Zeitenwende und Waffenexporte

04. April 2022 | von

Der Ukraine-Krieg ist das beherrschende Thema der letzten Wochen geworden. Plötzlich herrscht wieder Krieg: Eine Zeitenwende. Wie umgehen mit der neuen Situation? Was bedeutet das für den Einsatz und den Export von Waffen? Unser Autor nähert sich strittigen und komplexen Themen.

Dass der Deutsche Bundestag an einem Sonntag zu einer Sondersitzung zusammenkommt, das ist eine Seltenheit. Am Sonntag, 27. Februar 2022, fand eine solche Seltenheit statt, und dank einer langen Autofahrt hatte ich die Chance, die Debatte live im Radio zu verfolgen. Die Welt – jedenfalls die europäische – war gerade heftig erschüttert worden durch den Überfall Waldimir Putins auf die Ukraine wenige Tage zuvor. Durch Truppenaufmärsche und Drohgebärden hat es sich vielleicht abgezeichnet. Und hätte man Strategie und Aktionen des russischen Staatspräsidenten in den letzten 15 Jahren kritischer verfolgt, hätte man es möglicherweise auch ahnen können, dass er sich die Ukraine einverleiben will. Aber hinterher ist man immer klüger, und bis zum 24. Februar, dem Tag des Überfalls, lautete das Gebot der Stunde: Diplomatie! Auf allen möglichen Kanälen wurde versucht, das drohende Unheil abzuwenden. Am langen Tisch des russischen Kreml-Chefs wurde stundenlang getagt; doch letztlich ohne den gewünschten Erfolg. Und plötzlich herrscht wieder Krieg.

Auf einmal alles anders

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas gestand in der Eröffnungsrede zur Sondersitzung des Bundestags schmerzhaft ein: „Wir konnten diesen Krieg kommen sehen, verhindern konnten wir ihn nicht.“ Und sie mahnte gleich zu Sitzungsbeginn, nun „gleichermaßen besonnen und entschlossen zu handeln“, wo mit einem klaren Bruch des Völkerrechts die „Prinzipien der freiheitlichen Welt“ angegriffen worden seien.

Mit überraschend klaren Worten meldete sich Bundeskanzler Scholz, der sich in den ersten Wochen seiner Amtszeit wegen seiner ziemlich reduzierten Präsenz das Attribut invisible Olaf andichten lassen musste, in seiner Regierungserklärung zu Wort: „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“ Bundeskanzler Scholz bekundete seine Solidarität mit der Ukraine, erläuterte weiterhin zu verschärfende Sanktionsmaßnahmen gegen Russland und kündigte eine Kehrtwende in der deutschen Verteidigungspolitik an. Er stellte klar: „Wir brauchen Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen, und Soldatinnen und Soldaten, die für ihre Einsätze optimal ausgerüstet sind.“

Wende um 180 Grad

Vor dem Hintergrund eines möglicherweise näher rückenden Kriegs, kündigte Bundeskanzler Scholz an, die Bundeswehr besser auszustatten. Um deren Zustand wird seit Jahren diskutiert und erst kürzlich hielt Generalleutnant Alfons Mais fest: „Die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da.“ Selbst die militärische Gefechtsbereitschaft im Zuge der NATO-Bündnisverpflichtungen sieht er skeptisch: „Die Optionen, die wir der Politik zur Unterstützung des Bündnisses anbieten können, sind extrem limitiert.“ Solche Warnhinweise sind nicht neu – bewirken aber nun offensichtlich angesichts des Krieges eine ebenso rasche Umkehr von bisherigen Prinzipien wie vor wenigen Jahren, als die Reaktorkatastrophe von Fukushima den deutschen Atomausstieg quasi über Nacht extrem beschleunigte. Neben dem lang anhaltenden Applaus von den allermeisten Parlamentariern hat Olaf Scholz also sicherlich auch für einiges an Überraschung gesorgt, als er an jenem Sonntag ankündigte: „Wir werden (…) ein Sondervermögen Bundeswehr einrichten, und ich bin Bundesfinanzminister Lindner sehr dankbar für seine Unterstützung dabei. Der Bundeshaushalt 2022 wird dieses Sondervermögen einmalig mit 100 Milliarden Euro ausstatten.“ Und obendrein erklärte der Bundeskanzler, werde man ab sofort die selbst eingegangene NATO-Verpflichtung einhalten, jährlich mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung zu investieren – seit Jahren wurde Deutschland wegen bewusster Verfehlung dieses Zieles vor allem von den USA kritisiert. Tatsächlich: eine Zeitenwende.

