Auge in Auge mit David
Alle zwei Monate steigt Eleonora Pucci auf ein Gerüst und staubt mit Präzision und Hingabe ihren treuesten und teuersten Freund ab – den David von Michelangelo. Gemeinsam mit einer Gruppe von Journalisten durften wir für den Sendboten ihre Arbeit exklusiv begleiten und beobachten.
Jeden zweiten Monat können sie sich in die Augen schauen. Immer montags, immer dann, wenn nur wenige Menschen im Museum sind. Da entwickelt sich zwischen den beiden ein stiller, aufmerksamer Dialog. Denn montags, wenn das Museum für Publikum geschlossen ist, steigt Eleonora Pucci auf ein mobiles, extra für diesen Zweck errichtetes Gerüst und widmet sich mit Geduld und Präzision dem Abstauben ihres teuersten Freundes, des von Michelangelo geschaffenen David. Diese Aktion wiederholt sich regelmäßig, um zu vermeiden, dass der Staub auf lange Sicht den Marmor dieses Meisterwerkes angreift und beschädigt. Eleonora vertraut uns an: „Mich um den David kümmern zu dürfen, ist eine enorme Verantwortung, aber auch ein großes Privileg.“ Eleonora Pucci, 39 Jahre alt, ist die offizielle Restauratorin der Galleria dell’Accademia von Florenz. Ihre Aufgabe ist es, sich um die Kunstwerke des bekannten Museums zu kümmern, also auch um das außergewöhnliche Meisterwerk der Renaissance, das nicht einfach nur einer der vielen Kunstschätze ist, die das Museum aufbewahrt, sondern ein Symbol für Italien, ein Emblem der Schönheit und der Harmonie, das in der ganzen Welt bewundert wird.
Eleonora Pucci ist Absolventin des Opificio delle Pietre dure in Florenz, dem staatlichen Zentrum für Restaurierung und Konservierung von Kulturgütern: Sie hat auch einen Abschluss in Geschichte und Schutz des künstlerischen Erbes und einen zweiten Master-Abschluss in Management des kulturellen Erbes. „Ich konnte mich in diesem Bereich weiterbilden, indem ich in ganz Italien an verschiedenen Restaurierungsprojekten teilgenommen habe, zum Beispiel in Modena an der Restaurierung des Torresani-Saals des Ghirlandina-Turms, der zum Unesco-Kulturerbe gehört“, erzählt sie.
Ein neues Zuhause nach 150 Jahren
Mit einer Höhe von 5 Metern und 17 Zentimetern und einem Gewicht von mehr als fünfeinhalb Tonnen ist der David ein monumentales bildhauerisches Kunststück, das Michelangelo 1501 im Alter von 26 Jahren in Angriff nahm. Die Domwerkstatt (Opera del Duomo) in Florenz hatte ihm einen „schwierigen“ Marmorblock anvertraut, aus dem er die Figur des unerschrockenen und gerechten Hirten formen sollte, der mit einer Steinschleuder – und vor allem mit der Kraft des Glaubens – den Riesen Goliath besiegte und später König von Israel wurde. Andere Künstler hatten diesen Auftrag wegen der technischen Komplexität abgelehnt, Michelangelo hingegen nahm die Herausforderung an. Der David wurde 1504 fertiggestellt, und statt auf den Strebepfeilern der Kathedrale Santa Maria del Fiore wurde er auf der Piazza della Signoria in der Nähe des Palazzo Vecchio im Herzen der Stadt aufgestellt, um die politischen Tugenden der nach dem Sturz von Piero II. de‘ Medici gegründeten Florentiner Republik zu symbolisieren. „Dieses Werk hat die Wirkung aller modernen und antiken Statuen übertroffen“, verherrlicht es Giorgio Vasari, Maler, Architekt und vor allem berühmter Kunstkritiker aus dem 16. Jahrhundert.
Allerdings haben Wetter und Witterung den Marmor im Laufe der Zeit allmählich „gezeichnet“. Im Jahr 1873, also vor genau 150 Jahren, wurde daher beschlossen, den David in Sicherheit zu bringen und eine Kopie auf der Piazza aufzustellen: Die Galleria dell‘Accademia wurde zum neuen „Zuhause“ der Skulptur bestimmt, es wurde extra ein spezieller Raum konzipiert, „fast wie die Apsis einer Basilika, ein weltlicher Tempel, der von einem Glasgewölbe bedeckt ist“, erklärt Cecilie Hollberg, seit 2015 und bis Ende vergangenen Jahres Direktorin der Galerie. Um die Statue zu transportieren, wurde ein gepolsterter Wagen gebaut, der sich auf Schienen bewegte: Eine Mauer musste eingerissen werden, um den David in die Accademia zu bringen, und das Werk blieb dort neun Jahre lang, bis die Arbeiten an seiner Tribüne abgeschlossen waren. Heute ist die Galleria dell‘Accademia eines der beliebtesten Museen Italiens (an zweiter Stelle nach den Uffizien, die nicht weit entfernt liegen): Im Jahr 2022 wurden anderthalb Millionen Besucher gezählt, und im Jahr 2023 ist ein weiterer Anstieg um 20% zu verzeichnen. Täglich betreten bis zu 10.000 Menschen diese Säle.
