Das Archiv der Päpste

01. Januar 2020 | von

Papst Franziskus hat das Vatikanische Geheimarchiv in „Vatikanisches Apostolisches Archiv“ umbenannt. Eine Gelegenheit, einen Blick auf eine jahrtausendalte Institution der Kirche zu werfen.
 

Schon für das 4. Jahrhundert ist das „Scrinium Sanctae Romanae Ecclesiae“ bezeugt, das dem Papst und seinen Mitarbeitern als Bibliothek und Archiv diente. Die geringe Haltbarkeit des Papyrus, des in der päpstlichen Kanzlei genutzten Schreibmaterials, die häufige Verlegung der Residenz des Papstes und zahlreiche politische Wirren ließen aber fast alle Archivalien aus der Zeit vor Innozenz III. (1198-1216) verloren gehen. Neue Sammlungen der Päpste, von denen noch ein unter Bonifaz VIII. (1295-1303) erstelltes Inventar existiert, fanden nach dem Tod des Papstes an anderen Orten ihre Verwahrung: in Perugia, Assisi und Avignon. Bevor die Päpste ihre Residenz nach Frankreich verlegten, waren Urkunden und ihre Korrespondenz in der „Camera Apostolica“ im Lateran aufbewahrt worden. In Avignon begann Johannes XII. (1315-1334) mit dem Aufbau eines neuen Archivs, das aber nach der Rückkehr der Päpste in die Ewige Stadt in ihrer ehemaligen Residenz an der Rhone verblieb. Ein beträchtlicher Teil des Bestandes wurde jedoch während des Großen Abendländischen Schismas verschleppt. 

 

Beginn des Zentralarchivs

Die Kanzleien des Papstes und die übrigen Ämter der Römischen Kurie führten zunächst eigene Archive. Die wertvollsten Urkunden wurden seit dem 15. Jahrhundert zu ihrem Schutz in der Engelsburg aufbewahrt. Die Idee eines zentralen Archivs begann erst Papst Paul V. (1605-1621) zu entwickeln. In den Jahren 1611 bis 1614 vereinigte er Bestände, die aus seiner Privatkanzlei, aus der Apostolischen Kammer und der Engelsburg stammten, zu einem neuen Archiv, dem späteren Vatikanischen Geheimarchiv. Urban VIII. (1623-1644) ließ die Register der Apostolischen Bullen und die bis dahin in Avignon verbliebenen Rechnungsbücher der Apostolischen Kammer in dieses Archiv bringen. Alexander VII. (1655-1667) wies ihm die Korrespondenz des Päpstlichen Staatssekretariates zu. 1783 wurden alle Archivalien, die sich noch in Avignon befanden, in den Vatikan überführt. 

1810 erlitt das Geheimarchiv die schwersten Verluste seiner Geschichte. Napoleon ließ es nach Paris bringen, wo viele Urkunden für immer verschwanden. Nach 1815 kehrten die verbliebenen Bestände nach Rom zurück. Jedoch nicht alle. Im September 1870, am Vorabend des Untergangs des alten Kirchenstaates, wurden in aller Eile Dokumente, Briefe und Register aus dem Palast des Quirinals in die Residenz des Papstes bei St. Peter gebracht. 1892 wurde das im Lateran untergebrachte Archiv der Apostolischen Datarie dem des Vatikans einverleibt; mit ihm u. a. die seit dem Jahre 1389 existierenden Register der päpstlichen Bullen der Apostolischen Kanzlei.

 

Forschung und Archivkunde

Zum großen Erneuerer des Archivs wurde Leo XIII. (1878-1903). Zwar hob er hervor, „dass es vor allem und hauptsächlich dem Papst und seiner Kurie, dem Heiligen Stuhl, dient“, er betonte aber auch mit Nachdruck: „Wir haben keine Angst vor einer Veröffentlichung der Dokumente.“ 1881 öffnete er es in großzügiger Weise den Gelehrten aller Nationen und machte es zu einem der wichtigsten Zentren geschichtlichen Forschens. Drei Jahre später begründete der Papst eine eigene Schule für Paläographie und Urkundenlehre. Das Hauptstudium war mit zwei Jahren veranschlagt und bereitete auf eine vom italienischen Staat anerkannte Prüfung vor. 1923 führte Pius XI. (1922-1939) einen einjährigen Kurs für Archivkunde ein, der 1953 durch Pius XII. (1939-1958) eine Neuordnung und Erweiterung erfuhr.

