Sehnsucht nach Stille
Corona hat auch das Jahr 2022 noch geprägt. Das Virus hat viel Schaden angerichtet und Nöte ausgelöst. Studien haben aber auch festgestellt, dass die verhängten Lockdowns der letzten Jahre für viele Menschen gute Zeiten waren. Sie haben die Stille genossen.
Cicho pada s´nieg – so ist es mir seit meinen Kindheitstagen vertraut. Mittlerweile weiß ich, dass es sich dabei nicht um ein auf Polnisch getextetes Weihnachtslied handelt, sondern um einen ursprünglich deutschen Text: Leise rieselt der Schnee. Seine Wurzeln liegen dennoch im heutigen Polen. Das Lied wurde nämlich vom evangelischen Pfarrer Eduard Ebel im Jahr 1895 in Graudenz gedichtet. Graudenz ist eine Stadt in der polnischen Woiwodschaft Kujawien-Pommern, gehörte damals aber als Teil der Provinz Westpreußen zum Deutschen Reich. Mehr als die Textgeschichte interessiert mich aber der Inhalt: „Leise rieselt der Schnee, / Still und starr liegt der See, / Weihnachtlich glänzet der Wald: / Freue Dich, Christkind kommt bald.“ Das Lied erwartet Weihnachten. Und Weihnachten, so assoziieren Text und Melodie, muss ein Ereignis des Friedens und der Stille sein. Man wird ruhig und es ist gut: „In den Herzen ist’s warm, / Still schweigt Kummer und Harm, / Sorge des Lebens verhallt: / Freue Dich, Christkind kommt bald.“ Und gut kann man sich dann vorstellen, wie man bei Kerzenschein in der warmen Stube sitzt und draußen in der Kälte leise die Schneeflocken vom Himmel rieseln….
Zwischen Trubel und Erschöpfung
Dieses ruhig-getragene Lied mag nicht so ganz zu unserem Erleben der vorweihnachtlichen Zeit passen. Da müssen in überfüllten Geschäften Weihnachtsgeschenke gekauft werden, zahlreiche Advents- und Weihnachtsfeiern wollen besucht sein, das Haus muss geputzt und geschmückt werden – der Advent kann durchaus in Stress und Hektik ausarten. Anders als eigentlich gedacht.
Aber vielleicht drücken Lieder wie „Leise rieselt der Schnee“ gerade vor diesem Erleben so sehr die Sehnsucht des Menschen aus, die Sehnsucht nach Ruhe und Stille, nach Frieden im Herzen und in der Welt, nach Ausgeglichenheit und Gelassenheit.
Bald werden es zehn Jahre sein, dass ich in unserem Bildungshaus arbeite und regelmäßig Kurse für Erwachsene anbiete. Es sind eigentlich Bildungsveranstaltungen. Es gibt ein Programm und dieses soll mit Inhalten gefüllt sein. Nicht zuletzt deshalb, weil die Teilnehmenden ja auch eine Kursgebühr bezahlen. Es ist aber zu beobachten, dass in den letzten Jahren in der Vorstellrunde zu Beginn der Kurse immer häufiger der Wunsch geäußert wurde: Bitte nicht so viel Programm – ich habe mich so auf die Ruhe gefreut, weil ich vom Alltag so erschöpft bin.
In unserem Kloster Maria Eck gibt es seit Jahren eine Einsiedelei im Wald. Mittlerweile wurde eine zweite gebaut. Die Nachfrage ist riesig. Über Monate im Voraus gibt es keine freien Zeiten mehr. Und das, obwohl man in der Einsiedelei auf jeglichen Luxus verzichten muss. Und das geistliche Programm, das man mitmacht, hat es durchaus in sich. Doch offensichtlich sehnen sich Menschen danach – als Kontrast zu ihrem Alltag.
Lärm und seine Folgen
Wer mit jemandem verheiratet ist, der schnarcht, weiß aus leidvoller Erfahrung, wie sich diese Unruhe im Schlafzimmer schlecht auf den Schlaf auswirkt. Experten vermuten, dass in Deutschland fünf Millionen Menschen regelmäßig schnarchen. Und sie stellen fest, dass dieses Schnarchen eine Lautstärke von bis zu 90 Dezibel erreicht. Zum Vergleich: normales Atmen oder Schneefall erreicht 10 Dezibel. 90-Dezibel-Schnarchen liegt zwischen dem Lärm einer Hauptverkehrsstraße (85) und dem Krach einer Holzfräsmaschine (95).
