Wunder gibt es immer wieder?
Manch einer hat schon ein Wunder erlebt – und verdankt es vielleicht der Fürsprache des heiligen Antonius. Andere warten sehnsüchtig darauf. Wieder andere halten das alles für Hokuspokus. Wir stellen uns auf den folgenden Seiten einem Thema, das wohl jeden Menschen auf die eine oder andere Weise – vielleicht sogar existenziell – berührt.
Wincent Weiss, ein deutscher Popsänger und Liedtexter (*1993), singt: „Ey, es wär‘ schön blöd, nicht an Wunder zu glauben / Und es wär‘ zu schön, um es nicht zu riskier‘n / Und auch wenn viel zu viel dagegensteht / Wir wissen eigentlich, wie‘s besser geht / Ey, dann wär‘ schön blöd, nicht an Wunder zu glauben / Ey, nicht an Wunder zu glauben.“
Inspiriert von diesem aktuellen Lied aus dem Radiosender, ergibt eine ausführlichere Suche im Internet, dass in den letzten Jahren in der deutschsprachigen Musikszene viele Lieder entstanden sind, die rund um das Thema „Wunder“ kreisen. Eines der erfolgreichsten wohl: „Wunder gibt es immer wieder“ – das Lied, mit dem Katja Ebstein vor gut 50 Jahren beim Grand Prix d’Eurovision einen damals sensationellen 3. Platz erreichte. Vielleicht irgendwie ganz konkret eine Erfahrung dessen, was sie da besungen hat: „Wunder gibt es immer wieder / Heute oder morgen / Können sie geschehen / Wunder gibt es immer wieder / Wenn sie dir begegnen / Musst du sie auch sehen“.
Sehnsucht – und Wunderanleitung
Die Sehnsucht nach Wundern ist groß. Fußballfans eines abstiegsbedrohten Clubs beten um das Wunder des Klassenerhalts. Etwa sechs Millionen Menschen pilgern Jahr für Jahr nach Lourdes, viele davon mit der Hoffnung auf ein Wunder, um von einem körperlich-seelischen Gebrechen geheilt zu werden. Andere schreiben es einem Wunder zu, dass sie einen Unfall knapp überlebt haben. Und manch einer hadert, weil ihm offenbar kein Wunder widerfährt, weil bei ihm die erhoffte Wende nicht kommt. Woran das liegt? Vielleicht hat er die Anleitung nicht befolgt, die im Internet zu finden ist: Was man tun muss, damit ein Wunder geschieht? Die Antwort in fünf Schritten: „Erstens: Vertraue darauf, dass Gott dich erhören wird. Zweitens: Sprich deine Probleme ehrlich und offen vor Gott aus. Drittens: Lobe und preise Gott von ganzem Herzen. Viertens: Faste bei Bedarf. Fünftens: Vertraue auf Gott.“ – Auch wenn man nun als Christ vermutlich gegen keinen der fünf Schritte etwas einwenden möchte: Hier wird aber doch ein bisschen der Eindruck geweckt, wenn man sich nur genau daran hält, dann macht der liebe Gott schon, was man will. Und wenn er es nicht tut? Ja, dann habe ich wohl nicht fromm genug gebetet oder nicht hart genug gefastet… Etwas halbherzig klingt da die abschließende Einschränkung des Wundergebets: „Lass den Kopf nicht hängen, wenn dieses Wunder nicht sofort geschieht oder nicht genau so, wie du es dir vorgestellt hast. Gott wird schon wissen, was für dich richtig und gut ist.“
Wunder-Kriterien
So groß die Sehnsucht des Menschen nach Wundern auch heute noch ist, so wenig greifbar ist oft das „Wie?“ und „Warum?“ beziehungsweise das „Warum nicht?“. Es hilft schon ein Blick in den Duden, um verschiedeneDimensionen des Geheimnisvollen rund um das Wunder zu erfassen. Es wird da definiert als „außergewöhnliches, den Naturgesetzen oder aller Erfahrung widersprechendes und deshalb der unmittelbaren Einwirkung einer göttlichen Macht oder übernatürlichen Kräften zugeschriebenes Geschehen, Ereignis, das Staunen erregt“.