 

Zufallsfund im Geheimfach

Wenn auch das Archiv des Vatikans einer beschaulichen Gelehrtenstube gleicht und sich bedeutende Erkenntnisse unspektakulär aus dem akademischen Studium an schlichten Schreibtischen ergeben – manchmal erlebt es auch Szenen, die einem „Indiana Jones“-Film entstammen könnten: Eines der bekanntesten Dokumente des Archivs, das 1530 verfasste Ansuchen der Mitglieder des Englischen Parlaments an Papst Klemens VII. (1523-1534) um die Annullierung der Ehe König Heinrichs VIII., galt lange Zeit als verschollen. 1926 war der damalige Präfekt des Archivs, Monsignore Angelo Mercati, mit dem Stuhl, den er bei seiner Arbeit in den Archivräumen benutzte, unzufrieden. Der massiv gebaute Stuhl knarrte unentwegt und gab, wenn man ihn bewegte, weitere sonderbare Geräusche von sich. Der Prälat machte sich auf die Suche nach den Ursachen. Als er schon aufgeben wollte, blickte er unter den Sitz und entdeckte ein Geheimfach, er öffnete es – und sah auf die verloren geglaubte Urkunde.    

Im Laufe der Jahre wurden die Archive des päpstlichen Gerichtshofs der Rota, verschiedener diplomatischer Vertretungen (Nuntiaturen) des Heiligen Stuhls im Ausland und diejenigen römischer Adelsgeschlechter, so unter anderem der Familien Borghese, Boncompagni und Rospigliosi, in das Archiv aufgenommen. 1933 wurde das römische Diözesanarchiv dem Vatikanischen Archiv angegliedert – in ihm fanden sich die älteren Pfarrarchive der Ewigen Stadt verwahrt. Das Archiv der Päpste gilt als eines der größten und bedeutendsten Archive der Welt; es weist an die 85 Regalkilometer Urkunden und Dokumente aus allen Teilen der Erde auf. Der deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm von Leibniz hatte bereits 1702 festgestellt, dass das Vatikan-Archiv sich auf gewisse Weise als „Zentralarchiv Europas“ verstehen könne.

 

Phantasie und Wirklichkeit

Das Geheimarchiv regte und regt die Fantasie von Schriftstellern, Filmproduzenten und Verschwörungstheoretikern an und erwirkte nicht selten eine völlig falsche Einschätzung dieser bedeutenden Einrichtung der Kirche. So lässt der Bestseller-Autor Dan Brown Teile seines Thrillers „Illuminati“ im Archiv spielen. In dem Roman wird der Besucher des Archivs von einem bewaffneten päpstlichen Gendarmen eskortiert. Das Betreten der „luftdichten Kammern“ wird als lebensgefährlich eingestuft, „wenn nicht ein fremder Bibliothekar die Sauerstoffzufuhr regulierte“. Für den deutschen Kirchenhistoriker Hubert Wolf könnte eine solche Schilderung „unzutreffender nicht sein“, die Szene sei „nicht einmal gut erfunden“. Entgegen dem Romanpassus von Dan Brown wird nicht nur katholischen Wissenschaftlern der Zutritt zum Archiv gewährt. Voraussetzung ist die fachliche Qualifikation, das heißt ein abgeschlossenes Universitätsstudium, und die Empfehlung durch eine universitäre Einrichtung. 

 

Apostolisch statt geheim

Im November 2019 ordnete Papst Franziskus mit einem „Motu Proprio“, einer rechtsverbindlichen Verfügung, an, dass das Vatikanische Geheimarchiv („Archivio Segreto Vaticano“)  in „Archivio Apostolico Vaticano – Apostolisches Vatikanisches Archiv“ umzubenennen sei. Die Entscheidung des Papstes, im Namen des Archivs die Bezeichnung „geheim“ durch „apostolisch“ zu ersetzen, folgt mit logischer Konsequenz der Überzeugung Leos XIII. und seiner Nachfolger, dem Archiv des Vatikans den Nimbus des Geheimnisvollen und Undurchschaubaren zu nehmen und es nicht dem Verdacht einer beabsichtigten Verschleierung auszusetzen. Das Wort „geheim“ in der Bezeichnung des Archivs führe zu Missverständnissen über das Wesen und den Auftrag der Institution, begründete Franziskus seine Entscheidung. 

