"Steht auf" und "Steht ein..."
Wo Demokratie als selbstverständlich erscheint und dennoch dauernder Gefahr ausgesetzt ist, fordert unser Autor dazu auf, für ihre Werte aufzustehen – und für die mit ihr eng verbundenen Menschenrechte einzustehen.
In der UN-Generalversammlung wurde bereits vor rund zehn Jahren ein „Internationaler Tag der Demokratie“ ausgerufen. Für viele Deutsche – und wohl auch Österreicher und Schweizer – war damals nicht ganz einsichtig, warum es dafür in besonderer Weise einen jährlichen Gedenktag braucht. Denn Rechtsstaatlichkeit und Demokratie und damit beispielweise die Möglichkeit zu wählen, seine Meinung einzubringen, nach seinen Überzeugungen zu leben und auf unterschiedlichen Wegen Einfluss auf die politische und gesellschaftliche Entwicklung des Landes zu nehmen, scheinen recht selbstverständlich.
Mahnung und Erinnerung
In vielen Staaten dieser Welt sieht das anders aus, und Demokratie und damit demokratische Grundsätze sowie die Achtung der Menschenrechte sind weit von der Lebenswirklichkeit entfernt. Darauf wollte man zum einen durch die Vereinten Nationen hinweisen und natürlich auch aufrütteln, damit Menschen sich über alle politischen, konfessionellen und gesellschaftlichen Grenzen hinweg weltweit für ein menschenwürdiges und damit die Menschenrechte achtendes, demokratisches Miteinander einsetzen. Zum anderen ging es allerdings auch darum, auf die Fragilität von Demokratie hinzuweisen, ganz gemäß dem Sprichwort: „Wer in der Demokratie schläft, wird in einer Diktatur aufwachen“, das dem Nürnberger Kulturwissenschaftler Hermann Glaser zugeschrieben wird.
Zum letzten Tag der Demokratie am 15. September 2018 wurde ich als Vertreter der katholischen Kirche eingeladen, am Abend bei einer Kundgebung mitzuwirken. Diese persönlichen Überlegungen werden in den kommenden Zeilen zur weiteren Diskussion vorgestellt.
Laut, erkennbar und deutlich
Um es gleich vorweg zu sagen: Ich bin kein Experte, kein Spezialist für Demokratie, sondern ich kann nur ein paar Gedanken einbringen. Denn Expertinnen und Experten sind wir alle. Wer sich darauf einlässt, einmal in Ruhe über Demokratie nachzudenken, weiß, welche Bedeutung Demokratie – und damit meine ich eine stabile, eine funktionierende und eine eben nicht gefährdete Demokratie – für uns hat. Der katholische Hochschulpfarrer Burkhard Hose in Würzburg hat kürzlich in seinem Buch „Seid laut! Für ein politisch engagiertes Christentum“ aufgerufen, die eigene Position auch öffentlich zu zeigen, sozusagen auch auf die Plätze der Stadt zu tragen.
Nun darf ich es ganz offen gestehen: Ich bin in einem Elternhaus aufgewachsen, indem man sich nicht vorstellen konnte, „auf die Straße“ zu gehen. „Demonstration“ war ein Wort, das mehr Befürchtungen als Zustimmung ausgelöst hat und ich habe mich in den letzten Jahren schwergetan, diese Vorbehalte zu überwinden. Aber ich habe auch gelernt, dass es nötig ist, auch den öffentlichen Raum zu besetzen und mit seiner Person augenscheinlich für etwas einzustehen. Hannah Arendt hat dies einmal in einer Laudatio für Karl Jaspers ganz pointiert formuliert: „Gewonnen wird die Humanität nie in der Einsamkeit und nie dadurch, dass einer sein Werk der Öffentlichkeit übergibt. Nur wer sein Leben und seine Person mit in das Wagnis Öffentlichkeit nimmt, kann sie erreichen.“ Es ist nötig, dass wir uns öffentlich zeigen und es ist nötig, dass wir auch laut werden, erkennbar werden, deutlich werden.
