Bauer - Bruder - Gottesmann
Im Dezember jährt sich zum 200. Mal der Geburtstag von Konrad von Parzham. Br. Niklaus Kuster, selbst Kapuziner, stellt den berühmten Heiligen vor – und versucht, sein Leben und seine Spiritualität für den Menschen heute fruchtbar werden zu lassen.
Vor 200 Jahren wurde an Weihnachten in Oberndorf das Lied „Stille Nacht“ uraufgeführt. Zwei Tage zuvor kam 70 km entfernt in Niederbayern ein Bauernsohn zur Welt, dessen Heiligsprechung das Nazi-Regime alarmieren sollte. Tausende reisten im November 1934 zur Feier des neuen Heiligen in den Berliner Sportpalast. Da, wo Hitler den totalen Krieg ausrufen sollte, geriet die Jahresversammlung der Katholischen Aktion mit ihrer Konradfeier zum massiven Protest gegen die Machthaber. Zwei Wochen später verbot Hermann Göring, der zweite Mann im NS-Staat, alle öffentlichen „religiösen Feiern und Massenveranstaltungen“: Der Staat dürfe nicht zulassen, dass „die Verehrung von Heiligen (...) die Sicherheit der Bevölkerung“ gefährde und zudem „Staatsfeinden“ Raum für Agitation biete. Religion gegen Machtwahn und Menschlichkeit gegen Herrschsucht! Der aggressiven Ideologie des „Herrenmenschen“ stellte die Kirche die Menschlichkeit eines Bruders gegenüber. Konrad von Parzham wurde als erster Deutscher nach über zwei Jahrhunderten heiliggesprochen. Was macht die Leuchtkraft des schlichten Kapuzinerbruders aus und wozu ermutigt er moderne Menschen?
Familie und Arbeit
Der Bauernsohn aus dem Rottal zwischen Inn und Donau wächst in einer Großfamilie auf. Bartholomäus und Gertraud Birndorfer haben zehn Kinder. Vier sterben im ersten Lebensjahr. Johannes, der spätere Bruder Konrad, ist das neunte, gefolgt von Anna. Als jüngster Sohn könnte er selbst einmal den großen Hof übernehmen. Die Stammfamilie bleibt Bruder Konrad lebenslang wichtig: Bis ins hohe Alter schreibt er Briefe von Altötting nach Parzham, reist zu Heimaturlauben zu seinen Geschwistern und erhält Besuch von Verwandten im Kloster. – Wir alle sind vom Milieu geprägt, in dem wir aufgewachsen sind: Eltern, Geschwister und Gefährtinnen der Kindheit. Was verdanke ich meiner Familie und mit wem bleibe ich in Beziehung?
Der Junge geht im nahen Weiler Weng zur Schule. Er zeigt Lernfreude und schon früh religiöses Gespür. Altersgenossen erinnern sich, dass er auf dem kurzen Schulweg gern still einen Rosenkranz betete. Später wird der Jungbauer weder in der sengenden Sonne noch bei strömendem Regen einen Hut tragen. Eine Freundin erklärt Vater Birndorfer dieses auffallende Verhalten. Johannes sei sich bewusst, dass er überall in Gottes Gegenwart steht, lebt und handelt: Nehmen Männer beim Betreten der Kirchen ihren Hut ab, weil sie da vor Gott treten, setze er den Hut deswegen gar nicht erst auf. Um sich mitten in der Arbeit daran zu erinnern, dass Menschen sich überall als Söhne und Töchter Gottes verhalten sollen, hängt Johannes auch in Stall, Scheune, Schuppen und Werkstatt Kreuze und religiöse Bilder auf. – Teile ich Konrads Glauben, dass wir überall im Licht Gottes und in seiner Gegenwart leben? Welche Gefühle weckt diese Ein- oder Aussicht: Vertrauen, Unbehagen, Geborgenheit, innere Wachheit?
Auszeiten
Nach arbeitsamen Werktagen halten die Geschwister dem Jüngsten am Sonntag den Rücken frei: Johannes liebt es, am Tag des Herrn der Seele Flügel zu geben. Er pilgert bei jedem Wetter regelmäßig südwärts an den Inn nach Aigen oder ostwärts
hinunter nach Passau. Oder er geht zum Frühgottesdienst in die Nachbarpfarrei Birnbach, zum Hauptgottesdienst in die eigene Pfarrkirche Weng, isst am Mittagstisch der Familie und wandert nachmittags zur Andacht in die Nachbarpfarreien Birnbach oder Karpfham. Der eigenen Scholle verbunden und geerdet, pflegt der junge Bauer dadurch Freiräume, die ihn seelisch durchatmen lassen. – Kenne auch ich äußere Wege, die mir Freiraum schaffen und mich auch innerlich unterwegs sehen? Welche kleinen Auszeiten schätze ich selber in einem fordernden Alltag?
