90 Jahre Vatikanstadt

04. Februar 2019 | von

Der kleinste Staat der Erde, der Vatikan, wird 90 Jahre alt. Das Jubiläum nutzen wir, um die Vatikanstadt unseren Leserinnen und Lesern von einem echten Kenner vorstellen zu lassen.

Der Aufstieg zur Kuppel der Petersbasilika in Rom ist mühsam. Nur bis zum Dach der Basilika des Apostelfürsten können Pilger und Touristen die Vorzüge eines Aufzugs genießen. Die letzten gut dreihundert Stufen müssen zu Fuß erklommen werden. Wer jedoch bei der Laterna, dem Umgang bei der Kuppelspitze, angekommen ist, wird mit einer einzigartigen Aussicht belohnt. 

Päpstlicher Landverlust
Und wer dort seinen Blick über den kleinsten Staat der Erde schweifen lässt, ist von dem Panorama, das sich ihm bietet, beeindruckt. Aber kaum einer, der es genießt, weiß, dass ein Großteil der blitzblank geputzten Straßen, schmucken Gebäude und gepflegten Gartenanlagen nicht vor vielen Jahrhunderten geschaffen wurde, sondern seine Entstehung der Entschlossenheit und Tatkraft eines Papstes verdankt, der von 1922 bis 1939 die Geschicke der Kirche leitete. Pius XI., mit bürgerlichem Namen Achille Ratti, hatte fast sechs Jahrzehnte nach dem Ende des alten Kirchenstaates eine Antwort auf die „Römische Frage“ gefunden. Die „Römische Frage“ war nach dem 20. September 1870 aufgekommen, dem Tag, als die weit mehr als tausendjährige weltliche Herrschaft der Päpste ihr Ende gefunden hatte. 
Im 19. Jahrhundert hatte das Risorgimento, das Streben nach staatlicher Einheit, das politische Leben Italiens bestimmt. Der Kirchenstaat blieb von dieser Entwicklung nicht verschont; gegen die weltliche Herrschaft der Päpste wurde zum Kampf aufgerufen. 1859 verlor der Papst die Romagna, ein Jahr später musste er auf die Herrschaft über die Marken und Umbrien verzichten. Ihm verblieben nur noch Rom und Umgebung. Im September 1870 besetzten piemontesische Truppen auch dieses bescheidene Überbleibsel des einst so mächtigen Kirchenstaates und verleibten es dem Königreich Italien ein. 

Streben nach Unabhängigkeit
Pius XI. war es seit dem ersten Tag seines Pontifikats ein Anliegen, den Heiligen Stuhl mit Italien und Italien mit dem Heiligen Stuhl zu versöhnen. „Wir müssen zu einer Lösung, zu einer Antwort auf die Römische Frage kommen“, hatte er seinem Privatsekretär anvertraut. Für den Papst war es zudem wichtig, die Souveränität über ein Stück Land zu erlangen, das ihm seine Unabhängigkeit garantierte. In schwierigen Verhandlungen erreichte er schließlich die Aussöhnung mit dem Königreich Italien. 
Am 11. Februar 1929 fand in Rom die feierliche Unterzeichnung der Lateranverträge statt, der Abschluss eines Konkordates und eines Abkommens zur Gründung des souveränen „Staates der Vatikanstadt“, „jenes bisschen an Körper, das notwendig ist, um die Seele zusammenzuhalten“, wie es der Papst formulierte. Jenes bisschen an Körper sollte aber nach dem Willen Pius XI. präsentabel sein, all das vorweisen können, was von einem Staat verlangt wird. Die ehrgeizigen Pläne des Papstes sahen unter anderem den Bau eines Regierungssitzes, einer Radiostation und eines Bahnhofs in den Vatikanischen Gärten vor. 

Detaillierte Pläne
Die gesamte für die Versorgung der Vatikanstadt benötigte elektrische Energie wollte Pius XI. innerhalb der Staatsgrenzen selbst erzeugt wissen. Der Norden des Vatikans war als „Industriezone“ gedacht – mit einem Post- und Telegrafenamt, der Druckerei des Hl. Stuhls, einer Apotheke, dem Lebensmittelamt und Warenlager, „Anona“ genannt, einem Heizwerk und dem Fuhrpark des Papstes mit den entsprechenden Werkstätten. Der für alle technischen Neuerungen aufgeschlossene Pontifex forderte ein Straßennetz „mit asphaltierten Wegen, auf denen die Automobile vernünftig fahren können“.
Die neue Vatikanstadt, wie sie Pius XI. vorschwebte, verlangte einschneidende Maßnahmen in die bestehende Bausubstanz. Rund um St. Peter befanden sich viele kleine Häuser, die von Arbeitern in päpstlichen Diensten bewohnt wurden; sie wirkten zwar malerisch, waren aber oft halb zerfallen. Sogar Geschäftslokale, Buden und Osterien gab es im Schatten der Basilika. Sie alle fielen nach dem Willen des Papstes der Spitzhacke zum Opfer. 

