Der „Sonnengesang“: Gott mit allen Geschöpfen loben

07. Januar 2025 | von

Die franziskanischen Jubiläen gehen 2025 weiter! Die Ordensfamilie des hl. Franziskus erinnert an die Entstehung des Sonnengesangs vor 800 Jahren, dem wir unser erstes „Thema des Monats“ im neuen Kalenderjahr widmen. 

Gibt es ein anderes Lied aus dem Mittelalter, das heute weltweit in so vielen Sprachen gesungen, vertont, getanzt, in Bildern und Glasfenstern dargestellt oder sogar in Gärten und auf Wanderwegen erlebbar gemacht wird? Was hat es mit dem Sonnengesang auf sich, der im ältesten Manuskript laudes creaturarum – Lobgesang der Geschöpfe – heißt? Was ist seine Entstehungsgeschichte, seine Botschaft und seine zeitlose Kraft? Jugendliche, die das Laudato si‘ am Lagerfeuer beschwingt oder voller Romantik singen, wären überrascht zu hören, dass Franziskus die Urfassung dieses Liedes halbblind und schwer krank komponierte. Nicht einmal das Licht von „Bruder Feuer“ ertrug er in jenem Frühling 1225!

Inmitten einer Lebenswende
Ein halbes Jahr vor jener akuten gesundheitlichen Krise stand Franziskus auf La Verna an einer Lebenswende. Der Biograf aus Celano sieht einen derart markanten Meilenstein, dass er die Vita des Poverello in zwei Bücher unterteilte. Das erste Buch schildert die Herkunft, Jugend, Berufung und die Wanderjahre des Kaufmannssohnes, der in der Nachfolge Jesu zum Bruder aller Menschen wurde. Das zweite Buch widmet sich den letzten zwei Jahren und der Vollendung dieses Lebens. Das Schöpfungslied entsteht in dieser Phase, ist jedoch Frucht des langen Wanderdaseins, das Franziskus durch alle Jahreszeiten in der geschaffenen Welt zu Hause sein ließ. Thomas von Celano schildert, wie der Poverello unterwegs Freundschaft mit Tieren schloss, in Höhlen schlief und Stürmen ausgesetzt war. Eremitagen boten im Sommer Schutz vor der Hitze der Sonne und im Winter Geborgenheit in nasskalten Tagen. Franziskus sah die Brüder besonders verwandt mit den Haubenlerchen, die ebenfalls schutz- und anspruchslos durch die Welt ziehen:
„Unsere Schwester Lerche hat eine Kapuze wie die Freunde Jesu. Sie ist ein bescheidener Vogel, denn sie sucht gerne auf den Wegen nach kleinen Körnern. Sie lebt von dem, was Menschen wegwerfen. In ihrem Fluge lobt sie den Herrn durch lieblichen Gesang, wie die guten Ordensleute, die nicht am Irdischen hängen bleiben und die in allem die Ehre Gottes suchen. Ihr Federkleid ist der Erde ähnlich und für uns eine Mahnung, keine kostbaren und bunten Gewänder zu tragen, sondern billige von natürlicher Farbe“. (FQ 1320-1321)

Verbunden mit der Schöpfung
Zwanzig Jahre inniger Verbundenheit mit der natürlichen Schöpfungsgemeinschaft prägen sich Franziskus derart in die Seele ein, dass er im Frühling 1225 nahezu blind besingen kann, was er nicht mehr sieht. Im vorausgehenden Spätsommer hatte er auf La Verna das Evangelium befragt, um Klarheit für den letzten Abschnitt seines Lebens zu erhalten. Das Öffnen des Evangeliars fiel dreimal auf die Passionsgeschichte. Tatsächlich trat Franziskus nach dem Taborerlebnis vom September 1224 in seine eigene Leidensgeschichte. Die Krankheiten, die er aus Ägypten mitgeschleppt hatte, verschlimmerten sich: Malariaschübe, ein Trachom seiner Augen und ein Milzleiden erschwerten sein Umherziehen und verlängerten die Auszeiten in den schützenden Ermitagen. Der Bruder musste im Frühling 1225 zwei Monate lang in einer lichtarmen Hütte gepflegt werden. Lange Wochen äußerer Dunkelheit führten auch zu inneren Ängsten. Nach 50 Tagen erfuhr der Mystiker in einer Nacht die Zuwendung Gottes überraschend neu und befreiend. Der Kern des Sonnengesangs ist die tief dankbare Antwort darauf. Die Komposition entstand in San Damiano vor Assisis Stadtmauern, wo Klaras Gemeinschaft mit einer Gruppe Brüder das Gotteslob sang. Das Zusammenklingen schwesterlicher und brüderlicher Stimmen vor Ort hört Franziskus auch in der ganzen Schöpfung. Frate sole (Bruder Sonne) spielt mit den Schwestern luna e stelle zusammen, mit Mond und Sternen, die italienisch weiblich sind. Bruder Wind verbindet sich mit Schwester Wasser, Bruder Feuer mit Schwester Mutter Erde. Die Gestirne im weiten Kosmos ermöglichen Leben auf Erden durch den Wechsel von Tag und Nacht und den Lauf des Jahres mit Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Im Lied von dreierlei Art, verweisen Sonne, Mond und Sterne zugleich auf die Überwelt des dreieinen Gottes: lichtvoll, unendlich und ewig.

