Leidenschaft verbindet!

03. Juni 2024 | von

Vom 14. Juni bis zum 14. Juli 2024 rollt der Ball: 24 Mannschaften kämpfen in Deutschland um die europäische Meisterschaft im Fußball. Unser Autor ist Pastoralreferent und unter anderem stellvertretender Vorsitzender des Arbeitskreises „Kirche und Sport“ der Deutschen Bischofskonferenz. Er blickt in unserem „Thema des Monats“ darauf, wie sich Pastoral vom Fußball inspirieren lassen kann.

Fußball-Europameisterschaft im eigenen Land! Dies ist für unzählige Fußball-Fans immer etwas ganz Besonderes. Auch wenn uns unsere Fußball-Nationalmannschaft in den letzten Jahren nicht gerade mit Erfolg verwöhnt hat, fiebern zahlreiche Deutsche dem anstehenden Turnier entgegen. Denn nach wie vor schafft es der Fußball wie kaum ein anderer gesellschaftlicher Player, die Massen zu begeistern und so etwas wie ein kollektives Bewusstsein spürbar werden zu lassen.
Und das, was viele Menschen begeistert, muss laut Gaudium et spes (1) und den berühmten Eingangssätzen „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände“ auch uns als Christinnen und Christen ein Thema sein – vor allem für mich als Beauftragter für Kirche und Sport des Bistums Würzburg. Deshalb möchte ich im Folgenden der Leidenschaft des Fußballs etwas auf die Spur kommen und dann die Frage stellen, was wir als Kirche von dieser Begeisterung vielleicht sogar lernen können.

Massenphänomen Fußball
Dem Deutschen Fußball-Bund (DFB) gehören aktuell ca. 24.500 Vereine an, in denen mehr als sieben Millionen Mitglieder gemeldet sind. Damit ist der DFB der größte nationale Sportfachverband der Welt. Dazu kommen noch mehrere Millionen Freizeit-Kicker, die nicht in Vereinen gemeldet sind oder einfach nur als Fans Fußball-Spiele regelmäßig verfolgen. In der Saison 2023/2024 etwa schauten über zehn Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer die Spiele der Ersten Fußball-Bundesliga. Diese Liste der Superlative ließe sich noch in vielen weiteren Bereichen fortführen. 
Hinter all diesen genannten Zahlen stecken Menschen jeden Alters, jedes Bildungsgrades, jeder Herkunft, jeder Religion, jeder sozialen Gruppe. Es sind Menschen, die sich Woche für Woche (teils Tag für Tag) mit dem Fußball beschäftigen – lokal, regional, national oder international. Das sind diejenigen, die am Wochenende zuerst die Bundesliga-Spiele verfolgen und ihren Verein anfeuern, um dann am Sonntag in der B-Klasse (oder in höheren Klassen am Samstag) selbst gegen den Ball zu treten. Das sind diejenigen, die Woche für Woche die Stadien der Fußball-Bundesliga in ganz Deutschland besuchen, um ihren Verein hundertprozentig zu unterstützen, und unter der Woche sämtliche Neuigkeiten der Bundesligavereine und des internationalen Fußballs diskutieren. Das sind auch diejenigen, die Wochenende für Wochenende in den unteren Ligen viel Zeit auf den regionalen Sportplätzen verbringen, indem sie ihre Mannschaft zu den Spielen begleiten und darüber hinaus viel Herzblut und Zeit investieren, um ihren örtlichen Heimatverein am Leben zu erhalten.

Eine Frage des Lebens 
Fußball bedeutet für diese Menschen Leidenschaft pur, Emotion pur, Leben pur – mit all dem, was Leben ansonsten auch ausmacht: von der enttäuschenden und bitteren Niederlage bis zum euphorisch gefeierten Sieg ist hier alles an Gefühlen vertreten, was das menschliche Zusammenleben zu bieten hat. Dazu formulierte der Autor Ror Wolf in seinem Buch „Das nächste Spiel ist immer das schwerste“ (2008): „Die Welt ist zwar kein Fußball, aber im Fußball, das ist kein Geheimnis, findet sich eine ganze Menge Welt. Es ist eine zuweilen bizarre Welt, in der unablässig Gefühlsschübe aufeinanderprallen; Emotionen, die jederzeit in ihr Gegenteil umschlagen können: Entzücken in Entsetzen, Begeisterung in Wut, Verzweiflung wieder in Entzücken.“
Es gibt demnach unzählige Menschen, die Fußball nicht nur spielen, sondern ihn leben. Menschen, die mit ihrem Verein – ob aktiv als Spieler oder passiv als Zuschauer – wirklich leiden, wenn ein Spiel verloren wurde. Es geht hier nicht um ein „Schade, dass das Spiel verloren ging“. Es geht hier darum, dass der Fußball vielen Menschen tatsächlich an die Substanz geht und eine Niederlage oder ein schlechtes Spiel einige unruhige Nächte nach sich ziehen kann. An Sieg oder Niederlage machen Fußballer teils sogar einen nicht geringen Teil ihres momentanen Lebensglücks fest. Konnte ein Spiel gewonnen werden, ist das Leben derzeit an sich in vielen beruflichen wie privaten Zusammenhängen in Ordnung. 

