Loslassen und zur Ruhe kommen
Unser Thema des Monats beschäftigt sich mit dem Loslassen – keineswegs abschließend, aber vielleicht als Anregung, sich herbstliche Gedanken zu machen: Was will in meinem Leben losgelassen werden? Und dann aber vor allem: Was zeichnet sich auf diese Weise an Neuem ab in meinem Leben?
Die Weltgesundheitsorganisation weist regelmäßig darauf hin: Stress gehört zu den größten Gesundheitsgefahren des 21. Jahrhunderts. Er wird vor allem durch zwei Faktoren erzeugt, nämlich solchen im persönlichen Bereich und solchen, die mit der Arbeit bzw. Tätigkeit verbunden sind. Persönlichen Stress können gesundheitliche Probleme auslösen, Streitigkeiten im Freundes- oder Familienkreis und natürlich auch ganz grundsätzliche Veränderungen im Beziehungsgefüge. Am Arbeitsplatz tragen hohe berufliche Anforderungen, Zeitdruck, fehlende Wertschätzung oder Konflikte mit den Kolleginnen und Kollegen zur Erhöhung des Stresses bei. Manch einer steckt solche negativen Belastungen einfach weg, bei manch einem gelingt das über lange Zeit – andere sind schlicht und ergreifend irgendwann überfordert. Die üblichen Erholungsphasen reichen dann nicht mehr aus, um den negativen Stress auszugleichen und zu reduzieren. Was also tun?
Christliches Angebot
Tipps gegen Stress oder wie mit Stress am besten umgegangen werden kann, gibt es zuhauf. Psychologische Ratgeber können hier wertvolle Anregungen bieten, um Krisen gut zu bewältigen. Schwerpunkt dieses Beitrags ist aber nicht die Psychologie, sondern eine christliche geprägte Spiritualität.
Deren jahrhundertelange Erprobung spricht für sich – und dafür, dass sie eine echte Hilfe sein kann, Leben gut zu bewältigen: Mühsames loszulassen und es Gott zu übergeben, ist ein hilfreiches Angebot in der christlichen Existenz. Die Kanadierin Margaret Fishback Powers (Jahrgang 1944), vor allem für ihr Gedicht „Spuren im Sand“ berühmt geworden, fasst dieses göttliche Angebot in ihrem Gedicht „Überlass es mir“ folgendermaßen zusammen:
Überlass sie einfach mir, die Sache,die dir so viel bedeutet.
Ich will dich segnen und dir Ruhe geben. Darum: Überlass es einfach mir.
Lege es zu meinen Füßen nieder,ich werde es vollenden.
Deine Arbeit hat gerade erst begonnen,lege deine Last zu meinen Füßen ab.
O Herr, ich freue mich über dich,von deiner Liebe lebe ich.
Meine Sorgen werden weichen,und du wirst immer mein Freund bleiben.
Erleichterung dank Gott
Auf der Suche nach einem biblischen Wort, das dieser Übergabe aller Sorgen und Mühen an Gott zugrunde liegt, wird man im Matthäus-Evangelium gut fündig. In Kapitel 11, Vers 28 spricht Jesus das berühmt gewordene: „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken.“ Und er macht damit deutlich, dass es mit ihm gewissermaßen einen Ort gibt, wo dem Menschen erlaubt ist, etwas abzugeben, wo der Mensch etwas loslassen kann, wo der Mensch sich von etwas befreien darf. Und wo eben noch Mühsal und Last das Leben schwer gemacht haben, da will er den Menschen erquicken – ihm wieder zum Leben verhelfen.
Dass es dabei aber nicht um ein passives Geschehen geht, wo der Mensch gewissermaßen die komplette Kontrolle über sein Leben Gott überträgt, machen die zwei folgenden Verse deutlich: „Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; und ihr werdet Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“ (Mt 11,29f.) Und mit diesen Sätzen verrät Jesus gleichsam die Strategie, wie der Mensch sein Leben auch in Zukunft leichter gestalten kann – indem er das göttliche Joch auf sich nimmt. Dabei ist das Joch nicht das, womit es manchmal verwechselt wird, nämlich eine neue Last. Es entfaltet auch keine neue, zusätzlich einschränkende Wirkung. Der Mensch wird nicht unter dem Joch noch weiter geknechtet. Ganz im Gegenteil: Als „Geschirr“, das auf Stirn bzw. Nacken von Zugtieren aufliegt, trägt das Joch dazu bei, dass die angehängte Last leichter gezogen werden kann.
Jesus verheißt in göttlichem Auftrag also zweierlei: Dass der Mensch immer wieder, überhaupt und grundsätzlich bei ihm zur Ruhe kommen darf und dass er von Gott ein „Instrumentarium“ bekommt, um die Lasten des Lebens leichter zu tragen.