Bäuerliche Patchworkfamilie
Johannes ist 16, als sein Vater stirbt. Die Mutter hat er schon zwei Jahre zuvor zu Grabe getragen. Statt den Hof zu übernehmen, bleibt der jüngste Sohn lieber Knecht und überlässt die Leitung des Betriebs den älteren Brüdern Josef und Georg. Beide bleiben ledig, ebenso seine Lieblingsschwester Theresia und die jüngere Anna. Maria hat als älteste Schwester mit 24 eine uneheliche Tochter und heiratet deren Vater erst mit 36. Die Nichte sitzt lange Jahre mit dem jugendlichen Johannes am Familientisch des Venushofs. Auch die Geschwister Bartholomäus und Gertraud haben bereits voreheliche Kinder, und ihre eigenen Eltern heirateten ihrerseits in Erwartung eines Babys. Wichtiger, als jungfräulich in eine Ehe zu gehen, war im bäuerlichen Bayern damals die Aussicht, gemeinsam Kinder haben zu können. Dessen gewiss, ließ sich umso freudiger Hochzeit feiern. – Unsere Gesellschaft zählt immer häufiger Patchwork-Familien! Wo sehe ich die Kirche und ihre Mitglieder gefordert, von Bruder Konrad und Papst Franziskus ermutigt, jedes vorschnelle moralische Urteilen zu überwinden und Lebensgeschichten liebevoll zu betrachten?
Von der Kraft der Sehnsucht
Der Jungbauer Hansl denkt mit seiner stillen Neigung nicht ans Gründen einer Familie. Seine Sehnsucht drängt in eine andere Richtung. Seit 1837 wirkt Simon Kutzer als Pfarrer in Weng. Der Seelsorger ist derart faul, unbeherrscht und streitsüchtig, dass die Bauern beim Passauer Bischof Klage einreichen: Der Seelenhirt vernachlässige die Sakramente, halte sonntags keine Frühmessen mehr und verzichte auch auf das Predigen. Johannes findet anderswo Seelsorger, denen er sich anvertrauen kann und die ihn auf seiner Wegsuche begleiten. Eine wöchige Volksmission in Ering am Inn weckt im 20-Jährigen eine unstillbare Sehnsucht nach tieferer Gottverbundenheit. Zwei Jahre später lernt er den Priester Franz Xaver Dullinger in Aigen kennen. Vielleicht hat der Parzhamer Pferdezüchter am Umritt des Bauernheiligen Leonhard teilgenommen, der jeweils am ersten Novembersonntag Reiter aus nah und fern anlockt. Während Jahren wandert Johannes nun alle zwei Wochen sonntags nach Aigen, um sich mit dem Priester zu besprechen. Dullinger macht den spirituell suchenden Birndorfer auf Bruderschaften im näheren und weiteren Umfeld aufmerksam: Von verschiedenen Orden geleitet, üben diese sich mit unterschiedlichen Formen in der Kunst, den Alltag christlich zu gestalten. – Was hilft mir selber, dem eigenen Alltag Tiefe und Weite zu geben?
Franziskanische Lebenskunst
Drei dieser Bruderschaften sind im fernen Altötting verortet: die ignatianische Männerkongregation, die von Redemptoristen betreute Bruderschaft Maria Verkündigung und der franziskanische Dritte Orden. Dieser wird von den Kapuzinern des Wallfahrtsortes betreut, die Johannes auch bei seinen Fußwallfahrten nach Passau erlebt, wenn er mit Freundinnen ins Mariahilf-Heiligtum wandert. 30-jährig klopft Johannes an die Pforte des Kapuzinerklosters von Altötting. Der Provinzial erfüllt den Wunsch des Jungbauern, das Leben der Brüder kennenlernen zu dürfen. Johannes wird als Ordenskandidat Pfortengehilfe im Wallfahrtskloster. Nach den ersten Monaten erhält er die Kutte und den neuen Namen Konrad. Anderthalb Jahre in der Gemeinschaft von zehn Patres und elf Brüdern bestärken den Kandidaten, ins Noviziat einzutreten. Er verschenkt sein Erbe von 20.000 Gulden zu vier gleichen Teilen an die Ärmsten, das neu gegründete Bonifatiuswerk für die katholische Diaspora in Bayern, die Heimatpfarrei für die Erweiterung des Friedhofs und die Afrikamission. – Die franziskanische Nachfolge Jesu nach den drei evangelischen Räten bedeutet ein Leben mit wachen Augen, freien Händen und mutigen Füßen. Wo wünsche ich mir etwas mehr von dieser dreifachen Freiheit in meiner eigenen Lebensform?