Ein Thema der ganzen Nation
All diese Emotionen machen verständlich, weshalb auch die kulturhistorische Diskussion in Deutschland längst zu folgendem Faktum gekommen ist: „Über das beim Spiel Erlebte wird an den Arbeitsplätzen und Schulen, in den Wirtshäusern und Familien berichtet und gestritten. So liefert es unendlich viel Erzählstoff, wirkt bedeutungsvoll in den Alltag der Menschen hinein, bleibt sinnstiftend haften im Bewusstsein der Fans, wird zum Inhalt einer die Generationen übergreifenden Erinnerung, ist dann nicht mehr nur ein Bestandteil individuellen Angedenkens, sondern setzt sich bedeutungsvoll im ,kollektiven Gedächtnis´ (z.B. der Vereine) fest (…) oder sogar im ,kulturellen Gedächtnis´ ganzer Nationen.“ – So Markwart Herzog in einem kulturgeschichtlichen Aufsatz über den Fußball. 
Kurzum: Fußball ist in Deutschland eine omnipräsente Lebensrealität, die zahlreiche Menschen emotional und zeitlich stark beansprucht. Das Fußballfeld ist ein Ort (neben vielen anderen Orten), an dem sich Leben pur abspielt.

Vom Fußball lernen?
Die obigen Beispiele zur Beschreibung der Leidenschaft des Fußballs wären noch um ein Vielfaches zu ergänzen. Zu groß ist die Leidenschaft, die der Fußballsport bei vielen Menschen auslöst.
Dieser Beitrag versteht sich als Plädoyer, sich als Pastoral von dieser Leidenschaft anstecken bzw. inspirieren zu lassen und zu fragen: Wo und wie kann Kirche, wo und wie kann Pastoral von dieser Leidenschaft lernen? Inwiefern ist die Leidenschaft eine anthropologische Brücke zwischen Fußball und Pastoral?
An dieser Stelle kann keine elaborierte Theologie der Emotionen ausgeführt werden. Einen guten Hinweis in diesem Zusammenhang aber gibt der Pastoraltheologe Bernhard Spielberg, der in der gegenwärtigen kirchlichen Rede von Gott vor allem zwei Sprachmuster erkennt. Zum einen ist dies die Theologie der Nomen wie Heil, Schuld, Erlösung, Einheit oder Sünde. Sie ist prägend für den Glaubensausdruck der Angehörigen der Kriegs- und der ersten Nachkriegsgeneration, die unter einem kontrollierenden Gott aufgewachsen sind, der alles zu sehen schien. Ihr Credo könnte lauten: Gott(vater) ist Wahrheit. Die Kinder dieser Generation neigen eher zu einer Theologie der Verben mit ihrem Credo Jesus macht uns frei. Sie wurzelt in der Theologie der Befreiung und hat ihre Spuren unter anderem im Neuen Geistlichen Lied (Wir spinnen, knüpfen, weben) und in der auf gemeinsame Aktivitäten ausgerichteten Gemeindetheologie hinterlassen. Zu diesen beiden Formen tritt nun vor allem bei jungen Menschen eine Theologie der Adjektive hinzu, die sich aus der Erfahrung speist, dass sich Gott eben nicht nur aktiv oder kognitiv, sondern auch kontemplativ und emotional zu erkennen gibt. Ein pointiertes Motto könnte lauten Geist ist geil.
Diese Aussagen sind zwar stark verkürzt, machen aber zumindest klar, dass die unterschiedlichen Theologien der Nomen, der Verben und der Adjektive nicht einfach auseinander abzuleiten sind, sich jedoch auch nicht widersprechen. Sie bringen unterschiedliche Facetten Gottes zum Leuchten. Es geht nicht darum, die drei Theologien gegeneinander auszuspielen, sondern die Vielfalt pastoralen Handelns und die sich daraus ergebenden Aufgaben herauszustellen.

