Wenn ewiges Eis zu Wasser wird
Ein Radiobeitrag hat unseren Autor an die Gletscher„erinnert“. 500 sind in den letzten Jahrzehnten schon verschwunden, viele weitere werden in den kommenden 30 Jahren folgen. Wo jahrhundertelang ewiges Eis herrschte, erstrecken sich dann trostlose Steinwüsten. Doch das Wegschmelzen ist nahezu unumkehrlich.
In meiner Jugend war von „Fridays ForFuture“ noch lange nicht die Rede – auch wenn mein Heranwachsen noch keine Ewigkeiten zurückliegt. Damals, in den 90er Jahren, hat man begonnen, Müll zu trennen, Energiesparlampen wurden benutzt und Forderungen wurden laut, der Benzinpreis müsse auf fünf Mark steigen. Es war immer wieder einmal die Rede von Treibhausgasen und vom Ozonloch, aber im Allgemeinen hielt sich die Sorge vor einem möglichen Klimawandel noch in Grenzen. An erste größere Diskussionen erinnere ich mich, als in der 6. und 7. Klasse Gymnasium ein Skikurs angeboten wurde. Ich weiß nicht mehr genau, ob ich einfach – mangels Sportlichkeit – prinzipiell etwas gegen Skikurse hatte, aber ich gehörte doch zu den wenigen Schülern, die in die Diskussion einstiegen, ob solch eine Unternehmung ökologisch vertretbar sei.
Skifahren als Umweltsünde?
Es hieß schon damals, jedenfalls außerhalb der Tourismusbranche: Ein Skigebiet ist eine Katastrophe für die Umwelt. Es wurden Planierraupen gezeigt, die ganze Wälder niedermachten, um Skipisten zu bauen. Straßen, Lifte und Hotels mussten errichtet werden. Der Anreiseverkehr ist gewaltig. Der Boden unter den Pisten wird mehr und mehr verdichtet, kann kein Wasser mehr aufsaugen, die Gefahr für Lawinen steigt. Und schon damals behalf man sich mit Schneekanonen: Wo der natürliche Schnee nicht ausreicht, wird mit immensem Wasser- und Energieverbrauch künstlich nachgeholfen. Der Einsatz von Schneekanonen wird bei den diesjährigen Olympischen Winterspielen auf die Spitze getrieben: Der Skisport wird komplett auf 100% Kunstschnee ausgetragen. Da im vorgesehenen Skigebiet allerdings kaum Niederschlag fällt, gibt es dort auch kein anzapfbares Wasserreservoir. Für deutlich über 50 Millionen Euro wurden gut 60 Kilometer Wasserleitungen verlegt, um das benötigte Wasser beizuschaffen. Die ökologischen Kollateralschäden: wahrscheinlich unermesslich.
Umwelt hin oder her: Zum Skikurs wurde damals trotzdem gefahren. Die als umweltfreundlicher angepriesene Variante „Ski-Langlauf“ entfiel mangels Mindestteilnehmerzahl. Immerhin, so hat man uns damaligen Abfahrtsskeptikern gesagt, wäre das Ziel der Klassenfahrt kein Gletschergebiet. Denn Skifahren auf dem Gletscher, das galt damals als noch schlimmer….
Dramatische Verluste
Das Lexikon der Geographie definiert Gletscher als „große, hauptsächlich aus Schnee, Firn und Eis bestehende, zusammenhängende Massen.“ Wissenschaftler sprechen dann von einem Gletscher, wenn dessen Oberfläche mindestens 0,1 Quadratkilometer misst und die Eisdicke etwa 30 Meter beträgt. Der Gletscher ist dabei ein gewissermaßen „lebendiges“ Geschehen. An aktiven Gletschern lässt sich ein ständiger Masseumsatz beobachten: „Schnee, der später zu Eis umgewandelt wird, fällt auf den Gletscher und trägt zu dessen Massengewinn bei, der im Gleichgewichtszustand durch den Massenverlust durch Schnee- und Eisschmelze ausgeglichen wird.“ Typischerweise verliert ein Gletscher im Sommer also an Masse und gleicht den Verlust durch Niederschläge im folgenden Winter wieder aus: Neuschnee wird in Eis umgewandelt und schützt obendrein das bestehende Gletschereis vor den wärmenden Sonnenstrahlen.
