Rituale im Wandel – ein Streifzug

09. Januar 2023 | von

Was wird das neue Kalenderjahr bringen? Viele Menschen erleben Jahresübergänge mit Unsicherheiten und Sorgen. Auf der Suche nach Halt bieten Rituale eine Möglichkeit für den Menschen, sein Leben mit Struktur zu versehen.

Zu einem guten Leben gehören Rituale, die von klein auf Geborgenheit und Beständigkeit vermitteln. Bei näherer Betrachtung sehen wir eine ganze Fülle von Handlungsmustern, die Festzeiten und alltägliche Abläufe prägen – auch und gerade in Vollzügen unseres christlichen Glaubens. Ab und an tut es gut, diese religiösen „Gewohnheiten“ auf den Prüfstand zu stellen im Sinne einer geistlichen Unterscheidung. Wo sind sie lebensförderlich und heilsam, auf die Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes hin ausgerichtet? Wo sind sie hinderlich und sogar krankmachend? Wo und wie braucht es neben der persönlichen Überprüfung eine redliche Auseinandersetzung gemeinschaftlicher Art? Was ist zu bewahren, was bedarf der Wandlung?

Begriffsklärung

Wir betreten das sensible Feld aktueller Kontroversen, denn vieles ist im Fluss: die klassischen Sakramente und Sakramentalien treffen auf neue Rituale auf dem Areopag der jeweiligen Kultur. Vorab steht der klassische Versuch einer Begriffsklärung aus kirchlicher Sicht. „Die Sakramente sind von Christus eingesetzte und der Kirche anvertraute wirksame Zeichen der Gnade, durch die uns das göttliche Leben gespendet wird. Die sichtbaren Riten, unter denen die Sakramente gefeiert werden, bezeichnen und bewirken die Gnaden, die jedem Sakrament zu eigen ist. In den Gläubigen, die sie mit der erforderlichen inneren Haltung empfangen, bringen sie Frucht.“ (Aus: Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1131) „Als Sakramentalien bezeichnet man die von der Kirche eingesetzten heiligen Zeichen, die dazu bestimmt sind, die Menschen auf den Empfang der Frucht der Sakramente vorzubereiten und die verschiedenen Lebensumstände zu heiligen. Unter den Sakramentalien nehmen die Segnungen einen wichtigen Platz ein. Sie sind zugleich Lobpreisungen Gottes um seiner Werke und Gaben willen und Bitte der Kirche für die Menschen, damit diese von den Gaben Gottes im Geist des Evangeliums Gebrauch machen können.“ (Aus: KEK, Nr. 1677f.) Hier sei angemerkt, dass das Rollenbuch „Benedictionale“ sage und schreibe 99 Segnungen kennt! Eine sehr allgemeine Definition sei für den Begriff „Ritual“ dazu gestellt: „die hergebrachte, wiederholbare Art und Weise des Kult-Vollzugs in Wort und Zeichen. Ritual konnotiert Religiöses.“ (LThK, Bd. 8, S. 1210)

Persönliche Erfahrungen

Vom Allgemeinen zum Konkreten: Eigene Erfahrungen sollen als Beispiele für Wandlungsprozesse im Umgang mit Ritualen innerhalb der Familie bzw. Ordensgemeinschaft dienen. Wir kommen aus der wohl „ritualschwangersten“ Zeit des Jahres. Advent, Weihnachtsfest, Silvester, Dreikönig bis zum Fest der Taufe Jesu sind nicht nur innergemeindlich mit vielfältigen Bräuchen besetzt, sondern gesellschaftlich mit zunehmend deutlicher Zeitverschiebung nach vorne verlagert. Die christlichen Wurzeln sind „irgendwie“ noch im Untergrund vorhanden (z.B. Christmettenbesuch). Im Oktober beginnt bereits das Weihnachtsgeschäft, nach dem Jahreswechsel die Dekoration auf Fasching hin. Auch in einer kirchenentfremdeten Welt – wer ist eigentlich wem fremd? – bleibt die Faszination für die Krippe.

