Sommerzeit ist Lesezeit
Das Buch erfreut sich nach wie vor großer Beliebtheit. Für den Sommerurlaub nimmt sich der ein oder andere bestimmte Bücher zur Lektüre vor. Sie soll bilden, das Denken voranbringen, unterhalten, den Horizont erweitern, die Phantasie anregen. Philosophische und theologische Werke sind dabei oft nicht ganz leicht zu verstehen, vor allem, wenn die Vorbildung fehlt. Unser Autor gibt drei Strategien an die Hand, sich schwieriger Lektüre zu nähern – Strategien, die sich dann auch dafür eignen, den eigenen Glauben auf ein festes Fundament zu stellen. Doch lesen Sie selbst...
Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen? Wann hat Sie das letzte Mal ein Buch begeistert? Welches Buch hat Ihr Denken, Ihr Weltbild, Ihren Glauben verändert?
Oder: Welches Buch haben Sie erst nicht verstanden? Sie haben es weggelegt… Doch nach ein paar Monaten oder Jahren haben Sie es wieder zur Hand genommen und plötzlich hatten Sie ein gutes Beispiel im Kopf, mit dem Sie den Gedankengang besser verstanden. Oder Sie ahnten viel deutlicher, auf was der Autor hinaus will. Ja, theologische, philosophische oder auch spirituelle Bücher können schwer zu lesen sein. Jedoch: Es ist eine besondere Art der Freude, wenn man etwas versteht, wenn man einen Gedankengang, eine Theorie, ein Weltbild durchdrungen hat, wenn einem vor dem geistigen Auge das Ganze eines philosophischen oder theologischen Gedankens klar wird! Diese Freude: Ja, jetzt habe ich es kapiert! Dieses Aha-Erlebnis eröffnet mir neue Sichtweisen, neue Verständnisweisen, ja manchmal sogar neue Lebens- und Handlungsmöglichkeiten.
Aha-Erlebnisse beim Lesen
Es lohnt sich also, sich mit Denkern zu beschäftigen. Seien es Theologen oder Philosophen, aber auch spirituelle Autoren oder Dichter können uns solche Aha-Erlebnisse bereiten. Und natürlich bei aller wertvollen Wissenschaft. Aber mich als Theologen interessieren verständlicherweise Theologen und Philosophen am meisten.
Wer Lust auf die Freude des Aha-Erlebnisses hat, wer sein Denken und seine Sichtweisen erweitern möchte, dem empfehle ich drei Strategien. Sie können einem gerade auch dann helfen, wenn man sich bei der Lektüre fragt: Was will er eigentlich? Wenn Sie vielleicht beim Lesen den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen.
Erste Strategie: Gegnerische Position
Fragen Sie sich, wogegen wendet sich der Theologe bzw. Philosoph? Wer sind seine Gegner? Was ist die Position, die er bekämpfen oder überwinden möchte? Welche Nachteile sieht er in dieser Position? Was übersehen die Gegner, das der Denker nun betonen möchte? Welche Widersprüche bei den Gegnern provozieren ihn, diese Position abzulehnen? Henri Bergson betonte: Oft beginnt ein Denker mit der Ahnung, dass es so nicht gehen kann. Die Intuition zeigt sich oft erst einmal in einer Abwehrbewegung: So nicht! Ich will das anders durchdenken!
Wenn wir einen Denker studieren, sollten wir also nach den Gegnern fragen. Wir stoßen dann oft zu ersten Impulsen des Denkers. Das Denken Jesu zeigt sich deutlich in seinen Streitgesprächen mit den Pharisäern. „Der Sabbat ist für den Menschen da!“ Paulus bekämpft in seinen Briefen Pseudoapostel, die seine Autorität in Frage stellen oder Heidenchristen überreden wollen, sich beschneiden zu lassen. Seine Gnadentheologie zeigt sich deutlich, wenn er gegen seine Gegner argumentiert.
Manchmal gibt es auch zwei Positionen, die im gegensätzlichen Streit legen, und der Denker merkt: Die für mich richtigere Lösung des Problems, die bessere Sichtweise liegt jenseits dieser beiden sich bestreitenden Positionen.