Vom Helm zur Panzerfaust

Wenige Wochen vorher hatte die Bundesregierung noch reichlich Kritik einstecken müssen. Die zu Jahresbeginn geäußerte Bitte der Ukraine um Waffenlieferungen wurde abgelehnt – stattdessen bot man 5.000 Schutzhelme an, von Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht als „ganz deutliches Signal“ bezeichnet, selbst wenn es offensichtlich dann auch noch Lieferschwierigkeiten gab. Wer medial tiefer schürft und nicht nur bei den großen Spottüberschriften stehen bleibt, erfährt dann zwar, dass die Ukraine genau um Schutzhelme (und Westen, die es aber offensichtlich auch in Deutschland nicht in ausreichender Zahl gibt) gebeten hatte, doch angesichts des übermächtigen russischen Aggressors, wird man allein mit Schutzhelmen sein Land nicht verteidigen können.

Mit Kriegsbeginn hat Bundeskanzler Olaf Scholz in puncto Waffenlieferung nun eine radikale Kehrtwende vollzogen: „[Es ist] unsere Pflicht, die Ukraine nach Kräften zu unterstützen bei der Verteidigung gegen die Invasionsarmee von Wladimir Putin.“ Geliefert werden Haubitzen (zum Beschuss von Panzern und Fahrzeugen auf größere Entfernung), Panzerfäuste und Flugabwehrwaffen. Wenn polemisch von „DDR-Altbestand“ und ausrangiertem Kriegsgerät die Rede ist, dann ist folgendes zu berücksichtigen: Die Waffen mögen zwar nicht auf dem neuesten Stand der Technik sein, aber sie sind vergleichsweise einfach in der Handhabung – und damit in der jetzigen Situation der ukrainischen Armee ziemlich hilfreich.

Breite Zustimmung

Angesichts des unsäglichen, durch den Krieg verursachten Leids, mit den Bildern von getöteten Soldaten, flüchtenden Frauen mit ihren Kindern, zurückbleibenden alten und kranken Menschen im Kopf liegt die bundesweite Zustimmung zu den Waffenlieferungen Umfragen zufolge bei über 75 Prozent. Selbst die einst als „Friedenspartei“ gegründeten Grünen tragen die Kehrtwende größtenteils mit – und erleben nach ihrer ersten Regierungsbeteiligung und der damals mitgetragenen Beteiligung der Bundeswehr am Kosovokrieg ein weiteres Mal die dramatische Spannung von Ideal- und Realpolitik. In einem Gastbeitrag für DIE ZEIT fordert jüngst die Grüne Franziska Branter, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, explizit, dass „die EU ihre militärischen Kapazitäten zur Verteidigung und Abschreckung erhöhen“ muss.