Eine persönliche Anmerkung: Eines ist ganz klar – unsere Familienkrippe bekommt einmal meine Schwester. MutterDorothea ist seit Jahren entschieden. Darüber wird es auch so gut wie sicher keinen Streit geben zwischen ihr und uns drei Brüdern. Sind wir doch von klein auf alle Gesegnete, im buchstäblichen Sinn des Wortes mit dem Kreuz auf die Stirn beim Abschied bis ins vorgeschrittene Alter. Das bindet uns auch zusammen. Die Krippe steht für Erinnerungen an Weihnachtsfeiern in der Großfamilie, an Geschenke und Geborgenheit, für Staunen, Gebete und Lieder. Ob meine Schwester die Krippe, eine Art Familienheiligtum, bis zum 2. Februar stehen lässt in ihrer Familie, mit welchen Ritualen die Feiertage verbracht werden, ist wohl dem Wandel der Zeit und ihren Lebensverhältnissen geschuldet. Die kindheitlichen Erfahrungen an der häuslichen Krippe sind für mich persönlich ein wunderbares Fundament. Sie haben eine Vertiefung erfahren durch den Besuch des franziskanischen Bethlehem bei einer Assisifahrt im Noviziat. In der Grotte von Greccio im Rietital Eucharistie zu feiern, vom Erleben des Ordensvaters an dieser Stelle zu hören (heuer jährt sich zum 800. Mal die Krippenfeier!) und mitten im Sommer „Stille Nacht“ zu singen, bleibt unvergessen.

Franziskanische Inszenierungen

Grundsätzlich ist franziskanisch-klarianische Spiritualität ritualfreundlich. Der Poverello spielt bereits in Rom einen Tag Pilger – verkleidet und bettelnd – als eine Etappe seiner Bekehrung. Er gibt seinem Vater öffentlich die Kleider zurück und wird vom Bischof von Assisi unter den Mantel genommen. Er will dem armen Krippen- und Königskind von Bethlehem auf die Spur kommen durch eine gemeinschaftliche Feier mit Teilhabe der Tiere am Jubel über die Menschwerdung des Gottessohnes. Auch sein Sterben in der Überlieferung des Thomas von Celano ist eine Art Liturgie vertrauensvollen Heimgehens zum Vater.

Klösterliche Rituale

Rituale gehören zu unserem Ordensalltag durchs Jahr, die Woche und den Tag. Ein Blitzlicht dazu mag an dieser Stelle genügen: Die Weihnachtsfeier im Konvent (Bescherungsformen sind da durchaus im Fluss...), die Verlosung der Jahrespatrone und ein biblisches Wort auf den Weg an Epiphanie, die Antoniusfeier mit Brötchenausgabe an unsere Gottesdienstbesucher, das gemeinsame Gebet an der Ordensgruft an Allerheiligen mit Sonnengesang – feste Stationen entlang des Jahreskalenders. Während der Woche bekommt der Freitag durch eine Prozession im Kreuzgang von Würzburg in die Valentinuskapelle einen Akzent nach dem Mittagstisch: Corda pia – eine Form der Verehrung des heiligen Kreuzes. Hier erinnere ich mich gern an viele Fahrten mit Jugendlichen auf den Berg La Verna, wo die Franziskaner täglich in der Todesstunde Jesu betend und singend durch die zerklüftete, wilde Berglandschaft ziehen mit ähnlichen Gesängen. Am Samstag machen wir den gleichen Weg in Würzburg zur Verehrung der Gottesmutter durch den Kreuzgang, die Lauretanische Litanei hat ihren festen Platz. Täglich halten wir am Abend vor dem Essen ein Totengedenken für diejenigen, die einen Jahrestag ihres Heimgangs hatten, Namen und Geschichten behalten auch so Lebendigkeit und Würdigung über die Zeiten hinweg. Wenn ich länger außer Haus bin, erbitte ich den Segen von meinem Guardian, bzw. melde mich persönlich zurück. Wir feiern Namenstag stärker als Geburtstag. Nach dem Requiem für einen verstorbenen Bruder wird der Sarg zum „Salve Regina“ aus der Franziskanerkirche getragen von uns. Diese Rituale sind nach außen oft wenig bekannt, so wie sich in Familien ebenfalls Formen herausbilden, die tragend sind und den Zusammenhalt fördern. Vielleicht ist es symptomatisch, dass im Neuen Gotteslob unter der Überschrift „Mit der Familie feiern“ Hilfestellungen zur Gestaltung von Ritualen gegeben werden, damit sie nicht gänzlich in Vergessenheit geraten.