Entsteht evolutiver Fortschritt nur durch Zufall oder gibt es einen göttlichen Lenker, der einen festen Plan umsetzt? Henri Bergson empfand beide Positionen als nicht stichhaltig und entwarf in seinem Werk „Schöpferische Entwicklung“ eine Sichtweise jenseits von darwinistischer Evolution oder Kreationismus.
Sind wir bei Geburt ein leeres Blatt, und unser gesamtes Wissen baut sich aus unseren Erfahrungen auf, die wir durch unsere Sinne machen können? So der Empirismus. Oder können wir nur in unserer Vernunft und nicht in unseren Sinnen einen festen Halt finden und müssen in unserem Geist nach der Wahrheit suchen? So der Rationalismus. Immanuel Kant überwindet dieses Entweder – Oder: „Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“
Zweite Strategie: Grundgedanke
Die zweite Strategie fragt nach dem Gundgedanken in einer Skizze: Kannst Du das Wesentliche durch Begriffe, Pfeile, räumliche Anordnung aufzeigen?
Heute hat man dafür einen englischen Begriff: „mindmap“ – eine Karte, eine Skizze, die den Gedanken auf einen Blick aufzeigt. Ich habe einige Denker erst dann richtig verstanden, als ich eine solche Skizze ihres Systems in einem Buch entdeckte. Als ich dann diese Skizze im Kopf hatte, verstand ich plötzlich viel mehr, wenn ich den Denker las.
Wenn Sie zum Beispiel den dtv-Atlas Philosophie in die Hand nehmen, können Sie das schnell nachvollziehen: Auf der linken Seite wird der Gedankengang in einer Skizze, in einem Bild, in einem Diagramm dargestellt und auf der rechten Seite mit einem Text erklärt. Beide Seiten ergänzen sich und der Leser versteht die jeweilige Philosophie schneller als durch reinen Text.
Ein theologisches Beispiel: Wenn wir Kinder bitten, den Himmel zu malen, dann ist der Himmel oben, die Erde unten. Aber bei einem erwachsenen Glauben ist der Himmel nicht oben und Gott sitzt nicht auf einer Wolke. Der Dogmatikprofessor Simonis, der in Würzburg lehrte, sagte öfters in der Vorlesung: „Der Himmel ist die Innenseite des Kosmos!“ Mit diesem Satz erschafft der Theologe in unserem Geist eine neue Skizze. Der Himmel ist nicht oben. Er ist überall. Der Himmel ist die Innenseite der materiellen Welt.
Jesus als Mindmapper
Jesus hatte keine Tafel oder Flipchart, um mit Edding-Stift seine Gedanken zum Reich Gottes seinen Jüngern zu skizzieren. Aber das brauchte er auch nicht. Mit seinen Gleichnissen malte er eine Skizze im Kopf seiner Zuhörer. Da ist im Weizenfeld Unkraut. Sollen wir es herausreißen? Nein, sonst reißt ihr noch den guten Weizen heraus. In uns Zuhörern entsteht das Bild: Eigentlich möchte ich mich bücken und das Unkraut herausreißen. Und mir kommt gleich der Alltag in den Sinn: Eigentlich möchte ich jetzt streng diesem Mitmenschen die Leviten lesen und ihm die Ohren lang ziehen. Jedoch Jesus lädt mich zur Haltungsänderung ein: Geduld und Barmherzigkeit.
Oder das Gleichnis vom Senfkorn: Klein beginnt es und wird ein schöner großer Strauch. Auf der Tafel könnten wir ein Diagramm malen: Links unten beginnt das Reich Gottes, ganz klein; und dann wächst es und wird größer. In der Zeitleiste gehe ich nach rechts. Ganz rechts kann ich einen großen Strauch malen.
Jesus malt uns mit seinen Gleichnissen Skizzen in unserem eigenen Geist: Ein Mindmap-Maler erster Klasse!
Dritte Strategie: Erzähle ein Beispiel!