Wehret den Anfängen!
Geisteshaltungen und damit auch das zugrundeliegende Menschen- und Weltbild werden im öffentlichen Raum geprägt, und gerade in den letzten Jahren haben jene Stimmen Straße und Plätze belegt, die sich abwertend, menschenfeindlich und sogar rassistisch äußern. Ihnen gilt es, eine andere Deutung auch öffentlich entgegen zu stellen.
Aber es ist ebenso nötig, auch andere Räume zu besetzen und damit an anderen Orten für ein demokratisches Miteinander und die demokratischen Grundlagen einzustehen: am Arbeitsplatz, in der Kneipe, in der Umkleide im Sportclub, in Vereinen, in Kirchen und Verbänden und natürlich auch im Netz.
Vor wenigen Wochen hat eine Bekannte über die WhatsApp-Gruppe (des Elternbeirats) einen Eintrag im Netz verschickt und nutzt es sogar als Profilbild. Man sieht einen Vater und einen Sohn und da steht folgender Text: „Der Sohn eines Asylforderers fragt seinen Vater, was Demokratie ist. ‚Also, mein Sohn, Demokratie ist, wenn der Deutsche jeden Tag arbeitet, damit wir hier gratis wohnen und kostenlos zum Arzt gehen können, gratis Essen und Taschengeld bekommen und zwar viel mehr als diese geizigen deutschen Rentner. Das, mein Sohn ist wahre Demokratie!‘ – ‚Aber Papa, werden die Deutschen dabei nicht sauer auf uns?‘ – ‚Mag sein, mein Sohn. Aber das ist dann Rassismus.‘“
Anstrengende Auseinandersetzung
So etwas – das darf man nicht so stehen lassen! Denn genau das sind so kleine Mosaiksteinchen, die das Bild einer unsolidarischen, einer ausgrenzenden und damit undemokratischen Gesellschaft zeichnen und verstärken.
Allein diese Vergiftung der Sprache, dass hier von einem „Asylforderer“ gesprochen wird und nicht von einem Menschen, der um Asyl nachsucht, der aus unterschiedlichen Gründen darum bittet, dieses Grundrecht in Anspruch nehmen zu dürfen, zeigt diese schleichende Verrohung und Vergiftung der Sprache und damit natürlich auch eine Verschiebung eines Grundkonsens, einer Grundlage „was man sagen darf“, was der Anstand gebietet.
Und auch hier gestehe ich Ihnen etwas: In vielen Momenten ist es mir zuwider, auf derartige Texte zu reagieren. Und es ist mir auch zuwider, den Konflikt und die Auseinandersetzung zu suchen. Um es ganz einfach zu sagen: Demokratie ist dann sehr anstrengend. Denn Demokratie bedeutet, sich auseinandersetzen zu müssen. Und Demokratie braucht Streit. Grundsätzlich wissen wir, dass die Grundlage der Demokratie schlichtweg die Diskussion ist. Wenn wir das Streiten einstellen – ob in der Partnerschaft, in der Familie, in Vereinen und Verbänden –, dann haben wir das Interesse am anderen eigentlich schon verloren. Denn eigentlich schafft Streit – mit dem Ziel einer Lösung – wieder Nähe und wir brauchen diese Auseinandersetzung.