Die katholische Kirche kennt dann im Wesentlichen drei Kriterien, die zu überprüfen sind, bevor von einem Wunder gesprochen werden kann: Was als Wunder bezeichnet wird, muss als sinnenhaftes Zeichen wahrnehmbar sein – und zwar auch für die Menschen, die nicht glauben. Es brauche also eine objektive Überprüfbarkeit. Das Wundergeschehen muss sich außerhalb des Laufs der Natur ereignen, d. h. es darf sich nicht nur durch irgendwelche Weltereignisse oder natürliche Prozesse erklären lassen. Und schließlich muss sich ein Wunder auf irgendeine Art und Weise auf Gott zurückführen lassen. Es muss also deutlich werden, dass Gott das Wunder gewirkt hat.
Erst wenn diese Kriterien erfüllt sind, wird ein behauptetes Wunder von der Kirche approbiert – und ist dann eventuell Voraussetzung dafür, dass eine Person selig- oder heiliggesprochen wird, weil das Wunder auf ihre Fürsprache zurückgeführt wird. Dass die Kirche da durchaus zurückhaltend ist, zeigt ein Blick auf die Wunderheilungen am schon erwähnten Wallfahrtsort Lourdes. Seitdem das dortige medizinische Büro gegründet wurde, haben Gläubige etwa 7.000 Heilungen gemeldet. Offiziell als Wunder anerkannt wurden davon lediglich 70, darunter Heilungen von Multipler Sklerose, verschiedenen Infektionskrankheiten und Knochenkrebs.
Persönliche Erfahrungen
Vom „offiziellen“ Wunder wohl zu unterscheiden ist das, was ich persönlich in meinem Leben an Erfahrungen mache. Beispielsweise erinnere ich mich jedes Jahr in der Weihnachtszeit an zwei meiner persönlichen Wunder. Gemeinsam mit meiner Oma war ich auf dem Weg zu meiner Uroma, als wir beide von einem Auto angefahren wurden. Es hätte schlimm ausgehen können. Meine Oma musste für ein paar Tage ins Krankenhaus und ich bin „nur“ über das Auto hinweggeschleudert worden. Aber ich bin unverletzt geblieben. Ich war damals überzeugt und bin es noch immer: Wir hatten einen Schutzengel und haben ein Wunder erlebt. Und irgendwie scheine ich besonders in der Winterzeit Glück mit den Wundern zu haben: Beim Spielen auf einem zugefrorenen See bin ich eingebrochen. Wie durch ein Wunder hat mich ein Spaziergänger gerade noch retten können.
Beide Erlebnisse meiner Lebensgeschichte wurden nie von der Kirche überprüft, geschweige denn als Wunder klassifiziert. Doch für mich sind das bis heute zwei wirkliche Wunder. Selbst dann, wenn andere mir da vielleicht erklären: Es war Zufall oder es war Glück. Was ich als Wunder erlebt habe, lasse ich mir so schnell nicht „ausreden“. Für mich sind es wahre Wundererlebnisse, die ich Gott zu verdanken habe. Und diese Wunder haben meine Beziehung zu Gott im Lauf der Jahre gefestigt. Denn mir wurde klar: Ich kann mich auf Gott verlassen.
Rationale Erklärungsversuche
Freilich ist es kein Wunder, dass sich bei einer Vielzahl von Wundern immer wieder Skeptiker melden. Statt auf ein Wunder werden Ereignisse dann auf den Zufall oder das Glück zurückgeführt. Und wer weiterhin behauptet, er habe ein Wunder erlebt, ist dann schnell ein religiöser Spinner oder eine gläubige Verrückte. Nicht selten wird – vielleicht bisweilen sogar zu Recht – Schummelei und Betrug unterstellt.
