich in der Geheimen Offenbarung des Johannes findet (Off 5,1).
Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. Der Satz wird Martin Luther zugeschrieben; aber der übersetzt damit nur ein Scheltwort, das Jesus an seine Gegner richtet: „Wie könnt ihr Gutes reden, wenn ihr böse seid? Denn wovon das Herz überfließt, davon spricht der Mund.“ (Mt 12,34). Wer dolmetschen will – so kommentiert Luther dieses von ihm in eine griffige Wendung gebrachte Bibelwort – muss zuerst einmal dem Volk aufs Maul schauen.
Wer dem Volk aufs Maul schaut und dabei die Ohren spitzt, wird immer wieder Sprichwörtliches vernehmen, dem ein biblischer Hintergrund eignet.
Heute wissen vermutlich nur noch wenige, wie viele unserer Lebensweisheiten der Bibel entstammen. Und dass diese zwei ganze Bücher mit gesammelten Sprichwörtern enthält, nämlich das Buch der Sprüche und das Buch Jesus Sirach. Beispiele? „Besser arm und gesund als reich und krank.“ (Sir 30,14) „Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.“ (Spr 26,27) „Hochmut kommt vor dem Fall.“ (Spr 16,18). „Des Menschen Herz plant seinen Weg, doch der Herr lenkt seinen Schritt.“ (Spr 16,9) – auf gut Deutsch: Der Mensch denkt und Gott lenkt.
Schriftzitate im Alltag
Das alles zeigt: Auch die fortschreitende Säkularisierung vermag nicht zu verhindern, dass die Menschen heute biblische Redewendungen im Mund führen. Fast schon amüsant hört es sich an, wenn eingefleischte Atheisten und überzeugte Agnostikerinnen ausgerechnet die Bibel zitieren – etwa wenn sie sich nicht in einem See, sondern in einer augenblicklichen Notlage befinden und dann sagen, dass ihnen das Wasser bis zum Hals steht (Ps 69,2 und Jona 2,6)! Oder wenn sie ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen (Mt 5,15) und dennoch keinen Anklang finden und anschließend behaupten, dass ein Prophet nichts gelte in seiner Heimat oder in seinem Vaterland (Mt 13,57).
Wie nützlich Bibelkenntnisse sein können, habe ich als Zehnjähriger erstmals erfahren. Als ich einmal nach dem Essen den Abwasch besorgen sollte, habe ich auf die Aufforderung der Mutter mit einem einzigen kurzen Satz reagiert. Den hatte ich am Sonntag zuvor in der Kirche gehört, als die Geschichte von der Hochzeit zu Kana vorgelesen wurde: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen!“ Das darauf folgende Gelächter meiner Eltern klingt mir noch immer in den Ohren. Dann sprach mein Vater ein Wort, das im Nachhinein fast prophetischen Charakter hat: „Wenn du so weitermachst, bringst du es im Leben zu nichts. Bestenfalls wird‘s gerade noch zum Pfarrer reichen.“ Mit meinen Bibelkenntnissen habe ich es damals immerhin geschafft, dass meine Mutter das Geschirr spülte. Vielleicht aus Protest gegen die antiklerikale Bemerkung des Vaters?
Übrigens: Alle zehn oben erwähnten Redewendungen finden sich (teilweise nur sinngemäß) in der Bibel. 1: Mt 23,23; 2: Koh 4,11; 3: Sir 33,29; 4: 2 Thess 3,10; 5: Jak 1,17; 6: Mt 7,26; 7: Röm 13,7; 8: Mt 7,6; 9: Apg 4,32; 10: Koh 1,9.