Das immer größer werdende Problem ist nun aber, dass der Gleichgewichtszustand längst außer Kontrolle ist. Schnee fällt immer später im Winter und bleibt weniger lange liegen. Warme Frühlings- und Sommertemperaturen greifen – zusammen mit Regenfällen – die Gletscher an. Hinzu kommt die Umweltverschmutzung durch Ruß und Feinstaub: Gletschereis färbt sich auf diese Weise dunkel, reflektiert das Sonnenlicht, das bei reduzierter Ozonschicht immer aggressiver auf die Erde trifft, schlechter und schmilzt schneller. Ein Forscherteam der Universität Zürich hat die Veränderungen im Gletschereis (ohne Berücksichtigung von Grönland und der Antarktis) zwischen 1961 und 2016 untersucht. Das erschreckende Resultat: 9.600 Milliarden Tonnen Eis gingen in diesem Zeitraum verloren. Die Geschwindigkeit dieses Schmelzprozesses hat zudem in den letzten 30 Jahren an Tempo zugelegt. Aktuell schmelzen jedes Jahr etwa 335 Milliarden Tonnen vom „ewigen“ Eis.
Der Große Aletsch im schweizerischen Kanton Wallis ist mit seinen gut 20 Kilometern der längste Talgletscher der Alpen. Seit dem Jahr 1870 hat er etwa 3,3 Kilometer an Länge verloren, davon 1,5 Kilometer in den letzten vier Jahrzehnten.
Düstere Prognosen
Mittels komplexer Berechnungen wagen Gletscherforscher den Blick in die Zukunft. Sie prognostizieren für unterschiedliche CO2-Einsparszenarien verschiedene Entwicklungen. Dabei ist klar: Bis zum Jahr 2050 haben sämtliche Umweltbemühungen keinen Einfluss mehr auf den Schmelzprozess. Die heutige Klimaerwärmung hat bereits die Weichen gestellt. Bis zur Mitte des ersten Jahrhunderts dieses Jahrtausends wird beispielsweises im Blick auf die Alpen die Hälfte des heutigen Gletscher-eises abgeschmolzen sein. Falls sich die CO2-Einsparungen realisieren lassen und sich das Klima günstig entwickelt, ließen sich ab 2050 zumindest noch etwa ein Drittel der heutigen Alpengletscher retten. Wird weiterhin Kohlenstoffdioxid auf dem derzeitigen Niveau ausgestoßen oder lässt sich die Klimaerwärmung aus anderen Gründen nicht aufhalten, dann ist wohl damit zu rechnen, dass bis 2100 alle Gletscher der Alpen abgeschmolzen sind – unter ihnen auch der Große Aletsch.
Weltweit betrachtet gehen Forscher davon aus: Im pessimistischsten Szenario sind bis 2300 alle Gletscher geschmolzen – im besten (!) Fall sind sie zumindest noch zur Hälfte vorhanden. Dass die Gletscher aber dramatisch an Masse verlieren, das lässt sich nicht mehr abwenden.
Skifahren am Ende?
Die Konsequenzen? Bereits 2003 hat das UN-Umweltprogramm gewarnt, dass dem Wintersport – besonders in den Alpen – an vielen Orten das Aus drohen wird. Die Schneefallgrenze wird in den nächsten 30-50 Jahren zwischen 200 und 300 Meter höher liegen. Gletscherskigebiete gelten auch heute noch als sehr schneesicher. Der Hintertuxer Gletscher in Österreich beispielsweise ist sogar an 365 Tagen im Jahr das Ziel von „Winter“-Sportlern: Selbst im Sommer lassen sich hier etwas über 20 Pistenkilometer befahren. Wo sich aber Gletscher messbar im Rückzug befinden, wird der Ski-Tourismus die Folgen spüren.
Von manch einem Meteorologen wird dem prominenten Wintersportparadies Kitzbühel schon das baldige Aus prophezeit. Der dortige Skitourismus-Forscher Günther Aigner widerspricht: „Es ist eine meteorologische Tatsache, dass die Winter auf den Bergen im Alpenraum innerhalb der letzten 30 Jahre kälter geworden sind. Die Schneemengen haben sich nicht signifikant verändert. Probleme mit dem Schnee haben hauptsächlich Skigebiete, welche unterhalb von 800 Meter Seehöhe liegen. Diese Probleme dauern schon seit über 30 Jahren an. Beim Thema ‚Klimawandel & Skisport‘ wird in den Medien so viel Schwachsinn verbreitet, dass einem fast schwindlig wird.“
Meinhard Breiling von der Technischen Universität Wien mit Forschungsschwerpunkt Klimaänderung und Wintertourismus hat sich intensiv mit dem „Schnee in Kitzbühel“ befasst. Er stellt fest: „Der Wintertourismus, einst durch Naturschnee entstanden, muss heute aufwendig mit immer größerem technischem Aufwand geplant werden. (…) Jedes Zehntelgrad permanenter Erwärmung bringt neue Herausforderungen und erfordert von der Bevölkerung Kitzbühels mehr Anpassung.“ Doch bei aller Anpassungsfähigkeit und trotz allem Einsatz von Kunstschnee resümiert er: „Eine Reduktion des schneebasierten Angebots des Wintertourismus, auf die man sich mittel- und langfristig vorbereiten muss, wird (…) kommen.“
Meeresanstieg und Gerölllawinen
Sehr viel weitreichender dürften die Folgen der Gletscherschmelze aber in anderen Bereichen sein. Klimaforscher weisen darauf hin, dass das Schmelzwasser der Gletscher mitverantwortlich ist für das Ansteigen des Meeresspiegels der Ozeane. Das bereits zitierte Forscherteam der Universität Zürich errechnete, dass die schmelzenden Gletscher zwischen 1961 und 2016 den Meeresanstieg um 2,7 Zentimeter mitverantworteten. Gletscherwasser macht damit 25-30 Prozent des Anstiegs aus.
