Die Würde im Blick
Vor wenigen Wochen hat der Vatikan eine neue Erklärung veröffentlicht: „Dignitatis infinita“ befasst sich mit der Würde des Menschen und nimmt Felder in den Blick, wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden.
In einem Kommentar über das englische Königshaus im Berliner „Tagesspiegel“ beschäftigte sich Deike Diening vor nunmehr über drei Jahren mit dem Schweigen. Die britische Krone war (und ist) dafür bekannt, sich zu manchen Themen einfach nicht öffentlich zu äußern: „Schweigen war lange Jahre ein natürlicher Komplize der Macht – und die beste Strategie… Wer zu etwas schweigt, ist auf keiner der Seiten, die sich ja morgen schon wieder als die falsche erweisen könnte. Und gehen nicht ohnehin die meisten Probleme, verglichen mit Bestand und Bedeutung der britischen Monarchie, schließlich irgendwann von allein wieder weg?“ Die Kommentatorin stellt dann allerdings heraus, dass „Schweigesysteme“ in den vergangenen Jahren massiv bröckelten. Schweigen „wird nicht mehr automatisch als Stärke verstanden“. Die heutige Welt mit ihren Medien- und Netzwerksystemen braucht Stellungnahmen in Echtzeit. Wer da schweigt, kommt nicht mehr vor und gilt als „ewig gestrig“.
Schweigen versus Spontaneität
Nun sind das britische Königshaus und der Heilige Stuhl gewiss unterschiedliche Organisationen mit sehr verschiedenen Zielsetzungen. Aber auch die Kirche ist bekannt dafür, „in Jahrhunderten zu denken“ und so mancher Entwicklung in der Zeit hinterher zu laufen – im Schneckentempo und oft im Schweigen. Zugegeben: Über eine Milliarde Gläubige aus allen Kontinenten und Kulturen unter einen Hut zu bringen und dabei allen und allem gerecht zu werden, ist eine komplexe Her-ausforderung. Das lässt kaum zu, sich tagesaktuell zu äußern.
Papst Franziskus liefert dabei in regelmäßigen Abständen Ausnahmen: Er liebt die spontane Rede. Ob bei Interviews im Flugzeug oder am Rande von Audienzen, ob durch beiseite gelegte vorbereitete Predigtmanuskripte oder per Handy aufgezeichnete Grußworte, immer wieder mischt er sich in aktuelle Themen ein – oft mit griffiger Sprache und regelmäßig polarisierend. Immer wieder, zuletzt bei Äußerungen zum Ukraine-Krieg, müssen die vatikanischen Behörden im Nachhinein Interpretationen liefern und Äußerungen zurechtbiegen.
Diese beiden Pole – die Tendenz zum bedachten Schweigen und die Neigung zur spontanen Rede – zeigen das Dilemma auf, in dem die römisch-katholische Kirche oft steckt: Sie müsste sich zu aktuellen Themen äußern, aber dabei auch möglichst alle Aspekte vorher durchdacht und abgewogen haben. Ein echter Balanceakt…
Lange Entstehungszeit
Vor wenigen Wochen – am 2. April 2024 – wurde vom Präfekten des Dikasteriums für die Glaubenslehre eine von Papst Franziskus am 25. März genehmigte Erklärung über die menschliche Würde mit dem Titel „Dignitas infinita“ („Unendliche Würde“) veröffentlicht. Sie enthält eine umfassende Darstellung zahlreicher Verstöße gegen die Menschenwürde aus Sicht der katholischen Kirche und verweist zur Begründung auf die biblische Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, auf allgemeinverbindliche ethische Prinzipien und auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948.
