Getragen vom "Geist von Assisi"
Das Friedensengagement von Sant’Egidio verbindet unser Autor, Geistlicher Begleiter von Sant’Egidio Deutschland, mit der urfranziskanischen Sehnsucht nach Frieden.
Im Oktober wird nicht nur das Gedenken an den hl. Franziskus begangen: Vor 38 Jahren fand in Assisi am 27. Oktober 1986 zum ersten Mal in der Geschichte ein großes Friedenstreffen der Weltreligionen statt. Johannes Paul II. hatte es bewusst in der Heimatstadt von Franziskus einberufen, denn er wollte sich auf seinen Einsatz für Versöhnung, Frieden und Dialog der Religionen beziehen. In einer Zeit voller Kriege und Konflikte erscheint die Erinnerung an dieses Dialogtreffen besonders angebracht, aus dem der sogenannte „Geist von Assisi“ hervorgegangen ist. Er steht für den Beitrag der Religionen, für eine Welt in Frieden und für den Dialog der Religionen und Kulturen einzutreten im Respekt vor den Unterschieden im Sinne einer Einheit in der Vielfalt und nicht in einer synkretistischen Vermischung.
SANT’EGIDIO: BIBEL UND ZEITUNG
Die 1968 von Andrea Riccardi in Rom gegründete Gemeinschaft Sant’Egidio sah dieses Ereignis als wegweisend an und hat es im Kontext der eigenen Friedensarbeit Jahr für Jahr fortgesetzt. Ihr Leben ist durch die Verbundenheit von Spiritualität und sozialem Einsatz für die Armen geprägt, wie es der evangelische Theologe Karl Barth einmal in dem Bild zum Ausdruck brachte, dass der Christ in der einen Hand die Bibel und in der anderen die Zeitung trägt. Durch den täglichen Einsatz für Obdachlose, einsame alte Menschen, Familien in sozialen Brennpunkten, Gefangene, Menschen mit Behinderung, Flüchtlinge und andere entstand eine umfassende Sensibilität für das menschliche Leid und für dessen Ursachen. Sehr schnell verstand Sant’Egidio, dass es zwischen der Armut und dem Krieg einen engen Zusammenhang gibt, denn der Krieg ist der „Vater aller Armut“, wie Andrea Riccardi betont. Durch ihre Verbreitung in über 70 Ländern der Welt ist die Gemeinschaft mit zahlreichen Konfliktsituationen in Berührung gekommen, wie jetzt aktuell in der Ukraine oder in verschiedenen Ländern Afrikas. Der italienische Journalist Igor Mann hat für die Friedensarbeit von Sant‘Egidio das Wort von der „UNO von Trastevere“ geprägt in Bezug auf den Einsatz in zahlreichen Konfliktsituationen. Dabei ist die Gemeinschaft keine auf Friedensmediation spezialisierte NGO geworden, sondern immer eine geistliche Gemeinschaft geblieben, bei der die Inspiration durch das Evangelium im Mittelpunkt ihres Daseins steht.
DIE METHODE VON SANT’EGIDIO
Was kann eine geistliche Gemeinschaft, die keine politischen Mittel besitzt und keine NGO ist, für den Frieden und die Freundschaft unter den Religionen tun? Die „schwache Kraft“ von Sant’Egidio ist der Dialog, das Knüpfen von Beziehungen und der Aufbau von Netzwerken zum Wohl der Menschen. Sie beinhaltet die Offenheit, mit allen zu sprechen, auch wenn sie nicht derselben Meinung sind wie man selbst. Diese Unabhängigkeit von politischen, ökonomischen, militärischen und finanziellen Interessen verleiht der Gemeinschaft eine Glaubwürdigkeit, die grundlegend für eine erfolgreiche Versöhnungsarbeit ist, mit dem einzigen Interesse, einen dauerhaften Frieden für die Völker und Religionen aufzubauen. Diese „schwache Kraft“ wird häufig als unwirksam angesehen. Teilweise wurde der Dialog in diesen kriegerischen Zeiten sogar diskreditiert, als würde er diktatorisches und gewalttätiges Verhalten rechtfertigen. Doch das Leid und die katastrophalen Folgen der Konflikte dieses ersten Viertels im neuen Jahrtausend sind ein vielsagender Beleg dafür, dass Konflikte niemals mit Gewalt und Krieg zu lösen sind, sondern nur durch die mühsame und intelligente Arbeit des wahrhaftigen Friedensdialogs.