Zwischen Starre und Beliebigkeit

Die Gefahren liegen auf der Hand: Erstarrung auf der einen Seite, Beliebigkeit in der Gestaltung andererseits. Rituale sind auf ihre Sinnhaftigkeit zu überprüfen und den Kontext, in dem sie vollzogen werden. Jesus selbst ist mit jüdischen Ritualen wie Beschneidung, Wallfahrt, Sabbatheiligung, Festkalender großgeworden. Jesus provoziert in Wort und Tat, wo Glaubensvollzüge sinnentleert sind und der Mensch in Freud und Leid zu kurz kommt, Gesetzlichkeit vor Barmherzigkeit gestellt wird. Die Feier des Letzten Abendmahles ist gleichsam ein gewandeltes Ritual, das den Rahmen des Pessahmahles übersteigt. Die christlichen Gemeinden entwickeln in der Ablösung vom Judentum eigene Rituale. Im Römischen Reich werden vorgefundene religiöse Bräuche umgedeutet, der „sol invictus“ wird zur Sonne der Gerechtigkeit. Es bleibt immer die Frage lebendiger Treue, d.h. nach dem, was den inneren Gehalt der Feier neu zum Leuchten bringen kann.

Versuche für neue Zugänge

Gehen wir an den Knotenpunkten von Leben entlang an ausgewählten Stellen! Übergänge lösen Freude und Bangigkeit aus, in der Ungewissheit wird Gottes Nähe und Treue zugesagt und in Zeichen vermittelt. Ich nenne Sakramente einmal „Spitzenrituale“, die in neuen Zusammenhängen angesiedelt werden müssen, um ihre Wirkung zu entfalten und nicht zum Museumsgegenstand zu werden.

Die Entscheidung zur Taufe kennt heute viel mehr Wenn und Aber als in früheren Zeiten, ich höre junge Eltern laut denken: „Unser Kind soll selbst entscheiden.“/ „Wir können uns nicht einigen, in welcher Konfession die Feier sein soll.“/ „Wir sind innerlich von den Kirchen entfernt, aber wollen, dass eine höhere Macht unser Kind beschützt.“ Das St. Elisabeth-Hospital in Bochum geht einen neuen Weg und lädt die Angehörigen zur Segensfeier für Neugeborene ein. Jede zehnte angeschriebene Familie kommt zu diesen Gottesdiensten, zu denen mehrmals im Jahr ökumenisch eingeladen wird. Zur Feier gehört kein Wasser, keine Taufformel, kein Taufkleid und keine Taufkerze – Lieder, biblische Texte, Einzelsegen, ein Geschenk sind Gestaltungselemente. So gibt es einen Schutzengel aus Holz und ein Lätzchen: „Ich bin gesegnet, auch wenn mal was schiefgeht.“ Es bleibt wieder einmal die Frage, ob es gut ist, soweit auf religiöse Bedürfnisse von Menschen einzugehen und inwiefern nicht doch eine Konkurrenz zum Sakrament entsteht, ob damit die Taufe nicht noch weiter wegrückt mit ihrem Anspruch von Verbindlichkeit jenseits aller Freude auch an geistlichen Events. Wer hat Ideen, die Sehnsucht nach der Fülle des Sakraments zu wecken und die Feier dieses Kindersegens als Brückenglied zu gestalten?

Kein Kreuzchen fürs Kind?