Sich ausstrecken gen Zukunft
Manche Lasten sind dem Menschen zweifelsohne von außen aufgeladen. Andere – und vielleicht die Mehrzahl – macht der Mensch sich selbst. Gerade hier ist die Kunst des Loslassens gefragt. Von dieser spricht wohl auch der Apostel Paulus, wenn er im Brief an die Gemeinde von Philippi autobiografisch schreibt, dass er vieles im Glauben und Leben nicht erreicht habe, „eines aber tue ich: Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist.“ (Phil 3,13)
Wer sich in Dauerschleife mit den eigenen Nöten und Sorgen beschäftigt, wer nichts loslassen kann, der wird – oft vielleicht sogar im Wortsinn – unter der Last des Lebens mehr und mehr gebückt gehen. Wer Vergangenes, Belastendes, Negatives immer wieder abzugeben vermag, der kann sich mit neuer Freiheit dem Leben stellen.
Erleichterung aus göttlicher Zusage
Mit zu den größten Herausforderungen wird das Loslassen von Erwartungen gehören. Kein Leben dürfte von solchen frei sein. Erwartungen werden von außen an einen herangetragen, man steckt sie sich aber auch selbst. In ihnen liegt ohne Zweifel eine motivierende Kraft: Erwartungen können den Menschen zu Höchstleistungen treiben, sie können ihn anspornen, sie können dazu beitragen, dass man gewissermaßen über sich hinaus wächst.
Erwartungen können aber auch zu einer gewaltigen Last werden. Immer mehr Druck wird aufgebaut, die Messlatte wird beständig höher gelegt und das Risiko des Scheiterns wird immer größer. Gut möglich, dass dann bald gar nichts mehr geht.
Doch so einfach abschütteln lassen sich weder die Erwartungen der anderen, noch die, die man an sich selbst hat. Es ist gesellschaftlich sehr tief eingeprägt, dass man genügen muss. Vielleicht kann es aber gerade deshalb immer wieder gut sein, sich zu vergewissern, woher die eigene Würde, woher das persönliche Ansehen denn eigentlich kommt. Ein Christ darf glauben: Würde und Ansehen stammen nicht aus eigener Leistung, nicht aus Einschätzung durch andere, nicht aus Geld und Besitz, sondern aus der göttlichen Zusage an jedes Leben. Und dafür muss ich nichts tun. Mein eigentlicher Wert kommt als Geschenk Gottes, ganz ohne jede Erwartung, der ich etwa im Vorfeld genügen müsste.
Kontrolle abgeben dürfen
Wo ich bereit bin, Erwartungen loszulassen und auch mich selbst davon zumindest ein wenig zu befreien, da wird es im zweiten Schritt gelten, dass ich mir auch bewusst mache, die Kontrolle loszulassen. Ich kann – aber ich muss auch nicht – alles kontrollieren. Schon allein deshalb, weil nicht alles in meiner Hand liegt.
Der selbstbewusste Petrus muss sich in einem entscheidenden Augenblick seines Lebens von Jesus sagen lassen: „Amen, amen, ich sage dir: Als du jünger warst, hast du dich selbst gegürtet und gingst, wohin du wolltest. Wenn du aber alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst.“ (Joh 21,18) Das wird wohl weniger eine Drohung sein als vielmehr eine mahnende Erinnerung: Es gibt Augenblicke, da der Mensch nicht alles unter Kontrolle haben kann – und eben auch nicht muss.
Wer jahrelang in der Verantwortung war, sei es in der Familie, im Beruf, im Verein, in der Kirche, in der Politik oder wo auch immer, der wird natürlich die Vorzüge dieser Verantwortung genießen – aber in den meisten Fällen wohl doch auch befreit aufatmen können, wenn ihm eines Tages diese Verantwortung genommen ist.
Ruhende Vergangenheit
In solchen Übergängen wird man dann aber auch ganz bewusst entscheiden müssen, die Vergangenheit loszulassen – die glorreichen Zeiten, aber auch die schweren Augenblicke.
Wer sich von glorreichen Zeiten nicht verabschieden kann, der wird ständig der vermeintlich guten alten Zeit nachtrauern: Damals, als ich jung und schön war…. damals, als ich noch gebraucht wurde… damals, als ich noch Macht und Geld und Einfluss hatte…
Vielleicht trifft es aber den noch schlimmer, der sich, aus welchem Grund auch immer, vom Schweren nicht verabschieden kann. Kein Leben kommt ohne Wunden und Verletzungen aus. Es bleiben Wunden und Narben. Nicht alles heilt, als wäre nie etwas gewesen. Doch wer immer wieder in alten Wunden bohrt, den eigenen oder denen anderer, der holt die Verletzungen der Vergangenheit immer wieder in seine Gegenwart zurück. – Glücklich, wer in der Lage ist, unter Vergangenes einen Schlussstrich zu ziehen. Das heißt ja nicht, dass man alle Erinnerungen tilgen muss. Aber dass man sich bewusst macht: Alles hat seine Zeit. Das mag manchmal traurig sein, oft aber ist es ein wirklicher Segen.