Wie schaut die Theorie, die Gedanken angewendet, „im Leben“ aus? Allgemeine Begriffe werden oft erst richtig mit einem Beispiel verständlich. Z. B. Schulz von Thun beschrieb vier Aspekte bei einer Aussage: der Sachinhalt, die Selbstkundgabe, der Beziehungshinweis, der Appell. So ungefähr verstehen wir die Begriffe. Aber diese Einteilung in vier Aspekte wird erst durch ein Beispiel verständlich. Außerdem erkennt man an einem Beispiel den Wert und die Anwendungsmöglichkeiten. Welche Botschaft enthält der Satz: „Schatz, die Ampel wird grün!“? Und welche Botschaft hört die Frau? Der Sachinhalt ist einfach: Die Ampel wird grün! Der Appell: Du kannst jetzt losfahren! Aber schwingt auch eine Selbstkundgabe mit? „Ich bin ungeduldig! Ich muss schnell zur Arbeit!“ Oder ein Beziehungshinweis? „Du kannst nicht Auto fahren! Du verpennst sogar eine grüne Ampel!“ Wenn die Partnerin das hinter seinem Satz vermutet, dann ist ein Streit vorprogrammiert! Mit einem Beispiel werden Schulz von Thuns Begriffe als wertvolles Instrument, um Gespräche besser zu verstehen, schnell einsichtig. Das gilt für viele Theorien: Mit Beispielen verstehen wir sie lebendiger und erkennen, wozu sie nützlich sein können.
Erzähle ein Beispiel! Sie machen auch unseren Glauben lebendig. Wie beeindruckend ist es, wenn einer erzählt, dass er nach Wut und Zorn doch vergeben konnte. Er spürte in diesem Wandel das Wirken der Gnade im Rückblick. Oder wie beeindruckend ist es, wenn jemand von seiner Mutter erzählt: Sie hat immer wieder auch mit dem Glauben gehadert. In der Woche, in der sie starb, sagte sie zu ihrem Sohn: Ich habe keine Angst! Ich weiß, wo ich hingehe! Ich spüre sie jetzt schon, die bedingungslose Liebe Gottes!
Reich Gottes beispielhaft erlebbar
Die Bibel ist voll von Beispielen, wie der Glaube Menschen verändert hat. Und insbesondere Jesus wusste: Er verkündet nicht nur das anbrechende Reich Gottes. Er streitet nicht nur mit seinen Gegner über den rechten Glauben und die rechte Haltung. Er malt nicht nur Mindmaps vom Reich Gottes mit seinen Gleichnissen. Er lässt das Reich Gottes beispielhaft erleben: Mit ihm bricht das Reich Gottes an! Und das zeigt Jesus durch echte Beispiele: Zöllner ändern ihren Lebensstil und werden freigiebig, römische Hauptmänner kommen zum Glauben, Aussätzige werden geheilt, Dämonen werden ausgetrieben, Dirnen erleben Menschenwürde, Pharisäer ändern ihre Meinung und fragen ihn nach dem Glauben.
Anwendung für den eigenen Glauben
War das nun eher eine Philosophiestunde? Wenn ich auch von der Frage ausging, wie man sich Denkern nähern kann, so kann ich das auch auf mich selbst und meinen Glauben anwenden.
Kinder oder Enkel fragen Sie vielleicht: Wo wohnt Gott? Spürst Du Gott manchmal? Warum gehst Du in die Kirche? Und so weiter... Oder auf einer Party schlittert man in ein religiöses Gespräch und jemand behauptet: Man sollte Religionen abschaffen, weil sie mehr Krieg als Frieden schaffen! Was sagen Sie dann?
Da können diese drei Strategien wertvoll sein, um sich des eigenen Glaubens nochmals zu vergewissern und klarer Antwort geben zu können:
1. Wogegen wendet sich mein Glauben? Welche Vorstellung, welches Gottesbild, welches Menschenbild, welches Weltbild lehne ich mit meinem Glauben ab?
2. Kann ich meine Vorstellungen zu einer Glaubensfrage auf ein Blatt skizzieren? Wie hängen bei mir die wichtigsten Begriffe zusammen?
3. Welche Beispiele kann ich erzählen, um meinen Glauben zu verdeutlichen? Vielleicht Beispiele aus meinem Leben? Meine eigene Lebenserfahrung?