Geschwisterliche Gemeinschaft
Die folgenden Strophen widmen sich den vier Urelementen. Aus Luft, Wasser, Feuer und Erde sah das Mittelalter alle irdischen Lebewesen bestehen: Pflanzen, Tiere und Menschen werden von der Erde getragen und ernährt, sie brauchen Wasser und atmen, sie speichern Energie und haben ihre je eigene Temperatur. Alles Geschaffene auf Erden teilt denselben Lebensraum, und jedes Geschöpf erzählt auf seine Weise vom Schöpfer. Der Lobpreis hört die Urelemente wie die Gestirne geschwisterlich zusammenklingen. Um die Harmonie perfekt auszudrücken, wird dem neutralen „aere“ (Luft, lateinisch aes) der männlich-brüderliche frate vento vorangestellt. Franziskus weitet damit seine Vision einer geschwisterlichen Gesellschaft, Kirche und Menschheit auf die ganze Schöpfung aus.
Jacques Dalarun hat auf den subversiven Aspekt hingewiesen, der im Motiv der „regierenden Erde“ steckt. Herrschaft 
(governo) nimmt franziskanisch betrachtet an Mutter Erde Maß: Sie ist nicht als Macht von oben, sondern als Dienst von unten zu verstehen. Sie ist mütterlich sensibel, trägt und nährt, macht Bewegung möglich, lässt Menschen blühen und fruchtbar werden. Wenn Leitung und Regierende das Leben und die freie Entfaltung verhindern, erfüllen sie ihre Aufgabe nicht.

Menschliches Miteinander
Die Strophe auf den Menschen kam Wochen später hinzu, als in Assisi ein Bürgerkrieg drohte. Der streitbare Bischof Guido II. legte sich im Mai 1225 mit dem neugewählten Bürgermeister an, Oportulo Bernardo, Vater einer Schwester in San Damiano. War der städtische Konflikt Anlass für die Menschenstrophe, so ist deren Botschaft universal: Nicht Aggressive oder Unversöhnliche verweisen auf Gott, ihren Schöpfer, sondern Friedfertige und Liebende. So schön Gottes Liebe auch in Verliebten aufleuchtet, am eindrücklichsten tut sie es da, wo menschliche Liebe geprüft wird. Wo Menschen einander verzeihen, in Krankheiten den inneren Frieden nicht verlieren und mit allerlei Sorgen gut umgehen, tun sie es per lo tuo amore – in der Kraft von Gottes Liebe.

Übergang ins Ewige
Vor seinem Sterben fügte Franz die letzte Strophe hinzu: So sehr das Leben auf Erden ein Geschenk ist und tief beglücken kann, es bleibt vergänglich. Die Zeilen über Schwester Tod sehen das Sterben nicht als Katastrophe, sondern als Übergang in die neue und ewige Schöpfung Gottes. Franziskus ist der erste Christ, der den Tod weiblich und schwesterlich sieht. Diese Schwester wird Franz selbst sterbend tatsächlich als Weggefährtin willkommen heißen, die ihn an der Hand nimmt, als ihn seine Liebsten, die Brüder, Schwestern und Freundin Jacoba, loslassen mussten. Sora morte corporale begleitet jeden Menschen auf dem dunklen Wegstück, das in Gottes Lichtfülle führt. Zu fürchten ist nur der zweite Tod, jener der Seele, wenn Menschen in der neuen Welt Gottes nicht Gemeinschaft, sondern Egozentrik wählen, sich ausschließen und in selbstgewählter Gottferne verkümmern.
In der Endgestalt zählt das Schöpfungslied mit seinem Auftakt und der Schlussstrophe 33 Verse: Das Mittelalter zählt 33 Lebensjahre Jesu auf Erden. Franz von Assisi lässt damit feinsinnig anklingen, dass diese unsere schöne und vergängliche Welt nicht nur Werk Gottes, sondern auch Heimat des Gottessohnes geworden ist. Selbst unreligiöse Menschen leben daher nicht in einer gottlosen, sondern einer von Gott geliebten Welt!