DER „GEIST VON ASSISI“
Beim internationalen Gebetstag der Weltreligionen für den Frieden im Oktober 1986 nahmen 110 Religionsoberhäupter aus 29 Ländern und 38 verschiedenen Traditionen teil. Dieser Tag für den Frieden war eine Neuheit, denn weder das Parlament der Religionen in Chicago von 1893 noch eines der bilateralen Treffen des 20. Jahrhunderts ähneln dieser Zusammenkunft. Bei der Abschlusszeremonie in Assisi äußerte der Papst die Hoffnung, dass dieser Tag der Beginn eines Weges und nicht das Ende sein würde: „Ich ermutige euch, darin auch in Zukunft nicht nachzulassen.“ Sant’Egidio hat die grundlegende Bedeutung dieses Treffens in der Stadt des hl. Franziskus, eines Mannes des Dialogs und des Friedens, in einer Zeit großer Spannungen und imminenter Gefahren einer nuklearen Konfrontation durch den Rüstungswettlauf erkannt und aufgegriffen. Denn der Friede „ist eine Werkstatt, die allen offensteht, nicht nur Fachleuten, Gebildeten und Strategen. Der Friede ist eine universale Verantwortung: Er verwirklicht sich durch Tausende kleiner Handlungen im täglichen Leben“, sagte Johannes Paul II. an jenem Tag 1986. Dabei geht es nicht um eine Vereinheitlichung oder um synkretistische Bestrebungen, wie manche Kritiker anmerkten. So konnten am Beginn des neuen Jahrtausends mit dem fundamentalistischen Terrorismus, der am 11. September 2001 in New York eine Epoche von religiös geprägten Konflikten mit dramatischen Folgen auslöste, bis zu den aktuellen Krisen in der Ukraine, im Heiligen Land und im Sudan wichtige Impulse für Friedensvisionen und gemeinsame Initiativen entwickelt werden. In einer Zeit, die den Dialog als zu schwach oder sogar als schädlich ansieht, weil er angeblich Aggressionen ermutigen würde, in der neue Arsenale von unvorstellbaren Massenvernichtungswaffen angelegt werden, erscheint dieser „Geist von Assisi“ aktueller denn je. Papst Franziskus hat verschiedentlich an diesen von Sant’Egidio organisierten Treffen teilgenommen und den interreligiösen Dialog und insbesondere die Freundschaft zum Islam zu einem Schwerpunkt seines Pontifikats gemacht. Marco Impagliazzo, der Präsident von Sant’Egidio, schreibt: „Indem die Religionen in die Geschichte eintreten und immer mehr Räume und Themen für den Dialog finden – nicht zuletzt im Umweltschutz – stellen sie die Möglichkeit dar, ein friedliches und integriertes Zusammenleben zu etablieren, eine Alternative zu einer illusorischen Homogenisierung von Gemeinschaften auf nationaler und anderer Basis, die in der Geschichte bereits ihre ganze Gefährlichkeit offenbart hat.“
DAS BEISPIEL MOSAMBIK
Die Stadt Rom ist als europäische Hauptstadt und vor allem als Zentrum der katholischen Kirche eine Drehscheibe für Begegnungen und internationale Kontakte. Sant’Egidio nutzt diese günstige Lage, um vielfältige Beziehungen zu pflegen. Als neutraler Ort und glaubwürdige Gemeinschaft ohne politische, militärische oder ökonomische Interessen wurde Sant’Egidio Anfang der 90er Jahre als Vermittler für den Konflikt in Mosambik ins Gespräch gebracht, nachdem zu dem Land und vor allem zu Kirchenvertretern zahlreiche solidarische Beziehungen aufgebaut worden waren. Der lange Friedensprozess war eine Art Schulung in Demokratie und friedlicher Konfliktlösung und legte die Basis für einen dauerhaften Frieden, der am 4.10.1992, dem Tag des hl. Franziskus (!), in Rom unterzeichnet wurde. Heute gilt Mosambik als Modell für demokratischen Wandel in Afrika, nach dem Friedensschluss hat es mehrere friedliche Wechsel der Präsidenten gegeben und eine positive Wirtschaftsentwicklung wurde möglich. Diese gelungene Erfahrung hat Sant’Egidio heute zu einem Global-Player der Versöhnungs- und Friedensarbeit werden lassen.