Auf einer ernsthafteren Ebene sucht man auch nach alternativen Erklärungen: Wie lässt sich ein „Wunder“ vielleicht doch naturwissenschaftlich erklären? Ein beliebter Kandidat für diesen Versuch ist eine biblische Schlüsselszene, nämlich die Flucht der Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten. Als das Gottesvolk zum Roten Meer (Schilfmeer) gelangt, streckt Mose seine Hand aus und das Wasser teilt sich. Die Israeliten ziehen trockenen Fußes hindurch, und als die Ägypter zur Verfolgung ansetzen, werden sie zum Opfer der Tod bringenden Flut. Klimaforscher haben darauf hingewiesen, dass für die „Teilung“ des Meeres weniger die Hand des Mose als vielmehr starke aufziehende Ostwinde die Ursache gewesen sein könnten. Anhand von Satellitenaufnahmen und archäologischen Daten konnte nachgewiesen werden, dass solche Winde immer wieder breite Furten freilegten: Innerhalb weniger Stunden konnte beispielsweise in der Nähe von Port Said in einem zwei Meter tiefen Nil-Arm eine mehrere Kilometer breite Passage vom Wind trockengelegt werden, die dann für etwa vier Stunden lang passierbar war. Ließ der Sturm nach, kehrte das Wasser relativ rasch zurück. Ein Haken dieser Erklärung: Das Rote Meer bietet keine geeignete Stelle für ein derartiges Ostwind-Spektakel… Doch selbst wenn man das Flucht-Wunder mit Wetterphänomenen erklären könnte: Wäre es nicht immer noch ein Wunder, dass die Israeliten just in diesem Augenblick ankamen, um das Meer zu passieren?
Überlieferte Erfahrung
Hilfreich ist ein Hinweis des evangelischen Neutestamentlers aus Mainz, Prof. Dr. Ruben Zimmermann. Im Blick auf die Wunder Jesu stellt er fest, dass sich keines der Wunder archäologisch nachweisen lässt. Und auch sonst ist man auf die Berichte der Evangelisten angewiesen. So schreibt er dann: „Die Wahrheit von Wundern lässt sich nicht messen, sie ist nicht objektiv im Sinne des empirischen Rationalismus nachweisbar, schon deshalb, weil sich Wunder nicht im Experiment wiederholen lassen. … Wahrheit hat etwas mit Wahrnehmung zu tun. Dies gilt besonders auch für die Wahrheit der Wunder.“
Dennoch geht die historisch-kritische Jesus-Forschung davon aus, dass Jesus tatsächlich Heilungen bewirkt hat, auch wenn diese später mit hoher Wahrscheinlich ausgeschmückt und vermehrt wurden. Diese liegen, wie zwei Beispiele zeigen sollen, auch völlig im Rahmen dessen, was in der Antike nahezu selbstverständlich war. Der Babylonische Talmud berichtet: „Die Rabbanan lehrten: Es ereignete sich, dass der Sohn des Rabbi Gamaliël krank war. Da sandte er zwei Schriftgelehrte zu Rabbi Hanina b. Dosa, dass er für ihn um Erbarmen flehe. Sobald dieser sie sah, stieg er auf den Söller und flehte für ihn um Erbarmen. Als er herabstieg, sprach er zu ihnen: Gehet, die Hitze hat ihn verlassen. Sie sprachen zu ihm: Bist du denn ein Prophet? Er erwiderte: Weder bin ich ein Prophet, noch der Sohn eines Propheten; allein so ist es mir überliefert: ist mir das Gebet im Mund geläufig, so weiß ich, dass es zerschlagen wurde. Sie ließen sich nieder, schrieben und vermerkten diese Stunde. Als sie zu Rabbi Gamaliël kamen, sprach er zu ihnen: Bei Gott! Weder habt ihr vermindert noch vermehrt; grade so geschah es; in dieser Stunde verließ ihn die Hitze, und er bat uns um Wasser, um zu trinken.“