Die vergletscherten Wasserspeicher sind aber auch für das Trinkwasser enorm wichtig. Etwa 1,6 Milliarden Menschen leben von dieser Ressource. Die über 200.000 Gletscher, Schneefelder, alpinen Seen und Feuchtgebiete liefern etwa die Hälfte des gesamten Süßwassers, das wir Menschen verbrauchen. Schmilzt das Wasser nun zu schnell, ist es als Trinkwasser verloren – und es drohen Hochwasser. Schon jetzt gibt es im Himalaja viele Gletscherseen, die über die Ufer zu treten drohen. Bei steigenden Wassermassen könnten die Ufer unter dem permanenten Druck plötzlich wegbrechen und ganze Dörfer unter sich begraben. Sind die Gletscher dann weggeschmolzen, ist das Wasserreservoir für die Zukunft verloren. Die Folgen werden auch für Flüsse wie Rhône und Rhein, die in Gletschergebieten entspringen, spürbar sein.
Und schließlich ist durch die abtauenden Gletscher der Permafrostboden in Gefahr. Normalerweise ist dieser das ganze Jahr über bis zu 100 Metern tief gefroren. Taut er, verlieren die Berghänge ihren Halt. Erdrutsche und Gerölllawinen bringen dann tödliche Gefahr.
Rettungsversuche
Bislang werden sämtliche von der Politik gesteckten Klimaziele weit verfehlt. Und dabei ist wohl auch zu beachten, dass diese Klimaziele von Menschen gesteckt sind – ohne Garantie, dass sie wirklich ambitioniert genug sind, um den Klimawandel aufzuhalten.
Vielleicht ist das mit ein Grund dafür, dass im Schweizer Kanton Graubünden am Morteratschgletscher ein Team von Forschern und Ingenieuren versucht, die Lebensdauer des Gletschers zu verlängern. Seit 1878 ist er um fast 3 Kilometer kürzer geworden. Diesen Prozess kann der Mensch nicht rückgängig machen, aber nun versucht man, ihn zu verlangsamen. Das „MortAlive Projekt“ arbeitet – derzeit noch in der Theorie – mit künstlicher Beschneiung der Gletscheroberfläche. 700 bis 1.000 Meter lange Schneeseile sollen über den Gletscher gespannt werden. Durch deren Leitungen fließt dann – emissionsfrei – Wasser aus den oberen Lagen des Gletschers. Jedes Schneeseil kann am Tag 32.000 Tonnen Schnee produzieren. An 160 Tagen pro Jahr sollen die Seile im Einsatz sein und so die Folgen des Klimawandels am Morteratsch verlangsamen. Ob das Projekt jemals realisiert wird? Viele Hürden sind noch zu nehmen, nicht zuletzt die des Geldes: Der leitende Glaziologe Dr. Felix Keller rechnet mit Kosten von 100 Millionen Schweizer Franken verteilt über 30 Jahre.
Und Kritiker bemängeln wohl zu Recht: Mit diesem Konzept lässt sich vielleicht ein Gletscher künstlich länger am Leben erhalten – doch die Ursache des massenhaften Gletschersterbens ist damit längst nicht angepackt. Geschweige denn hätte man mit solchen Aktionen die globalen Folgen im Griff.
Alles halb so schlimm?
Die unmittelbaren Auswirkungen der schmelzenden Gletscher erleben momentan wohl die Wenigsten – jedenfalls nicht direkt und gewissermaßen nicht vor der eigenen Haustür. Umso erschreckender ist es, wie unumkehrbar der Schmelzprozess bereits jetzt geworden ist. Ein Blick in die Weltgeschichte mag da zwar durchaus offenlegen, dass – beispielsweise – die Alpen vor 6.000 Jahren schon einmal bis auf eine Höhe von mindestens 3.500 Metern eisfrei waren (Gletschergrenze in den Alpen heute: ca. 2.100-2.400 Meter), aber wirklich beruhigend kann das im Blick auf die Auswirkungen der Eisschmelze und des Klimawandels heute nicht sein.