Angekündigt worden war das Dokument schon lange. Und die Einleitung des Schreibens geht ziemlich offen damit um, wann mit der Ausarbeitung des Textes begonnen wurde, nämlich schon zu Beginn des Jahres 2019, welche Unzufriedenheiten es mit den ersten Entwürfen gab, wie oft Änderungen eingearbeitet wurden, die oftmals auch auf direkte Interventionen des Papstes zurückzuführen sind, und wie schließlich der nun veröffentlichte Text entstand. Der Präfekt des Dikasteriums, Víctor Manuel Kardinal Fernández, schreibt im Blick auf die mühsame Entstehungsgeschichte: „Die Ausarbeitung des Textes, die sich über fünf Jahre hinzog, gibt zu verstehen, dass wir es mit einem Dokument zu tun haben, das aufgrund der Ernsthaftigkeit und der zentralen Bedeutung der Frage der Würde im christlichen Denken einen beträchtlichen Reifungsprozess benötigte, um zu dem endgültigen Entwurf zu gelangen, den wir heute veröffentlichen.“
Glauben bewahren im Wandel
Bei der im Dezember veröffentlichten Erklärung zum Segen für homosexuelle Paare, „Fiducia supplicans“, löste der Vatikan (wohl unerwartet) eine weltweit sehr kontrovers geführte Debatte aus, musste abermals erklären und zurückrudern.
Dieser „Vorfall“, aber auch bereits das Begleitschreiben von Papst Franziskus zur Ernennung des neuen Präfekten, macht deutlich, dass die Zeiten wohl vorbei zu sein scheinen, in denen galt „Roma locuta, causa finita“. Zur Ernennung von Kardinal Fernández schreibt ihm der Papst: „Das Dikasterium, dem Sie vorstehen werden, hat sich in anderen Zeiten unmoralischer Methoden bedient. Das waren Zeiten, in denen man nicht die theologische Erkenntnis förderte, sondern mögliche Irrtümer in der Lehre verfolgte.“ Im Vorwort zu „Dignitas infinita“ gibt der Präfekt dann wohl auch einen Hinweis, wie er die Aufgabe seiner Behörde sieht, den Glauben zu bewahren, wenn er schreibt: „Die vorliegende Erklärung erhebt nicht den Anspruch, ein so reiches und entscheidendes Thema – wie die Menschenwürde – zu erschöpfen, sondern will einige Denkanstöße bereitstellen, die uns helfen, diese Thematik in der komplexen geschichtlichen Situation, in der wir leben, im Auge zu behalten, damit wir uns inmitten so vieler Sorgen und Ängste nicht verirren und uns nicht noch mehr zerreißenden und tiefen Leiden aussetzen.“
Menschenwürde als Grundanliegen
Die Grundlage der vatikanischen Erklärung wird gleich im ersten Satz definiert: „Eine unendliche Würde, die unveräußerlich in ihrem Wesen begründet ist, kommt jeder menschlichen Person zu, unabhängig von allen Umständen und in welchem Zustand oder in welcher Situation sie sich auch immer befinden mag.“ (1) Das Glaubensdikasterium stellt dabei einen direkten Zusammenhang zur „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ und deren 75. Jahrestag her. Beginnend mit Paul VI. werden aus den nachfolgenden Pontifikaten zentrale Äußerungen zum Thema Menschenwürde zitiert, die darin gipfeln, dass die Enzyklika „Fratelli tutti“ von Papst Franziskus als „eine Art Magna Charta der heutigen Aufgaben zur Wahrung und Förderung der Menschenwürde“ bezeichnet wird.
Die „ontologische Würde“ kommt der menschlichen Person nach christlicher Überzeugung allein durch die Tatsache zu, „dass sie existiert und von Gott gewollt, geschaffen und geliebt ist. Diese Würde kann niemals ausgelöscht werden und bleibt über alle Umstände hinaus gültig, in denen sich der Einzelne befinden kann.“ (7) Die biblische Schöpfungsgeschichte wird als Beleg für diese Überzeugung angeführt und das Lebensbeispiel Jesu schließlich herangezogen, um zu illustrieren, wie er in seinem irdischen Wirken „den Wert und die Würde all derer, die das Ebenbild Gottes tragen, unabhängig von ihrem sozialen Status und ihren äußeren Umständen“ (12) bekräftigt hat.
Monoperspektivische Scheuklappen?