Emotionen in der Kirche
Zweifelsohne kann die kirchliche und theologische Tradition einen reichen Schatz an Emotionen vorweisen. Nur kurz genannt werden sollen in diesem Zusammenhang die Märtyrer, die Mystiker oder Rudolf Ottos Qualifizierung des Numinosen als mysterium tremendum et fascinosum. Auch heute gibt es in der Kirche zahlreiche emotionale Momente oder Veranstaltungen, die von großer Emotionalität geprägt sind. Man denke beispielsweise an die Romwallfahrten der Ministranten, die Katholikentage, die Weltjugendtage oder an die Zeiten, in denen ein neuer Papst gewählt wird. Oder man denke an die vielen, mit großem Engagement gestalteten pastoralen Angebote in den Pfarreien vor Ort (zum Beispiel Jugendgottesdienste oder Familienfeste), bei denen Begeisterung spürbar wird. Diese Ereignisse zeigen immer wieder, so der Theologe Peter Scheuchenpflug, dass „kollektive emotionale Erfahrungen (...) in einem religiösen Rahmen möglich sind“.
Trotzdem würde es der Kirche gut zu Gesicht stehen, das eine oder andere Mal mehr Raum für Emotionalität und Leidenschaft zu schaffen und eine Theologie der Adjektive zu fördern. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Dies ist kein Plädoyer für puren Aktionismus oder eine einseitig event-
orientierte Pastoral. Aber an der einen oder anderen Stelle wären mehr Emotionen in der Pastoral doch wünschenswert.
Ein Blick auf die Leidenschaft des Fußballs kann hierbei gute Impulse für eine emotionale Pastoral bzw. zur Betonung der Theologie der Adjektive leisten. Denn Fußballer kennen ihre Leidenschaft sehr gut und leben diese, wie oben beispielhaft skizziert, in sämtlichen Facetten aus. Da kann es nur belebend sein, wenn Kirche sich davon inspirieren lässt, wie es Peter Scheuchenpflug, sicherlich pointiert, ausdrückt: „Solange die emotionale Anrührung im Gottesdienst nur im innersten Herzenskämmerlein aufglimmen darf und die feuchten Augen der Schwiegermutter bei Trauungen und der leichte Gänsehautschauer beim Absingen von ‚Stille Nacht‘ das Maximum an öffentlicher Rührung darstellen, hat Bach gegen Beckenbauer und Palaestrina gegen Pelé keine Chance, verhallt das ‚Erhebet die Herzen‘ im weiten Kirchenschiff, wohingegen bei [einer] ‚La Ola‘ keiner am Sitz kleben bleibt.“

Leidenschaftlich wirken
Wie könnte die Leidenschaft nun konkret die Brücke zwischen Fußball und Pastoral schlagen?
In erster Linie sollen dazu an dieser Stelle alle hauptamtlichen Seelsorgerinnen und Seelsorger ermuntert werden, genauso wie die Fußballer ihrer Leidenschaft mit aller Emotion nachzugehen und ihren persönlichen Leidenschaften auf den Grund zu gehen: Wo ist mein Energiepool? Wofür kann ich mich leidenschaftlich begeistern? Wofür brennt mein Herz?
Und warum diese persönlichen Leidenschaften vom pastoralen Alltag fernhalten? Denn trotz oder gerade wegen der vielfältigen, pastoralen Aufgaben (um die der Autor als Pastoralreferent in einem pastoralen Raum weiß), sollte pastorales Wirken dennoch vom Bemühen durchzogen sein, die lebensstiftende Botschaft des Evangeliums mit allen Menschen glaubwürdig, einladend und begeisternd zu entdecken. Wenn man als Seelsorger authentisch seine Leidenschaft lebt, kann man Menschen damit tatsächlich begeistern. Darin liegt eine große pastorale Chance, die entlasten und bereichern kann. Denn wenn Menschen bei Seelsorgerinnen bzw. Seelsorgern wirklich spüren, dass diese von etwas begeistert sind, lassen sie sich sicher besser ansprechen und wiederum selbst begeistern. Der Fußball kann hier ein guter Lehrmeister sein, der uns Mut machen und uns inspirieren möchte, unser eigenes Leidenschafts-Potential zu reflektieren sowie punktuell und mit Freude in den pastoralen Alltag einzubringen.

Zuletzt aktualisiert: 03. Juni 2024
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