Altumbrische Originalversion
Altissimu, onnipotente, bon Signore,
Tue so’ le laude, la gloria e l’honore et onne benedizione.
Ad te solo, Altissimo, se konfane
et nullu homo ène dignu Te mentovare.
Laudato sie, mi’ Signore, cum tutte le Tue creature,
spezialmente messor lo frate Sole,
lo qual è iorno et allumini noi per lui.
Et ellu è bellu e radiante cum grande splendore:
de Te, Altissimo, porta significazione.
Laudato si’, mi’ Signore, per sora Luna e le stelle:
in celu l’ài formate clarite e preziose e belle.
Laudato si’, mi’ Signore, per frate Vento,
e per aere e nubilo e sereno et onne tempo,
per lo quale a le Tue creature dài sustentamento.
Laudato si’, mi’ Signore, per sor’Acqua,
la quale è multo utile et humile et preziosa et casta.
Laudato si’, mi’ Signore, per frate Focu,
per lo quale ennallumini la notte:
et ello è bello e iocundo e robustoso e forte.
Laudato si’, mi’ Signore, per sora nostra matre Terra,
la quale ne sustenta e governa,
e produce diverse frutti con coloriti flori et herba.
Laudato si’, mi’ Signore, per quelli ke perdonano per lo Tuo amore
e sostengo infirmitate e tribulazione.
Beati quelli ke ‘l sosterrano in pace,
ka da Te, Altissimo, sirano incoronati.
Laudato si’, mi’ Signore, per sora nostra Morte corporale,
da la quale nullu homo vivente po’ skampare:
guai a quelli ke morrano ne le peccata mortali;
beati quelli ke trovarà ne le Tue santissime voluntati,
ka la morte secunda no ‘l farrà male.
Laudate e benedicite mi’ Signore e rengraziate 
e serviateli cum grande humilitate.

Deutsche Übersetzung 
Höchster, allmächtiger, guter Herr,
dein sind das Lob, die Herrlichkeit und Ehre und jeglicher Segen.
Dir allein, Höchster, gebühren sie,
und kein Mensch ist würdig, dich zu nennen.
Gelobt seist du, mein Herr, mit allen deinen Geschöpfen,
zumal dem Herrn Bruder Sonne,
welcher der Tag ist und durch den du uns leuchtest.
Und schön ist er und strahlend in großem Glanz:
Von dir, Höchster, ein Sinnbild.
Gelobt seist du, mein Herr, durch Schwester Mond und die Sterne;
am Himmel hast du sie gebildet, klar und kostbar und schön.
Gelobt seist du, mein Herr, durch Bruder Wind
und durch Luft und Wolken und heiteres und jegliches Wetter,
durch das du deinen Geschöpfen Unterhalt gibst.
Gelobt seist du, mein Herr, durch Schwester Wasser,
gar nützlich ist es und demütig und kostbar und keusch.
Gelobt seist du, mein Herr, durch Bruder Feuer,
durch das du die Nacht erleuchtest;
und schön ist es und fröhlich und kraftvoll und stark.
Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, Mutter Erde,
die uns erhält und lenkt
und vielfältige Früchte hervorbringt und bunte Blumen und Kräuter.
Gelobt seist du, mein Herr, durch jene, 
die verzeihen um deiner Liebe willen
und Krankheit ertragen und Drangsal.
Selig jene, die solches ertragen in Frieden,
denn von dir, Höchster, werden sie gekrönt.
Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, den leiblichen Tod;
ihm kann kein Mensch lebend entrinnen.
Wehe jenen, die in tödlicher Sünde sterben.
Selig jene, die er findet in deinem heiligsten Willen,
denn der zweite Tod wird ihnen kein Leid antun.
Lobt und preist meinen Herrn
und dankt ihm und dient ihm mit großer Demut.

Sonne, große Schwester,
wärme und erleuchte mich,
dass auch ich Wärme ausstrahle
und lichtvoll lebe!
Mond, leiser Bruder,
scheine in jedes Dunkel
und lehr mich, Licht zu spiegeln –
heute so und morgen anders!
Wolken, luftige Schwestern,
schenkt auch mir Leichtigkeit,
und lehrt mich durch die Welt zu ziehen -
erfrischend und mich verströmend!
Feuer, starker Bruder,
lass meine innere Glut glühen
und nähre die Flammen meiner Liebe,
meine Leidenschaft für das Leben!
Wasser, muntere Schwester,
lehre mich deine Hingabe,
mich vergießen und Quelle werden
von Leben, Hoffnung und Segen!
Erde, unsere Mutter,
aus dir sind wir voller Kreativität!
Lass auch uns blühen, fruchtbar bleiben
und wieder ruhen, wenn es Zeit ist!
Mensch, mein Bruder
Schwester, meine Gefährtin,
durch den Schöpfer grenzenlos verbunden:
lass uns Frieden säen in unserer Welt!
Leben, Kraft in allen Geschöpfen,
lehr uns mit dir achtsam umzugehen
und den einen Lebensraum zu teilen
mit allen Wesen, die Atem in sich tragen!
Schwester Tod, stille Gefährtin,
nimm uns an der Hand,
wenn der irdische Weg endet
und begleite uns in Gottes neue Welt!

Zuletzt aktualisiert: 07. Januar 2025
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