Streit ohne Feindschaft
Im Streiten sind wir Gegner, da wir unterschiedliche Meinungen und Auffassungen vertreten, unterschiedliche Ziele verfolgen. Da müssen wir Gegner sein, um diese unterschiedlichen Interessen auch auszufechten bzw. auszukämpfen oder eben, neutraler gesagt, auszudiskutieren. Aber der große Unterschied ist, dass wir politische Gegner oder Gegner in einer konkreten Sache sind, aber wir sind keine Feinde. Und hier sehe ich eine ganz große Verschiebung: denn mit meinem Gegner kann ich streiten und auch emotionale Dinge verhandeln –, am Ende werde ich ihm wieder die Hand reichen und vielleicht sogar idealerweise noch auf ein Bier gehen. Aber einem Feind wünsche ich den Untergang, die Vernichtung und sogar vielleicht den Tod. Hier hat sich für mich Vieles verschoben. Wir müssen als Freunde der Demokratie betonen, dass wir natürlich den Streit lieben und auch Gegner sein können, aber in einer solidarischen Gesellschaft uns nicht als Feinde verstehen. Ich kann es persönlich nicht nachvollziehen, dass man immer wieder in den neuen Medien, ob bei politischen Gegnern oder auch bei ganz einfachen Fragen, den Verantwortlichen gleich den Tod wünscht. Und gerade die sogenannten „sozialen“ Medien sind voll derartiger Hassreden.
Menschenrechte, Würde – uneingeschränkt!
Und damit ist natürlich von denjenigen zu sprechen, die Menschen nicht mehr als Gegner, sondern als Feinde betrachten. Denn natürlich müssen wir Feinden der Demokratie auch als Feinden begegnen. Hier gilt es, klare Grenzen zu ziehen. Wenn man lesen kann, dass ein ostdeutscher Ministerpräsident davon spricht, dass man sich bei der Rechtsprechung auch „am Volksempfinden orientieren müsse“, dann treten wir weit hinter die Errungenschaften einer rechtstaatlichen Grundordnung zurück. Denn wir haben die Grenzen zum Schutz des einzelnen Menschen mitsamt seiner unveräußerlichen Rechte wie auch der Menschlichkeit definiert und diese Rechtsstaatlichkeit ist ein hohes Gut, das es zu verteidigen gilt, ebenso wie die Gewaltenteilung und damit den ganzen Rahmen unseres Zusammenlebens in einer Demokratie, die wir als freiheitlich-demokratische Grundordnung bezeichnen. Hier müssen wir als Freunde der Demokratie auch jene kontrollieren, welche die Demokratie und ihre Organe kontrollieren und schützen. Hier gilt es, Rahmenbedingungen einzuhalten und auch auf sie zu pochen. Wenn es im Parteiprogramm einer Partei heißt, dass sie „für ein differenziertes Menschenbild“ eintritt, dann müssen wir auch hier die rote Linie ziehen. Denn alle gemeinsam haben wir einen Bezugspunkt – die uneingeschränkte Würde des Menschen. Und zusammengefasst ist unser gemeinsamer Bezugspunkt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die im letzten Dezember 70 Jahre alt geworden ist. Auf diesen Bezugsrahmen müssen wir hinweisen, dafür müssen wir einstehen. Eine Verteidigung der Menschenrechte ist eine Verteidigung der Demokratie!
Gemeinsames Handeln tut not
Mitte Januar kommt eine neue Verfilmung von Robin Hood mit Taron Egerton in der Hauptrolle auf die Leinwand. Und damit komme ich zu einem dritten persönlichen Geständnis: Von Kindertagen an habe ich diese Geschichte geliebt. Robin Hood war mein Held, und als 14- und 15-Jähriger wollte ich auch als Guter gegen das Böse kämpfen. Leider musste man dann einsehen, dass die Welt nicht so einfach Schwarz und Weiß ist, dass man nicht so einfach mit Pfeil und Bogen und etwas List das Böse besiegen kann.