Wunder als Majestätsbeweis
Und auch außerhalb des jüdischen (und dann christlichen) Umfelds spielen wundersame Taten eine große Rolle. Der römische Schriftsteller Sueton berichtet in „Die zwölf Cäsaren“: „Noch fehlte ihm [dem Kaiser Vespasian], als einem wider alles Erwarten auf den Thron gekommenen und zur Stunde noch neuen Fürsten, die Majestät, welche durch göttliches Zeugnis verliehen wird; auch diese ward ihm zuteil. Zwei Menschen aus dem geringen Volke, ein Blinder und ein an Lahmheit leidender, traten an ihn heran, als er auf dem Tribunal saß, und flehten ihn um Heilung an, die ihnen vom Serapis in einem Traumgesichte mit den Worten verheißen sei: er [Vespasian] werde dem Blinden das Augenlicht wiedergeben, wenn er die Augen mit seinem Speichel benetzen, und dem Lahmen das Bein heilen, wenn er so gnädig sein wolle, es mit seiner Ferse zu berühren. Obschon er nun kaum daran glaubte, dass die Sache irgendeinen Erfolg haben werde, und deshalb sich nicht entschließen konnte, auch nur den Versuch zu wagen, so ließ er sich doch endlich von seinen Freunden erbitten und versuchte beides inmitten der öffentlichen Versammlung, und siehe, der Erfolg fehlte nicht.“
Gegenwart des Reiches Gottes
So wird deutlich, dass zur Zeit Jesu der Wunderglaube im Volk nicht nur selbstverständlich war, Wunder werden gewissermaßen auch erwartet, sobald jemand mit einem göttlichen Anspruch auftritt. Exegeten verweisen entsprechend auf etwa 30 von den Evangelisten überlieferte Wundertaten Jesu, darunter vor allem Heilungen (Fieber, Aussatz, Lähmung, Blindheit, Blutungen,…), aber auch Geschehnisse wie die Verwandlung von Wasser in Wein bei der Hochzeit zu Kana, dem Beginn des öffentlichen Auftretens Jesu bei Johannes, die wunderbare Brotvermehrung oder der Gang über das Wasser. Darüber hinaus machen die Evangelisten immer wieder auch summarische Angaben, wie zum Beispiel Markus in Kapitel 1: „Am Abend, als die Sonne untergegangen war, brachte man alle Kranken und Besessenen zu Jesus. Die ganze Stadt war vor der Haustür versammelt, und er heilte viele, die an allen möglichen Krankheiten litten, und trieb viele Dämonen aus.“ Mit all diesen Wundern macht Jesus greifbar deutlich, wer Gott ist: Nämlich der, der als Allmächtiger sich aller gütig erbarmt, die es nötig haben. Damit kündigt Jesus das Reich Gottes nicht nur an, sondern lässt es gegenwärtig werden in seiner eigenen Person.
Erklärungsversuche welcher Art auch immer mögen interessant sein, manchmal auch dazu beitragen, dass ein bestimmtes Wunder plausibler erscheint. Der Dogmatiker Wolfgang Beinert stellt jedoch fest: „Theologisch bringt das Ergebnis, wie immer es lauten mag, wenig Hilfe und Nutzen.“ Denn wenn die Erklärung ein Wunder vollends logisch darzustellen vermag, dann ist das Wunder auch „wegerklärt“ – und damit nimmt man dem Glauben ein großes Stück seiner Kraft. Und abschließend noch einmal Wolfgang Beinert: „Gibt es nicht in eines jeden Menschen Leben Ereignisse, Zusammenhänge, Widerfahrnisse, Erfahrungen, die uns mit einem Male Horizonte eröffnen, die bisher verschlossen waren, von denen einer nicht die mindeste Ahnung besessen hatte?“ So scheint es tatsächlich zu stimmen: Wunder gibt es immer wieder…