In den letzten Jahren ist eine neue Sensibilität für das Ansprechen und Berühren von fremden Kindern gewachsen – verstärkt durch die Einschränkungen der Coronapandemie. Wie begegne ich als Liturge einem Kind, das mit den Eltern oder Begleitpersonen zur Kommunionausteilung mitgenommen wird? Die Zuwendung braucht eine neue Form anstelle vom Kreuz auf die Stirn und die Berührung mit der Hand. Eine Karte zur Kindersegnung des Bistums Rottenburg-Stuttgart gibt konkrete Hinweise: sich Zeit nehmen für den Blickkontakt auf Augenhöhe, evtl. den Namen des Kindes erfragen und eine Hand über seinen Kopf halten, die Segensworte ruhig und langsam sprechen. Den Erwachsenen oder das Kind selbst einladen: „Jetzt kannst du das Kreuzzeichen machen.“ „N., Gott begleitet und behütet dich.“ „Gott ist mit dir!“

Divergierende Standpunkte

Heftig umstritten ist die Öffnung von Ritualen im Bereich von Ehe und Partnerschaft. Hier tun sich innerkirchlich Gräben auf, denn die christliche Ehe und Familie ist in den letzten Jahren nicht nur von außen durch die Akzeptanz der Vielfalt von Lebensformen, sondern auch von Theologie und Seelsorge her in der Auseinandersetzung. Eine Stellungnahme der vatikanischen Glaubenskongregation im März 2021 verneint die Möglichkeit, Paaren aus Personen des gleichen Geschlechts einen Segen zu erteilen. Dies sei keine ungerechte Diskriminierung und „kein Urteil über die Person“. Das hat zum Protest hierzulande geführt, so dass zu den entsprechenden Feiern seither unübersehbar bunt eingeladen wird. Bei der dritten Versammlung des „Synodalen Weges“ wurde im Februar 2022 folgender Antrag diskutiert: „Die Synodalversammlung fordert die Bischöfe auf, in ihren Bistümern Segensfeiern von Paaren, die sich lieben und binden wollen, denen aber die sakramentale Ehe nicht zugänglich ist oder die sie nicht eingehen wollen, offiziell zu ermöglichen. Dies gilt auch für gleichgeschlechtliche Paare auf der Basis einer Neubewertung von Homosexualität als Normvariante menschlicher Sexualität.“ Persönlich sehe ich mich als franziskanischer Ordensmann und Seelsorger in einer Riss-Wunde, weil ich Menschen mit den auseinanderstrebenden Standpunkten verbunden bin und ihrer jeweiligen Argumentation und Glaubensüberzeugung wertschätzend begegnen möchte. Wer und was hält uns zusammen? Das bedrängt mich und bewegt zu Gespräch und Gebet.

Sterbesegen als Ergänzung

Zu neuen Ritualen am Lebensende gehört der Sterbesegen. Bischof Friedhelm Hofmann hat 2014 für das Bistum Würzburg eine liturgische Handreichung für die Kranken- und Altenpastoral approbiert, die auf geänderte seelsorgliche Bedingungen Antwort geben will. Es wird als sinnvoll erachtet, neben der Krankensalbung noch ein weiteres Ritual zur liturgischen Begleitung des Lebensendes zu haben. Es sei nicht mehr selbstverständlich, dass Priester erreichbar sind, die dieses Sakrament spenden können. Die Wegzehrung könne ebenfalls nicht immer gereicht werden, weil die PatientInnen beatmet werden oder komatös sind. Die Feier der Sakramente sei oft nicht mehr im religiösen Empfinden der Sterbenden verankert und deshalb nicht gewünscht. Der Sterbesegen kann von Priestern, Diakonen, beauftragten Laien und ökumenisch gefeiert werden. Die liturgischen Modelle haben auch besondere Situationen im Blick, z.B. wenn ein Kind tot zur Welt kommt, wenn ein an Demenz erkrankter Mensch im Sterben liegt, wenn ein Mensch unerwartet stirbt.

Vorbereitung auf eine neue Wirklichkeit

Die Lebendigkeit und Beständigkeit eines Rituals entscheidet sich an der persönlichen inneren Einstellung. Sie wird gespeist von der Bereitschaft zur Preisgabe, mit der ein Mensch ein Stück seiner selbst hingibt, und der Offenheit, sich mit anderen Gemeinden an anderen Orten zusammenbinden zu lassen in überlieferten Ritualen, die daran zu messen sind, ob sie zur Quelle allen Segens führen. Ob Sakrament, ob Sakramentalie oder „neuer“ Ritus – sie werden einer Wirklichkeit weichen, die jetzt kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat. Auf diese Freude wollen uns die Zeichen des Heils vorbereiten.

Zuletzt aktualisiert: 09. Januar 2023
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