Historisch bedeute das lateinische Eigenschaftswort „secretum“ (vom lateinischen „secernere – absondern, trennen“), dass es sich um „das private, abgetrennte, dem Papst vorbehaltene Archiv“ handle. Ähnliche Bezeichnungen seien auch an Fürstenhöfen in Gebrauch gewesen, erklärte der Papst. Heute jedoch sei die Bedeutung des Wortes missverständlich und habe sich mit „zweideutigen, sogar negativen Nuancen“ aufgeladen. In vielen Bereichen habe der Begriff „geheim“ die unangenehme Bedeutung von „versteckt, nicht offenzulegen und nur wenigen vorbehalten“ angenommen. „Das genaue Gegenteil dessen, was das Vatikanische Geheimarchiv immer war und sein möchte“, hob Franziskus hervor. 

 

Ressource für die Zukunft

Für Kardinal José Tolentino de Mendonça, den „Archivar der Heiligen Römischen Kirche“ (so der offizielle Titel des Verantwortlichen für die päpstliche Dokumentensammlung), steht fest: „Das Vatikanische Archiv ist das Archiv des Papstes, seiner Kurie; daher ist es in vollem Maße wirklich ‚apostolisch’, also notwendig und unverzichtbar für den Nachfolger des Apostels Petrus in seinem Dienst an der Universalkirche.“ Das Archiv und die Bibliothek seien „kein Kleinod und Luxus der Vergangenheit, sondern immer eine Ressource für die Zukunft, um die Geschichte der Menschheit zu verstehen und zu deuten, deren unvergleichlicher und treuer Spiegel sie sind“. Der Archivar betont: „Dieses zutiefst ‚katholische’ Archiv wird jedoch, da sich in ihm das Leben der Univeralkirche und der ganzen Welt widerspiegelt, furchtlos mit den Forschern aus aller Welt geteilt, durch eine Geste des Vertrauens, die die sicherste und überzeugendste Apologie unseres Glaubens ist.“

 

Keine Angst vor der Geschichte

Mit großer Spannung warten Historiker in aller Welt auf den 2. März 2020. Dann nämlich werden die Akten zum Pontifikat Papst Pius’ XII., die im Vatikan verwahrt werden, zu Forschungszwecken zugänglich sein. Papst Franziskus hatte diesen Entschluss 2019 der Öffentlichkeit persönlich mitgeteilt: „Ich treffe diese Entscheidung voll Freude und Vertrauen, nachdem ich mich mit meinen engsten Mitarbeitern beraten habe und in der Gewissheit, dass die seriöse und objektive historische Forschung die glänzenden Momente dieses Papstes ebenso wie die Momente größter Schwierigkeiten, hart erkämpfter Entscheidungen und menschlicher wie christlicher Besonnenheit im rechten Licht und mit der angemessenen Kritik erscheinen lassen kann.“ Die Kirche, so versicherte der Papst, habe „keine Angst vor der Geschichte“: „Im Gegenteil, sie liebt sie! Deshalb öffne ich diesen dokumentarischen Reichtum und vertraue ihn den Forschern mit dem gleichen Vertrauen wie meine Vorgänger an.“

Ein beträchtlicher Teil der Archivalien zu Pius XII. war bereits auf Veranlassung von Paul VI. (1963-1978) und Johannes Paul II. (1978-2005) freigegeben worden. Wissenschaftler erstellten unter der Regie des Jesuiten Pierre Blet eine elfbändige Edition aller relevanten Aktenstücke zum Thema „Pius XII. und der Zweite Weltkrieg“ („Actes et documents du Saint Siège relatifs à la Seconde Guerre Mondiale“, 1965-1981). Pius XII. sei es zugefallen, das Schiff Petri in einem der furchtbarsten Momente des zwanzigsten Jahrhunderts zu steuern, hob Papst Franziskus hervor: „Das Jahrhundert war erschüttert und zerrissen durch den Weltkrieg mit dem darauf folgenden Zeitraum der Neuordnung der Nationen und dem Nachkriegsaufbau.“ Die Gestalt von Pius XII. sei diskutiert und sogar kritisiert worden – mit Vorurteilen und Übertreibungen. Doch heute seien die Qualitäten dieses Pontifikates ins rechte Licht gerückt worden: „pastoral vor allem, aber dann auch theologisch und diplomatisch.“

 

Der Autor:

Ulrich Nersinger, Jahrgang 1957, ist als Journalist und Schriftsteller regelmäßiger Autor des Sendboten, aber auch anderer Medien wie zum Beispiel des Osservatore Romano. Er studierte Philosophie in Bonn, Wien und Rom sowie am Päpstlichen Institut für Christliche Archäologie. Er gilt als ausgewiesener Kenner des Vatikans und des Papsttums.

Zuletzt aktualisiert: 01. Januar 2020
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