FRIEDEN ALS AUFTRAG FÜR DIE GLÄUBIGEN
Sant’Egidio ist weiterhin davon überzeugt, dass Frieden immer möglich ist und dass jeder in seinem Umfeld anfangen kann, Frieden und Versöhnung zu schaffen. Der russisch-orthodoxe Weisheitslehrer Seraphim von Sarow sagt: „Gewinne den Geist des Friedens, und tausende Seelen um dich her werden gerettet.“ Dann ist es wichtig, die Schreie nach Frieden wahrzunehmen. „Schon das Hören auf den Schrei nach Frieden setzt Menschen in Bewegung, regt das Denken an, lässt Ideen, Gefühle und Hoffnungen heranreifen. Wir sind nicht einem unbekannten Schicksal ausgeliefert, auf das man angeblich keinen Einfluss nehmen könnte“, schreibt Riccardi in seinem Buch „Der Schrei nach Frieden“. Sant’Egidio ist aktuell vielfältig vor allem in der Ukraine mit eigenen Gemeinschaften und Hilfsprojekten vor Ort aktiv, wie auch im Bemühen, die Beziehungen zu Religionsvertretern im Heiligen Land zu pflegen und Solidarität zu zeigen, sowie in verschiedenen Ländern Afrikas. Wichtige Aspekte der Friedensarbeit sind neben der Vermittlung auch große Programme zur Stärkung der Zivilgesellschaft. Erwähnt seien das internationale DREAM-Programm von Sant’Egidio zur Bekämpfung von AIDS in Afrika, um das Gesundheitssystem zu stärken, das in elf Ländern Millionen von Patienten auf einem Kontinent betreut, auf dem AIDS oftmals nicht nur ein Stigma, sondern auch ein Todesurteil darstellt. Ebenso wichtig ist das sogenannte BRAVO!- Programm zur Geburtenregistrierung in Afrika, wo ca. 30% der Kinder nicht registriert werden und gesellschaftlich inexistent sind. Das führt zu einem prekären Leben, das jeglicher Form von Missbrauch ausgesetzt ist. Millionen Kinder konnte Sant’Egidio durch dieses Programm registrieren und aus der Unsichtbarkeit herausholen. Schulbesuch, Grundrechte wie das Wahlrecht und anderes sind dadurch möglich. Auch der Einsatz zur universalen Abschaffung der Todesstrafe seit 1998 gehört in diesen Bereich der Versöhnungs- und Friedensarbeit.
ES BEGINNT IM HERZEN!
Es gibt viel zu tun auf dem Acker der Friedensarbeit, die Christen können etwas in Bewegung setzen. Und das ist auch notwendig, wie die aktuellen Entwicklungen erneut so eindringlich vor Augen führen. Frieden und Versöhnung sind eine Angelegenheit des menschlichen Herzens und nicht in erster Linie von Verträgen oder Abkommen. Die große Aufgabe der Christen und aller Gläubigen besteht heute mehr denn je darin, die Herzen vom Frieden zu überzeugen, sowie Verwundungen und Hass durch Freundschaft zu versöhnen. Auf diesem Acker kann jeder tätig werden mit der Weisheit des Evangeliums und des Friedens, den der Auferstandene uns Christen als sein großes Testament anvertraut hat (vgl. Joh 20,19.21).