Auch in der Gruppe um Robin Hood gab es Böse und Verräter und auch um den Sheriff von Nottingham gab es Gute. Und noch ein Wort zur Kirche, auch da gibt es in der Geschichte um den Wald von Sherwood den Bischof, der in der Nähe der Macht steht und den Sheriff unterstützt, aber eben auch den Mönch, Bruder Tuck, der an der Seite der Guten steht und für Gerechtigkeit und Solidarität kämpft. In der früheren Verfilmung von Kevin Costner gibt es übrigens auch einen Muslim, der sich der Gruppe anschließt. Und in einer Szene, nachdem er das Leben des Anführers gerettet hatte, beantwortete er die Frage, warum er ihm geholfen habe, ganz lapidar: weil es notwendig war. Eine schöne filmische Anregung, den Blick darauf zu richten, dass wir nicht nur den interreligiösen und interkulturellen Dialog verdichten müssen, sondern es schlichtweg das gemeinsame Handeln braucht. Ein gemeinsames Handeln von Menschen, die Not, Ungerechtigkeit und Ausgrenzung sehen und damit undemokratisches und unsolidarisches Verhalten.
Das Leben ist nicht Schwarz und Weiß – es hat viele Graustufen und es ist ganz bunt – und so soll und darf es auch sein. Demokratie bedeutet, diese Komplexität auszuhalten. Demokratie bedeutet, dass unser Leben bunt ist, dass es Vielfarbigkeit und Vielfalt in der Gesellschaft gibt.
Der Politologe Thomas Bauer hat genau dies als Zeichen der Zeit beschrieben. In seinem kleinen Büchlein mit dem Titel: „Die Vereindeutigung der Welt: Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt“ beschreibt er, dass wir diese Vielstimmigkeit immer weniger aushalten und immer wieder aufs Neue Wege der Vereinfachung suchen. Dieser Versuchung gilt es, persönlich wie gesellschaftlich, zu widerstehen, um gemeinsam diese Vielstimmigkeit auszuhalten und sie sogar als Genuss, als Wert, als Bereicherung und somit als Grundlage der Demokratie zu begreifen.
Der Einzelne macht den Unterschied!
Wenn wir Ausgrenzung und Not von Einzelnen und von Gruppen sehen und damit auch die Gefährdungen der Demokratie erkennen, dann kommt es auf die Haltung Einzelner an. Jede und jeder Einzelne macht den Unterschied aus, um die verschiedenen Räume zu besetzen, um den Schatz der Menschlichkeit zu heben und immer wieder die Brücke von einem zum anderen zu bauen. Gemeinsam wird damit für die Strukturen zu kämpfen sein, die eine streitbare, wehrhafte Demokratie benötigt.
Vaclav Havel hat die prägnante Formulierung gebracht: „Denen, die die Demokratie ernst nehmen, bindet sie die Hände, denen, die sie nicht ernst nehmen, erlaubt sie alles.“ Beim Eintreten für Demokratie und damit auch einem Entgegentreten gegenüber den Feinden der Demokratie dürfen wir nicht zu undemokratischen Mitteln greifen und gleichzeitig nicht verzagen gegenüber dieser neuen Kraft undemokratischer Geister. Oder um es mit den Worten Martin Luther Kings zu sagen: „Finsternis kann keine Finsternis vertreiben. Das gelingt nur dem Licht. Hass kann den Hass nicht austreiben. Das gelingt nur der Liebe.“
Es kommt auf jeden Einzelnen von uns an, dieses Licht zu sein gegen Dunkelheit, gegen Gefährdungen, gegen Ängste und auch gegenüber Rassismus und schlichtweg gegen das Böse im Menschen. Und gleichzeitig bilden wir als Einzelne gemeinsam ein großes (Gegen)Gewicht gegen dieses Dunkle und damit für etwas: für ein wohlwollendes, gestaltendes, menschliches und demokratisches Miteinander.
Dr. Siegfried Grillmeyer (Jahrgang 1969) leitet seit 2008 das Caritas-Pirckheimer-Haus in Nürnberg, die Akademie der Erzdiözse Bamberg. Nach dem Studium der Fächer Geschichte, Sozialkunde und Theologie ist der promovierte Historiker in der katholischen Jugend- und Erwachsenenbildung tätig. Er ist bekannt für seine umfangreiche Vortrags- und Publikationstätigkeit zu historischen, religionswissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Fragen, darunter die mehrbändige Reihe „Fragen der Zeit“ im Echter Verlag, Würzburg.