Leben in Form
Kapuzinerleben bedeutet, dass ein Bruder nirgends für lange Zeit weilt und Wurzeln schlägt. Konrad erlebt das Wanderleben jedoch nur in seiner Ausbildungszeit: zunächst ein paar Monate als junger Krankenpfleger im Kloster Burghausen und dann im Noviziatsjahr im Kloster Laufen, wo er im Garten zum Einsatz kommt. Zusammen mit anderen Novizen lernt er an der Salzach, dem Leben eine gemeinsame Form zu geben, seine Talente in einer Gemeinschaft einzusetzen, im Alltag tragende Rhythmen zu finden und Menschenliebe mit Selbstliebe und Gottesliebe zu verbinden. – Was hilft mir selber, „in Form“ zu leben? Meine Gaben einzusetzen und mich zu sammeln? Das Miteinander zu bereichern und das Alleinsein fruchtbar zu machen? Das Dasein für andere mit der Sorge zu mir selbst zu verbinden?
Menschenfreund
Nach der Einführungszeit übernimmt Konrad auf Beschluss des Provinzials die Klosterpforte in Altötting. Es handelt sich um die stressigste Pforte in ganz Bayern. Bis zu 200 Mal läutet die Pfortenglocke täglich, und Konrad hat von früh bis spät alle Hände voll zu tun: Wallfahrer wollen beichten oder Andachtsgegenstände segnen lassen. Seelsorger aus den umliegenden Pfarreien möchten regelmäßige Predigt- und Beichteinsätze sowie spezielle Kapuziner-Aushilfen vereinbaren. Leute bitten in einer Not um eine Aussprache. Viele bringen Messanliegen oder Missionsgaben, Bauern auch Lebensmittel und Holz. Handwerksburschen, Arbeitslose, Bettlerinnen und Kinder bitten um eine Suppe, um Bier, ein Stück Brot oder Geld. Aus ferneren Orten Eintreffende suchen Auskunft betreffs Gottesdiensten, Gasthäusern und Herbergen. Der Pförtner hat Priesterbrüder zu rufen und Mitteilungen zu notieren. In Altötting kommen Besucher hinzu, die den Provinzial der bayerischen Kapuziner treffen wollen, unter ihnen Ordenskandidaten, Politiker aus München und Bischöfe.
Bruder Konrad wirkt über vier Jahrzehnte als Pförtner. Er öffnet die Tür, sein Herz und die Hände, empfängt, teilt Zeit, Sorge, Freude und Nahrung, ermutigt, segnet, verabschiedet und betet. Zeugen berichten, sie hätten den Bruder auch in hektischen Situationen kaum je aufgeregt, unbeherrscht oder abweisend gesehen. Als ein Obdachloser ihm die Suppe samt Schüssel fluchend vor die Füße knallt, holt er ihm verständnisvoll eine andere. Einer Magd, die in der Sommerhitze einen langen Botengang hinter sich hat, reicht er statt einen Krug Bier deren zwei, worauf sie erheitert weiterzieht. Was immer an Gütern und Spenden ins Kloster gelangt oder da produziert wird, sieht Konrad den Brüdern wie allen Bedürftigen gegeben. – Freunde wählen wir uns aus und Geschwister werden uns gegeben. Teile ich Konrads Sicht, dass der Glaube an den Vater im Himmel mir auf Erden zahllose Geschwister gibt? Und dass mein Nächster immer der ist, der oder die mir im Alltag gerade begegnet?
Gottesmann
Konrad hat sich ein Klosterleben vorgestellt, in dem stille Zeit mit Gott, Gebet und Gottesdiensten viel Raum finden und gemeinschaftlich getragen sind. Seine exponierte Aufgabe an der Pforte zwingt ihn jedoch, an bewegten Tagen seine Gottesbeziehung selber zu pflegen. Er nimmt sich dazu Zeit in der Nacht, frühmorgens in der Gnadenkapelle und über Mittag im Garten. In der Hektik des Alltags erinnert ihn ein Kreuz im Pfortengang, wie ungeschützt und hingabevoll sich Jesus der Welt und den Menschen ausgesetzt hat.
Konrads Spiritualität lässt sich wie folgt skizzieren. 1. Schöpfungsliebe: Gottes Güte ist mit allem und überall zu loben. 2. Gottessohnschaft: Alle Menschen leben im Licht des gemeinsamen Vaters – jederzeit. 3. Geschwisterlichkeit kennt daher keine Grenzen. 4. Christusnachfolge: Jesu Leben ist Weg von der Krippe bis zum Kreuz. 4. „Mit der Flamme des Geistes“ kann jeder Getaufte Gottes- und Menschenliebe verbinden. 5. Solidarität bedeutet, Zeit, Erfahrungen und alles Verfügbare mit Bedürftigen nah und fern zu teilen. 6. Der Alltag gewinnt Tiefe durch tragende Rhythmen, spirituelle Impulse, Eucharistie und Stille. 7. Ebenso hilfreich sind persönliche Kraftorte: Pilgerwege, heilige Stätten und Orte der Sammlung. – Welchen Impuls nehme ich gern mit auf meinen eigenen Weg?