„Gerade die große Anzahl der Besucher in Verbindung mit der Luftbewegung macht eine ständige Überwachung der Werke erforderlich“, fügt Eleonora Pucci, die Expertin für Steinrestaurierung, hinzu. Staub, atmosphärische Partikel und Fasern aus der Kleidung lagern sich auf den Skulpturen, aber auch auf den Rahmen der Gemälde und den architektonischen Reliefs in den Räumen ab. „Bis vor ein paar Jahren musste alle eineinhalb Monate abgestaubt werden“, sagt Cecilie Hollberg. Durch die Modernisierung der Lüftungsanlagen und andere Maßnahmen konnte das Intervall auf zwei Monate verlängert werden. Ein drahtloses Sensornetz ermöglicht zudem eine ständige Überwachung des Mikroklimas und der Umwelteinflüsse.
Der „Ritus“ des Abstaubens
Dem Staubwischen beizuwohnen, ist aufregend und eindrucksvoll: Es wirkt fast, als würde man an einem Ritual teilnehmen. Für die Behandlung benutzt Eleonora Pucci eine Reihe von Bürsten mit synthetischen Borsten, die den Staub anziehen können, und einen kleinen tragbaren Staubsauger. Manchmal verwendet Frau Pucci auch Staubwedel aus synthetischen Stoffen, die die Partikel einfangen. Es werden keine Flüssigkeiten verwendet. „Man muss sehr behutsam vorgehen, damit sich keine Stofffetzen auf dem Marmor verfangen“, erklärt die Expertin. Fast immer birgt das Abstauben einige Überraschungen: „Auf dem Kopf des David finde ich meist eine kleine Spinne, die sich in den Locken eingenistet hat und es sich dort gemütlich macht,“ schmunzelt die Restauratorin, „ich entferne sie, obwohl ich weiß, dass sie wiederkommen wird“. Bei den verschiedenen Arbeitsphasen, vom Kopf bis zu den Füßen des Kolosses, fotografiert Eleonora Pucci oft Details der Statue: „Auch durch die Bilder können wir den ‚Gesundheitszustand‘ der Skulptur überwachen, um eine Art ‚Krankenakte‘ zu aktualisieren“, sagt die Expertin: „Wie auch aus den Überlieferungen hervorgeht, war der Marmor des David schon ursprünglich etwas brüchig. Die empfindlichsten Stellen sind die Schultern und die Oberschenkel: Das ist die Folge der langen Zeit, die die Statue im Freien verbracht hat.“
„Die Pflege eines Meisterwerks ist nicht nur eine mechanische Geste, eine einfache Reinigung. Es bedeutet auch, dass man Respekt vor dem hat, was dieses Meisterwerk darstellt. Im David lesen wir tiefe religiöse, historische und sogar politische Bedeutungen: alles Werte, die die Würde des Werks ausmachen“, betont Cecilie Hollberg. „Gerade seine Nacktheit, die zu seiner Entstehungszeit einigen unglaublich skandalös erschien, ist das Symbol für die Unschuld eines mutigen jungen Mannes.“ Das ist auch der Grund, warum die Galleria dell‘Accademia in den letzten Jahren einen juristischen Kampf geführt hat, um Davids Bild vor denen zu schützen, die es hemmungslos ausnutzen. Kürzlich hat das Gericht von Florenz das „Image-Recht“ von Werken des kulturellen Erbes anerkannt: Dies ist das erste Urteil in der Sache, das unser Rechtssystem an die Spitze des Schutzes des kulturellen Erbes stellt: Wir verteidigen nicht nur die Statue als materielles Objekt, sondern auch ihre Bedeutung, die nicht entwertet werden darf, um für Maschinengewehre, Schinken oder Unterwäsche zu werben“, so die ehemalige Direktorin weiter.
Während sie den David abstaubt und fast streichelt, spricht Eleonora Pucci manchmal mit ihm: „Ja, es entsteht eine starke Bindung zu den Werken, als gehörten wir zur selben Familie“, verrät sie. „Ich fände es toll, wenn er wirklich sprechen könnte, um zu sagen, was er von all den Menschen denkt, die ihn bestaunen.“ In der Tat zieht der David Menschenmassen aus der ganzen Welt an, aber einige beschränken sich auf ein schnelles Selfie mit diesem herausragenden Meisterwerk. Fühlt sich der David von den Menschen, die zu ihm kommen, wirklich verstanden? Werden sie seine Geschichte, seine Botschaft in der Tiefe erkennen? Am Ende des Abstaubtages kommt Eleonora vom Gerüst herunter, das in der Nacht abgebaut wird: Am nächsten Tag wird das Museum wieder regulär geöffnet, der David wird wieder ein Objekt der Bewunderung und der Begierde sein. „Zwei Zentimeter von seinen Augen entfernt zu sein, ist ein unbeschreibliches Gefühl“, sagt die Restauratorin abschließend, „und für mich ist es die schönste Arbeit der Welt.