Im Blick auf die dann folgende theoretische Entfaltung des Themas „Menschenwürde“ und die vom Vatikan gelieferten Begründungen und Zusammenhänge kritisiert der Journalist Christoph Paul Hartmann in einer ersten Stellungnahme: „Zum einen ist da eine Fixierung auf den globalen Westen. Mit der Herleitung aus der Philosophie der griechisch-römischen Tradition wird hier nur eine einzige Denktradition aufgeführt. Das passt nicht zu den vielen Perspektiven auf Würde, die der Text nennt. Ebenso konterkariert der Ausschluss historischer Vielfalt etwa im Handeln der Kirche durch die Jahrhunderte einen von Diversität geprägten Ansatz des Dokuments.“ Er kritisiert weiter: „Die von Papst Franziskus viel zitierten Ränder der Welt scheinen beim Thema Menschenwürde kaum eine Rolle zu spielen.“ Und, trotz aller durchaus vorhandenen positiven Äußerungen zur Menschenwürde: „Die ideologischen Scheuklappen sind weiter fest geschnürt und lassen nur wenig Raum für neue Impulse.“
Erhobene Stimme
Vielleicht kann solch berechtigte Kritik im größeren Rahmen besser eingeordnet werden: Wenn der Papst zumindest die Prämisse ausgibt, dass das Glaubensdikasterium mehr begleiten denn dekretieren soll, und im Dokument mehrfach betont wird, dass man keinen „Anspruch auf Vollständigkeit erheben“ (35) wolle, ist die Erklärung möglicherweise besser zu lesen, wenn man sie als Diskussionsbeitrag oder Mitteilung des Standpunkts eines weltweit präsenten gesellschaftlichen Akteurs betrachtet – auch wenn man damit gewiss dem jahrhundertelang definierten Anspruch der römisch-katholischen Kirche eher weniger gerecht wird. Im Schlusskapitel verweist Kardinal Fernández darauf, dass die Kirche ermutigt „zur Förderung der Würde jeder menschlichen Person, unabhängig von ihren körperlichen, geistigen, kulturellen, sozialen und religiösen Eigenschaften. Sie tut dies in der Hoffnung und in der Gewissheit der Kraft, die vom auferstandenen Christus ausgeht, der die ganzheitliche Würde eines jeden Menschen in ihrer ganzen Fülle offenbart hat.“ (66)
Von Armut bis Menschenhandel
In jedem Fall lohnt eine Lektüre der einzelnen Verstöße gegen die Menschenwürde, die die Kirche ausmacht. Zunächst wird, ganz im Sinne von Papst Franziskus, das „Drama der Armut“ erwähnt. Dem Anwachsen des Reichtums auf der einen Seite stehen immer ärmere Menschen gegenüber. Von Geburt an leben sie mit deutlich geringeren Entwicklungsmöglichkeiten: „Alle sind wir verantwortlich, wenn auch in unterschiedlichem Grad, für diese offene Ungerechtigkeit.“ (37)
Nach der Armut wird der Krieg thematisiert. Mit einem Zitat von Papst Franziskus, der im gesamten Dokument gemeinsam mit den anderen Päpsten der letzten Jahrzehnte äußerst häufig zitiert wird, unterstreicht die Erklärung die Tragödie des Krieges im Blick auf die Menschenwürde: Kriege und Gewalttaten haben so sehr zugenommen, dass man von einem „dritten Weltkrieg in Abschnitten“ sprechen könnte. Mit Papst Paul VI. wird auch heute, nachdrücklicher denn je, gefordert: „Jamais plus la guerre!“ – „Niemals mehr Krieg!“ (38) Eng mit Armut und Krieg verbunden ist das Leid der Migranten. Der Text wird deutlich, wenn er Papst Franziskus mit „Fratelli tutti“ zitiert: „Niemand wird behaupten, dass sie keine Menschen sind, in der Praxis jedoch bringt man mit den Entscheidungen und der Art und Weise, wie man sie behandelt, zum Ausdruck, dass man ihnen weniger Wert beimisst, sie für weniger wichtig und weniger menschlich hält.“ (40) Auch dem Menschenhandel gegenüber sagt die Kirche erneut den Kampf an.