Die Deutsche Bischofskonferenz äußert sich in ihrer Erklärung zum Krieg in der Ukraine durchaus differenziert. Betont werden die notwendige breite Debatte und die kritische Begleitung in puncto Waffenlieferung. Schließlich wird befürwortend resümiert: „Rüstungslieferungen an die Ukraine, die dazu dienen, dass das angegriffene Land sein völkerrechtlich verbrieftes und auch von der kirchlichen Friedensethik bejahtes Recht auf Selbstverteidigung wahrnehmen kann, halten wir deshalb für grundsätzlich legitim. Es ist denjenigen, die die Entscheidung zu treffen haben, aber aufgetragen, präzise zu bedenken, was sie damit aus- und möglicherweise auch anrichten. Dies gilt gleichermaßen für die Befürworter wie für die Gegner von Waffenlieferungen.“

Exportrekorde trotz Restriktionen

Ist damit ein in den letzten Jahren und Jahrzehnten dermaßen umstrittenes Thema wie Waffenexporte quasi über Nacht salonfähig geworden? Kurz vor Weihnachten war die aus dem Amt geschiedene Regierung Merkel noch heftig kritisiert worden, in den letzten neun Tagen ihrer Regierungsverantwortung Rüstungsexporte für fast fünf Milliarden Euro genehmigt zu haben – darunter Kriegsschiffe und Luftabwehrsysteme für Ägypten, das wegen seiner Menschenrechtsverletzungen und der Verwicklung in die Konflikte im Jemen und in Libyen in der Kritik steht. 2021 markierte damit einen Rekord: Noch nie wurden so viele Rüstungsexporte genehmigt wie in diesem Jahr. Bei aller vorgegebener Friedensliebe ist Deutschland mittlerweile der fünftgrößte Waffenexporteur der Welt.

Und das, obwohl nicht zuletzt vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte Rüstungsexporte zahlreichen Vorschriften unterliegen. Artikel 26 des Grundgesetzes gibt eine erste Einschränkung: „Zur Kriegführung bestimmte Waffen dürfen nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden.“ Das Kriegswaffenkontrollgesetz definiert dann den näheren Rahmen von Produktion, Vermittlung und Export von Waffen und Rüstungsgütern. Unter Berücksichtigung weiterer Regularien entscheidet dann der Bundessicherheitsrat über die Genehmigung. Gemäß den „Politischen Grundsätzen“ der Regierung aus dem Jahr 1971 ist die Menschenrechtslage im Empfängerland zu berücksichtigen. Außerdem ist sicherzustellen, dass die exportierten Waffen im Empfängerland verbleiben und nicht an Drittstaaten weiterverkauft werden. Trotzdem besteht die Gefahr, dass gelieferte Waffen irgendwann gegen die Verkäuferstaaten eingesetzt werden: In Afghanistan wurden die US-Amerikaner und ihre Verbündeten beispielsweise immer wieder mit Waffen bekämpft, die sie Jahrzehnte zuvor den damaligen Rebellengruppen („Freiheitskämpfern“) geliefert hatten. Mit instabilen Staaten ist es offensichtlich schwer, risikofreie Geschäfte zu machen.

Grundsätzlich sollen deshalb Waffen nur an „Grüne Länder“,d. h. Bündnispartner verkauft werden (NATO, EU, gleichgestellte Drittstaaten wie Australien, Japan, Neuseeland oder Schweiz). Auch die EU verbietet in einem „Gemeinsamen Standpunkt“ (Dezember 2008) die Erteilung von Ausfuhrgenehmigungen für Militärgüter, „die im Endbestimmungsland bewaffnete Konflikte auslösen bzw. verlängern würden oder bestehende Spannungen oder Konflikte verschärfen würden.“ Dass Deutschland Jahr für Jahr seine Waffen in etwa 130 Länder exportiert, zeigt aber auch, dass die vorhandenen Regeln offensichtlich weit weniger restriktiv sind, als sie vorgeben, zu sein.

Jahrzehntelange Verstöße?