Bei Zeiten aufräumen
Für viele leichter, für manche aber auch schwerer: das Loslassen von materiellen Dingen – von Gegenständen, die man über die Jahre und Jahrzehnte seines Lebens angesammelt hat. Wenn es manchmal heißt, das letzte Hemd habe keine Taschen, dann wird damit sehr drastisch deutlich gemacht: Im Angesicht des Todes ist jeder materielle Besitz nur noch relativ. Was nützt einem dann all das angesammelte Hab und Gut? Was nützt die ganze Mühe, die man aufgewandt hat, um sein Vermögen zusammen zu halten? Natürlich wird ein jeder Mensch danach streben, ein materiell möglichst sorgenfreies Leben zu führen. Es macht vieles leichter, wenn nicht jeder Cent mehrfach umgedreht werden muss. Und wer fürs Alter vorgesorgt hat, wird auch dieser Phase des Lebens deutlich gelassener entgegen gehen können als jemand, bei dem es vorne und hinten kaum zum Leben reicht.
Doch Besitz kann eben auch zur Last werden. Er bindet Kräfte und Aufmerksamkeit. Und wer immer nur sammelt und hortet, der verliert bald den Überblick darüber, was er eigentlich alles hat. Es sind dann die Nachkommen, die aufräumen müssen – und sich schließlich nicht selten nicht mehr anders zu helfen zu wissen, als unterschiedslos alles in die Tonne zu werfen. Eine Entrümpelungsfirma sorgt dafür, dass Wohnung und Haus binnen kürzester Zeit leer geräumt werden. Wohl dem, der im richtigen Augenblick beginnt, seine Sachen zu ordnen und auszusortieren, sich neu auf das Notwendige zu beschränken. Und dabei weniger die Einschränkung spüren darf als vielmehr eine völlig neue Freiheit, die aus dem Loslassen kommt.
Zwischen Treue und Einengung
Vielleicht gehört zu diesem Aufräumen auch gelegentlich das Loslassen von Beziehungen. Nun hält vor allem die Kirche den Wert der Treue hoch, vor allem in ehelichen Beziehungen. Und seit jeher sehnen sich Menschen nach einer verlässlichen Partnerschaft – nach Menschen, die auch dann bei einem bleiben, wenn die Sonne nicht scheint und wenn es große Herausforderungen zu bestehen gibt. Immer wieder machen Menschen auch die Erfahrung, dass ihre Beziehung gerade erst da reift und an Stabilität und Tiefe gewinnt, wenn gemeinsam größere Schwierigkeiten gemeistert wurden.
Doch es können Beziehungen im Freundes- und Kollegenkreis, in Verwandtschaft und Familie eben leider auch zur Last werden. Da wird man von jemandem dominiert, vielleicht über Jahre und Jahrzehnte herabgesetzt und ausgenutzt, da raubt einem jemand über lange Phasen Freiheit, Zeit, Energie und vielleicht vieles mehr. Manchmal braucht es da tatsächlich einen Schlussstrich, um im wahrsten Sinn des Wortes wieder aufleben zu können.
Neue Horizonte
Die Liste, was es im Lauf des Lebens loszulassen gilt – von Erwartungen bis hin zu Beziehungen – ist lang und gewiss nicht abschließend. Sie sieht von Mensch zu Mensch unterschiedlich aus. Und es ist auch die Art und Weise sehr unterschiedlich, wie Menschen das Loslassen gelingt. Manch einem fallen solche Prozesse ganz leicht; andere brauchen einen langen Anlauf und viel Überwindung; wieder andere nehmen möglicherweise sogar professionelle Hilfe in Anspruch. Ein einfaches Patentrezept für alle gibt es nicht.
Es fängt aber wohl immer damit an, sich bewusst zu machen, dass es – vielleicht! – etwas loszulassen gilt. Wer sich damit ohne Druck und Zwang auseinandersetzt, sieht vielleicht auch neue Ziele am Horizont und ahnt: Mit dem Loslassen wird einem etwas Neues geschenkt. Hermann Hesse (1877-1962) fasst das in den letzten Versen seines Gedichts „Stufen“ so zusammen:
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,An keinem wie an einer Heimat hängen,Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.Kaum sind wir heimisch einem LebenskreiseUnd traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die TodesstundeUns neuen Räumen jung entgegen senden,Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!