Noch sehr viel größer sind die Lärmbelastungen allerdings für Millionen von Menschen tagsüber. Viele sind an ihrem Arbeitsplatz dauerhaft gesundheitsgefährdenden Lärmbelastungen ausgesetzt. Lärm löst Stressreaktionen aus. Die Folge, aus Gewohnheit häufig kaum bemerkt oder schlicht und ergreifend ignoriert: Der Körper schüttet verstärkt Stresshormone aus, der Blutdruck steigt, das Herz schlägt schneller. Allein für beruflich verursachte Lärmschwerhörigkeit zahlen die Unfallversicherungen in Deutschland jährlich mehr als 100 Millionen Euro an Renten.
Künstliche Stille
Lärmschutz per Stöpsel oder Ohrenschützer gehört in vielen Berufen mittlerweile zur vorgeschriebenen Berufsausrüstung. An Autobahnen und Zugstrecken werden Lärmschutzwände errichtet. Beim Teeren neuer Straßen greift man bisweilen auf sogenannte „Flüsterbeläge“ zurück und beim Konstruieren neuer Maschinen wird Wert darauf gelegt, dass sie zumindest geräuschärmer als Vorgängermodelle sind.
So richtig interessant aber wird es dann beim Kauf von Kopfhörern zum Musikhören. Die gibt es nämlich mittlerweile mit Active Noise Cancellation (ANC), also einer aktiven Unterdrückung der Umgebungsgeräusche. Die Hersteller versprechen, den Schall der Umgebung mittels der Kopfhörer aufzunehmen und daraus ein Negativ zu erzeugen. Der Lärm von außen und der „Antischall“ heben sich dann gegenseitig auf und erzeugen Ruhe. Wirkliche Ruhe ist das freilich nicht. Denn der Kopfhörer soll schließlich die Musik abspielen – und auch die kann mitunter ziemlich laut sein.
Tiefere Sehnsucht
Von diesen äußeren Lärmbelastungen und den Schutzmechanismen abgesehen, hat die Sehnsucht nach Stille aber wohl weit tiefere Dimensionen. Denn auch dort, wo kein Dauerschall in Dezibel gemessen wird, kann der Mensch Situationen als hektisch und „laut“ empfinden. Die ständige Erreichbarkeit per Handy, massenhafte E-Mails, die alle möglichst rasch beantwortet werden wollen, Nachrichten per Fernseher, Radio und Internet, eine sich – gefühlt – immer schneller drehende Welt, Wünsche, Kommentare und Anforderungen an allen Ecken und Enden, überall Geräusche und Hintergrundmusik: All das kann den Menschen bedrängen, belasten und wohl auch krank machen.
Selbst wenn die „stade Zeit“ im Advent gar nicht so „stad“ ist: Möglicherweise lässt sie uns doch verstärkt unsere Sehnsucht spüren, dass es auch Zeiten geben müsste, in denen alle diese äußeren Einflüsse einmal Pause haben und abgeschaltet sind.
Stille und Struktur
Hinter Andre Vries, einem Niederländer, der jahrelang als Chefeinkäufer einer großen Modekette durch die ganze Welt reiste, liegt ein genau solch „lautes“ Leben. Heute geht es ihm – unerwartet – anders. Er wurde mit Rauschgift erwischt und zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Sicher hat er sich sein Leben anders vorgestellt, merkt nun aber auch: „Hier, im Gefängnis, habe ich die Stille gefunden!“ Und es klingt fast so, als ob er noch ein „endlich!“ anschließen würde. Mit drei Häftlingen teilt er sich eine Zelle. Der Alltag ist klar strukturiert. Einflüsse von außen über Nachrichten und Kontakte sind streng reglementiert. Es bleibt ihm viel Zeit zum Nachdenken und für die Stille. Und vielleicht ist sein Alltag sogar ein bisschen klösterlich…
Klösterliches Schweigen
Seit einigen Jahren bietet das Museum im ehemaligen Kloster Dalheim bei Paderborn eine Art Experiment an, zuletzt am 6. März dieses Jahres. Am „Tag des Schweigens“ luden 16 Stationen eines Schweige-Parcours dazu ein, „zur Ruhe zu kommen und über die alte Tradition zu reflektieren.“ Das Angebot in der ehemaligen Klosterkirche nennt sich „stilles Chillen“, im Kreuzgang kann man ganz konkret erfahren, „wie lang sich eine Minute ohne Worte anfühlen kann“, und im Kapitelsaal wird an die Benediktsregel und ihre Mahnungen zum klösterlichen Stillschweigen erinnert. Im 42. Kapitel seiner Regel schärft er den Mönchen ein, dass sie sich immer „mit Eifer um das Schweigen bemühen“ müssen. Selbst das Klosterwirtshaus macht mit und bietet einen Raum an, in dem man – wie die Mönche früher – sein Mittagessen im Schweigen einnehmen kann. Gesprochen werden darf, wie im Mittelalter, nur im „Parlatorium“.