Eine im Sommer 2020 von Greenpeace veröffentlichte Studie, die die Rüstungsexporte der Bundesrepublik Deutschland in den letzten 30 Jahren untersucht hat, stellt ein eklatantes Missverhältnis zu zahlreichen rechtlichen Vorgaben fest. Denn: „Deutschland genehmigt und exportiert Kriegswaffen und Rüstungsgüter in Kriegs- und Krisenländer, in Staaten mit Menschenrechtsverletzungen und in Spannungsregionen. Gerade dort tragen auch deutsche Rüstungsexporte dazu bei, die Rüstungsdynamik anzuheizen und erhöhen so das Risiko, dass vorhandene Konflikte eskalieren und gewaltsam ausgetragen werden.“ Alexander Lurz, Greenpeace-Abrüstungsexperte, stellt klar: „Vom Mythos der angeblich zurückhaltenden und verantwortungsvollen deutschen Exportpolitik bleibt nach der Lektüre dieser Studie nichts übrig.“

Steigende Gewinne

In einem Beitrag zur Frage von Waffenlieferungen in Krisengebiete mutmaßt Dr. Isabelle Ley, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Grundlagen des Rechts an der Humboldt-Universität Berlin: „Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Bundesrepublik Rüstungsgüter am liebsten exportieren würde, damit die gelieferten Leopard-Panzer oder Patrouillenboote im Empfängerstaat in der Garage stehen bzw. im Hafen lagern: Finanziell wollen wir von den Exporten profitieren, aber sich über die mit den Exporten möglicherweise verfolgten Ziele zu verständigen, ist schwierig, politisch wenig opportun und wird daher meist vermieden.“

Die Aktienmärkte sind durch den Krieg in der Ukraine schwer belastet – doch die Kurse der Rüstungskonzerne steigen, auch wenn darüber nicht groß gesprochen wird. Aktuelle Aktienkurs-Zuwächse liegen teilweise bei deutlich über 50%. Schon 2021 hat der Waffenhersteller Heckler & Koch im Vergleich zum Vorjahr sein Nachsteuergebnis um 61 Prozent gesteigert. Firmenchef Jens Bodo Koch ist vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs sicher: „Die Nachfrage dürfte in den kommenden Jahren stärker steigen als bisher von uns prognostiziert.“ Die Spirale des Hochrüstens scheint an Fahrt aufzunehmen, auch wenn die Rüstungskonzerne sich bemühen, Waffenlieferungen in Schurkenstaaten einzugrenzen. Heckler & Koch hat nach eigenen Angaben den Export in „Nicht-Grüne-Länder“ auf mittlerweile 0,2 Prozent des Umsatzes reduziert. Doch ob all das wirklichem Frieden dient? Diejenigen, die Entscheidungen rund um Waffen und Rüstungen haben, sind wahrlich nicht zu beneiden – zumal nun, da es tatsächlich um Leben und Tod geht.

Persönlicher Schluss

Als persönlicher Abschluss sei folgender Kommentar erlaubt: Mit Überzeugung habe ich nach dem Abitur den Wehrdienst verweigert. Ich konnte es mir nicht vorstellen, eine Waffe zu tragen – und ich konnte mir auch nicht vorstellen, bereit zu sein, eine Waffe auf einen anderen Menschen zu richten, um mein Land zu verteidigen. Ich kann es mir auch heute nicht vorstellen, in den Krieg zu ziehen. Forderungen nach Abrüstung, Diplomatie und Frieden haben mich immer mehr überzeugt, gleichwohl ich nun wieder einmal einsehen muss, dass solche Wünsche durchaus auch naiv sein können. Und bei aller Ablehnung von Krieg bin ich froh, dass es Menschen gibt, die bereit sind, mit ihrem Leben andere zu verteidigen. Denn der blanke Terror gegen Unschuldige, das sinnlose Morden, das blinde Zerstören von Häusern und Infrastruktur, das Vernichten von Werten, die Flucht von hilflosen Menschen: Das kann niemanden kalt lassen. Und ehrlich gesagt bin ich froh, dass sich jemand wehrt. Und meine erste große Lehre aus den letzten Wochen: Wir müssen wachsam bleiben. Wir dürfen uns nicht verführen lassen vom Reiz des Geldes. Wir müssen den Mund aufmachen, bevor es zu spät ist.

Zuletzt aktualisiert: 04. April 2022
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