Unbedingte Gültigkeit der Würde
Im Blick auf den sexuellen Missbrauch, einen weiteren eklatanten Verstoß gegen die Menschenwürde, wird zwar angegeben, dass die Kirche sich „unermüdlich“ dafür einsetzt, „allen Arten von Missbrauch ein Ende zu setzen, und zwar beginnend im Innern der Kirche“ (43), ansonsten bleibt dieses Thema aber überraschend dünn.
Im Kontext der Gewalt gegen Frauen wird die gleiche Würde von Frauen und Männern betont – hier müsste sich die Kirche wohl aber auch deutlich intensiver mit ihrem eigenen Umgang mit Frauen auseinandersetzen.
Getragen von der Überzeugung, „dass ein menschliches Wesen immer etwas Heiliges und Unantastbares ist, in jeder Situation und jeder Phase seiner Entwicklung“, wird der Schwangerschaftsabbruch deutlich und klar abgelehnt. Gleiches gilt für die Leihmutterschaft. Neben dem Beginn des Lebens kommt aber auch das Ende des Lebens in den Blick: Scharf verurteilt die Erklärung Euthanasie und assistierten Suizid: „Das menschliche Leben, selbst in seinem schmerzhaften Zustand, ist Träger einer Würde, die immer geachtet werden muss, die nicht verloren gehen kann und deren Achtung bedingungslos bleibt. Es gibt in der Tat keine Bedingungen, ohne die das menschliche Leben nicht mehr würdig wäre und deshalb beseitigt werden könnte.“ (52) Deshalb müsse auch der Ausschluss von andersfähigen Menschen angeprangert werden: Menschen mit Behinderungen dürften nicht an den Rand gedrängt werden.
Gender – und Gewalt im Internet
Was das heftig diskutierte Thema Gender-Theorie betrifft, die Papst Franziskus jüngst als „hässlichste Gefahr“ bezeichnete, gibt sich die jetzige Erklärung sachlicher. Unabhängig jeglicher sexuellen Orientierung müsse jeder Mensch mit Respekt aufgenommen werden: „Aus diesem Grund muss es als Verstoß gegen die Menschenwürde angeprangert werden, dass mancherorts nicht wenige Menschen allein aufgrund ihrer sexuellen Orientierung inhaftiert, gefoltert und sogar des Lebens beraubt werden.“ (55) Dennoch kritisiert die Kirche den Ansatz der Gender-Theorie, über „sich selbst verfügen zu wollen“. Außerdem sei es falsch, den Unterschied der Geschlechter leugnen zu wollen. In der Konsequenz der kirchlichen Lehrtradition wird dann auch die Geschlechtsumwandlung abgelehnt – mit der Ausnahme der medizinischen Behandlung genitaler Anomalien.
Letzter Punkt der Aufzählung ist die Gewalt in der digitalen Welt: „Der Fortschritt der digitalen Technologien bietet zwar viele Möglichkeiten, die Menschenwürde zu fördern, doch tendiert er zunehmend dazu, eine Welt zu schaffen, in der Ausbeutung, Ausgrenzung und Gewalt zunehmen, was so weit gehen kann, dass die Würde der menschlichen Person verletzt wird.“ (61)
Bewusstsein schärfen
Trotz seiner fünfjährigen Entstehungszeit mag die neue vatikanische Erklärung nicht die beste sein, die jemals vom Heiligen Stuhl herausgegeben worden ist. Manche angeschnittenen Themen hätten durchaus verdient, ausführlicher dargestellt zu werden. An der einen oder anderen Stelle vermisst man wohl etwas selbstkritischere Töne. Das Schreiben will aber auch keinen Schlusspunkt zur Frag der Menschenwürde definieren, sondern vielmehr, wie es bereits in der Einleitung heißt, „Denkanstöße bereitstellen, die uns helfen, diese Thematik in der komplexen geschichtlichen Situation, in der wir leben, im Auge zu behalten, damit wir uns inmitten so vieler Sorgen und Ängste nicht verirren und uns nicht noch mehr zerreißenden und tiefen Leiden aussetzen.“ Das dürfte gelungen sein.