Reichliche Bezüge zum mönchischen Schweigen finden sich in der griechischen Sammlung der Apophtegmata Patrum. Darin sind die Weisungen der Wüstenväter überliefert. Viele Geschichten zeigen, wie sehr es ihnen auf das Schweigen ankommt: „Drei von den Vätern hatten die Gewohnheit, jährlich zum seligen Antonios zu kommen. Die beiden ersten fragten ihn über die Gedanken und über das Heil der Seele. Der Dritte schwieg und stellte keine Frage. Nach langer Zeit sprach der Altvater Antonios zu ihm: ‚Siehe, jetzt kommst du schon so lange Zeit hierher und fragst mich nichts.‘ Er aber gab ihm zur Antwort: ‚Es genügt mir schon, dich zu sehen, Vater!‘“
Dass das Schweigen auch für die Wüstenväter aber nicht nur Erfüllung einer Sehnsucht ist, sondern durchaus eine nicht nur einfache Übung, zeigt der folgende kurze Abschnitt: „Man erzählte über den Altvater Agathon: Drei Jahre trug er einen Stein im Munde, bis er zurechtkam mit dem Schweigen.“
Für den Münsterschwarzacher Benediktiner und weltbekannten Buchautor P. Anselm Grün gehört die Stille wesentlich dazu: „Ich stehe um 4.40 Uhr auf und genieße jeden Morgen die dreistündige Stille: das gemeinsame Chorgebet, das ins Schweigen führt, die stille Meditation, die Eucharistie, Frühstück im Schweigen und Lesen. Für mich ist das eine Quelle, aus der ich jeden Tag schöpfe, die mich davor bewahrt, in der Arbeit aufzugehen.“ Er ist überzeugt davon, dass in der Stille das Wesen der Dinge zum Vorschein kommt – davor wiederum, so weiß er, können Menschen auch Angst haben.
Angst vor dem Schweigen
Denn so groß die Sehnsucht nach Ruhe und Stille immer wieder auch sein mag: Es gibt durchaus Menschen, die sich vor der Stille, die sie oft auch mit Einsamkeit und Alleinsein verbinden, fürchten. Der Psychologe und Verfasser der „Zukunftsstudie 2021“ kennt dafür Gründe: „Lärm hat durch die Geräuschkulisse auch etwas Beruhigendes, weil die Menschen dann spüren, dass das Leben draußen noch da ist. Zum Unglück der Stille gehört ja auch, dass man nicht nur in die eigenen Abgründe schaut, sondern dass man das Gefühl hat, allein in einer toten Welt zu sein. Die Stille, wenn sie dann als leblos, feindlich oder auch als ungeheure Langeweile erlebt wird, stresst Menschen daher noch mehr als ein Lärmpegel, der es verhindert, die eigene Stimmung zu spüren.“
Vielleicht liegt das auch daran, dass der Mensch wirkliche Stille gar nicht wirklich kennt: Schon drei Monate vor der Geburt ist ein Embryo in der Lage, Geräusche wahrzunehmen. Denn das Innenohr ist dann als einziges Organ bereits in voller Größe entwickelt. Und auch beim Tod eines Menschen, wenn das Bewusstsein bereits erloschen ist, nimmt das Ohr noch die Schallwellen auf.
Eigene Akzente im Alltag
Letztlich – und wie so oft – muss jeder Mensch selbst wissen, was sein bestes Maß an Ruhe und Stille ist. Da kann ein mehrtägiger Aufenthalt in der Stille eines Klosters vielleicht schon Wunder bewirken – oder ein Wellnesswochenende ohne Handy und E-Mail, dafür aber mit viel Schlaf und Entspannung.
Doch auch im Alltag kann man einiges dafür tun, den Augenblick bewusster wahrzunehmen. Sich auf eine Sache zu beschränken und ganz zu konzentrieren, kann dabei schon hilfreich sein. Beim Autofahren das Radio auslassen und beim Bügeln nicht nebenher fernsehen – solche einfachen Verzichte können helfen, den eigenen Körper und die Wahrnehmung nicht permanent zu überfordern. Umgekehrt kann ein gemütlicher Abend im Sessel bei einer Tasse Tee oder einem Glas Wein mit der Lektüre eines guten Buches oder dem Anhören von Musik Körper und Geist in einen Zustand der ruhigen Gelassenheit bringen.
Wem es gelingt, vor dem Schlafengehen noch ein paar Minuten in Stille zu sitzen, einen inneren Tagesrückblick zu halten oder den Tag mit einem Gebet abzuschließen, der merkt vielleicht nach und nach, dass er nicht mehr alle Gedanken und Überlegungen mit ins Bett nimmt, sondern sie schon vorher abgeben kann. Auch das: eine wohltuende Stille!