Im Bann des Übervaters
Vor 100 Jahren, am 3. Juni 1924, starb ein Dichter, dem wir den Begriff „kafkaesk“ verdanken – und eine Reihe von Werken, die zur Weltliteratur gehören.
Mit den Worten „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch...“ beginnt Die Verwandlung, Franz Kafkas wohl rätselhafteste Erzählung. Jetzt, da er sich in einen riesigen Käfer verwandelt sieht, sperrt der Vater ihn in dessen Zimmer ein. Eines Tages bewirft er ihn mit Äpfeln und verletzt ihn lebensgefährlich, sodass er bald stirbt.
Wie kann man sich eine solche Geschichte ausdenken? Nein, sie ist nicht auf eine krankhafte Fantasie zurückzuführen. Verständlich wird sie jedoch, wenn man die Biografie des Dichters kennt.
Schwieriges Vater-Sohn-Verhältnis
Franz Kafka wurde am 3. Juli 1883 in Prag geboren. Veröffentlicht hat er eine ganze Reihe von Erzählungen, während seine Romanfragmente (Der Process, Das Schloss und Der Verschollene) und zahlreiche andere literarische Texte erst nach seinem Tod gedruckt wurden.
Was Die Verwandlung betrifft, spiegelt sich darin verschlüsselt die Beziehung zu seinem Vater, der es dem Sohn gegenüber zeitlebens an Sensibilität fehlen ließ. Aufschluss über das gestörte Verhältnis zwischen den beiden gibt sein (ebenfalls postum) veröffentlichter Brief an den Vater, den Kafka im Alter von 36 Jahren schrieb.
Schon der Anfang ist erschütternd. „Lieber Vater, du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor dir. Ich wusste dir, wie gewöhnlich, nichts zu antworten, zum Teil eben aus Furcht, die ich vor dir habe, zum Teil deshalb, weil zur Begründung dieser Furcht zu viele Einzelheiten gehören, als dass ich sie im Reden halbwegs zusammenhalten könnte.“
Diese Furcht reicht hinab bis in die Jahre der Kindheit. „Ich war ja schon niedergedrückt durch deine bloße Körperlichkeit. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, wie wir uns öfters zusammen in einer Badekabine auszogen. Ich mager, schwach, schmal; du stark, groß, breit. Traten wir dann aus der Kabine vor die Leute hinaus, ich ein kleines Gerippe, unsicher, bloßfüßig auf den Planken, in Angst vor dem Wasser, unfähig, deine Schwimmbewegungen nachzumachen, die du mir in guter Absicht, aber tatsächlich zu meiner tiefen Beschämung immerfort vormachtest, dann war ich sehr verzweifelt, und alle meine schlimmen Erfahrungen auf allen Gebieten stimmten in solchen Augenblicken großartig zusammen.“
Väterliche Übermacht
Schon auf der körperlichen Ebene erlebt der Sohn den Vater nicht als Beschützer, sondern als bedrohliche Übermacht. Er sieht in ihm eine nicht mehr hinterfragbare Autorität, die „letzte Instanz, das Maß aller Dinge“. Alles was der Vater denkt, was der Vater sagt, was der Vater tut, hat irgendwie göttlichen Charakter.
„In deinem Lehnstuhl regiertest du die Welt. Deine Meinung war richtig, jede andere war verrückt, überspannt, meschugge, nicht normal. Dabei war dein Selbstvertrauen so groß, dass du gar nicht konsequent sein musstest und doch nicht aufhörtest, recht zu haben. Du bekamst für mich das Rätselhafte, das alle Tyrannen haben, deren Recht auf ihrer Person, nicht auf ihrem Denken begründet ist. Man war gegen dich vollständig wehrlos. Es ist dir von vornherein nicht möglich, ruhig über eine Sache zu sprechen, mit der du nicht einverstanden bist. Dein herrisches Temperament lässt das nicht zu. Dann hört man von dir nur noch: ›Mach, was du willst; du bist großjährig; ich habe dir keine Ratschläge zu geben‹, und alles das mit dem fürchterlichen heiseren Unterton des Zornes und der vollständigen Verurteilung, vor der ich heute nur deshalb weniger zittere als in der Kinderzeit, weil das ausschließliche Schuldgefühl des Kindes zum Teil ersetzt ist durch den Einblick in unser beider Hilflosigkeit.“
Verarbeitung eigener Erfahrung
Kafka fühlt sich von seinem Vater buchstäblich erdrückt. Daran ändert sich auch nichts, als er sich auf dem Gebiet der Literatur durchzusetzen beginnt. Der Vater hat eben andere Erwartungen in seinen Sohn gesetzt. Weil dieser weiß, dass er sie nicht erfüllen kann, fühlt er sich ihm gegenüber immer nur klein und elend. Weil man ihm nichts recht machen kann, ruft schon der Gedanke an ihn Schuldgefühle hervor.
Vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, dass Kafka in seiner Erzählung Die Verwandlung nicht ein imaginäres Horrorszenario entwirft, sondern seine eigenen horrenden Erfahrungen verschlüsselt zur Sprache bringt.
Gregor Samsa verwandelt sich über Nacht in ein Ungeziefer, weil er sich schon längst als solches fühlt. Und wenn er sich in sein Zimmer zurückzieht und sich dort auch noch unter dem Sofa versteckt, geschieht das aus purer Angst vor dem Vater, von dem ihn Welten trennen. Weil dieser allmächtige Vater sich auf keinen Fall irren kann, steht für Gregor fest, dass auch alle anderen Menschen in ihm ein „Untier“ erblicken, sodass er ihnen seine Gegenwart nicht zuzumuten wagt. Schließlich stirbt Gregor an der tödlichen Wunde, die ihm der Vater zugefügt hat, als er mit Äpfeln nach ihm warf. Damit deutet der Schriftsteller an, was der Briefschreiber im Klartext ausspricht, nämlich dass „man hätte annehmen können, dass du mich einfach niederstampfen wirst, dass nichts von mir übrig bleibt“.
Gleich zu Beginn seines Briefes hält Kafka fest, dass es ihm um die Schilderung seiner Gefühle und nicht um eine moralische Schuldzuweisung geht: „Wobei ich dich aber immerfort bitte, nicht zu vergessen, dass ich niemals im Entferntesten an eine Schuld deinerseits glaube. Du wirktest so auf mich, wie du wirken musstest, nur solltest du aufhören, es für eine besondere Bosheit meinerseits zu halten, dass ich dieser Wirkung erlegen bin.“ Kurzum, es hätte anders sein können zwischen den beiden, aber aufgrund der Gegebenheiten ist es so gekommen, wie es war.