Päpstliche Bautätigkeit
Schon Mitte der 30er-Jahre konnte Pius XI. zufrieden auf „seine“ Stadt blicken. In kurzer Zeit war es ihm gelungen, der Weltöffentlichkeit einen winzigen, aber mustergültigen Staat zu präsentieren. Pius XI. und sein unmittelbarer Nachfolger Pius XII. (1939-1958) wurden auch als Bauherren auf den exterritorialen Besitzungen des Vatikanstaates tätig. Pius XI. hatte bereits eine dringend notwendige Restaurierung der päpstlichen Villen in Castel Gandolfo vorgenommen und beim dortigen Apostolischen Palast eine neue Sternwarte errichten lassen. 1957 weihte Pius XII. eine auf der 18 Kilometer von Rom entfernten exterritorialen Zone von S. Maria di Galeria errichtete neue Sendeanlage des päpstlichen Rundfunksenders ein. 
Papst Paul VI. (1963-1978) initiierte zu Beginn seines Pontifikates einen Ausbau der Vatikanischen Museen. 1964 bat der Papst den italienischen Stararchitekten Pier Luigi Nervi, eine Audienzhalle für den Vatikan zu entwerfen. Als Baufläche hatte man ein Areal an der südöstlichen Grenze des Stadtstaates bestimmt. 1976 wurde auf dem höchsten Punkt der Vatikanischen Gärten, 78 Meter über dem Meeresspiegel, ein Hubschrauberlandeplatz angelegt. Der „portus helicopterorum“ – so benennt ihn eine lateinische Gedenktafel – verfügt über alle notwendigen technischen Einrichtungen und ist an die Luftüberwachung der beiden römischen Flughäfen Fiumicino und Ciampino angeschlossen.  
Die Konklaveversammlungen des Jahres 1978 hatten, bedingt durch die hohe Zahl der teilnehmenden Kardinäle, dem Papst vor Augen geführt, dass eine eigene Unterkunft für die Papstwähler von Nöten war. Und so entstand auf Wunsch Johannes Pauls II. (1978-2005) in den Jahren 1992 bis 1996 für deren Unterbringung das Domus Sanctae Marthae (it. Casa S. Marta), das außerhalb eines Konklaves als päpstliches Gäste- und Wohnhospiz dient.

Delegierte Verwaltung
Zur Verwaltung des neuen Kirchenstaates hatte Pius XI. einen Gouverneur und einen Generalrat eingesetzt. Später errichtete sein Nachfolger zudem eine „Päpstliche Kommission für den Staat der Vatikanstadt“. Als der erste Gouverneur, ein römischer Marchese, verstarb, wurde sein Amt nicht wieder besetzt. Für die Verwaltung des Vatikanstaates blieb jedoch weiterhin die Bezeichnung „Governatorato“ bestehen. 
Die Aufgaben des Governatorates sind vielfältig. Es gilt, wie in jedem anderen Staat auch, ein Geburten-, Heirats- und Sterberegister zu führen. Das Governatorat unterhält ein Verzeichnis der Staatsbürger und erteilt Aufenthaltsgenehmigungen, die zeitlich beschränkt oder auf Dauer ausgestellt sind. Neben dem Registro Automobilistico Vaticano, dem Verzeichnis der vatikanischen  Kraftfahrzeuge, gibt es sogar ein eigenes Schifffahrtsregister, das jedoch noch keinen Eintrag aufweist. Der Vatikan besitzt das international verbriefte Recht, unter päpstlicher Flagge Schiffe auf den Weltmeeren fahren zu lassen. Das Governatorat trägt Sorge um die Instandhaltung der Gebäude in päpstlichem Besitz, der Straßen und Gärten in der Vatikanstadt und den exterritorialen Gebieten; der Abteilung der Technischen Dienste mit ihren diversen Werkstätten sind die zahlreichen Wasser-, Elektro-, Heizungs- und Klimaanlagen anvertraut. 
Ein Warenamt kümmert sich um die Versorgung des Vatikans mit Gütern aller Art. Dem Governatorat unterstehen das Post- und Telegrafenamt, der Telefondienst, die staatseigene Druckerei und Verlagsbuchhandlung, die Vatikanischen Museen sowie die Sternwarte in Castel Gandolfo. Auch der Bahnhof des Papstes und der Fuhrpark des Pontifex werden von den Büros im Palazzo del Governatorato aus verwaltet. Für die Sicherheit im weltlichen Herrschaftsgebiet des Papstes sorgen ein Gendarmeriekorps und eine kleine, aber äußerst effiziente Feuerwehrtruppe. Ein eigener Gerichtshof fällt im Namen des Heiligen Vaters Urteile in Strafprozessen.

Flagge, Hymne und Geld
Die Flagge des Vatikans besteht aus zwei vertikal getrennten Feldern, einem gelben sowie einem weißen, das die dreifache Papstkrone mit den gekreuzten Schlüsseln des hl. Petrus zeigt. Als offizielle Hymne des Vatikanstaates dient der Marche Pontificale des französischen Komponisten Charles Gounod. Gounod, dem die Musikwelt viele bekannte Werke verdankt, hatte den Marsch 1869 zum goldenen Priesterjubiläum von Papst Pius IX. (1846-1878) komponiert. Obwohl der Vatikanstaat nicht der Europäischen Union angehört, darf er aufgrund eines Abkommens mit der EU eigene vatikanische Euro-Münzen prägen.

Verzicht auf den Staat?
Der Vatikanstaat ist kein himmlisches Jerusalem auf Erden, kein irdisches Paradies. Auch in ihm wird menschliches Versagen offenbar. Skandale machten und machen auch vor ihm nicht halt – sei es durch ein zweifelhaftes finanzielles Gebaren seiner Bank, die berühmt-berüchtigten Vatileaks-Affären oder sogar durch schwerwiegende Verfehlungen gegen moralische Gebote. Immer wieder wird daher auch die Frage gestellt, ob denn die Kirche einen eigenen Staat benötige. 
Eine katholische Wochenzeitung plädierte vor einigen Jahren für einen Verzicht auf den Vatikanstaat, denn „eine solche Entweltlichung würde der Kirchenleitung erst ihre Freiräume eröffnen, um auf die drängenden Fragen der Menschen zu antworten“. Die Geschichte hat dazu ihre Antwort erteilt. Freiräume gab der Kirchenstaat in den Jahren von 1943-1944; auf „drängende Fragen der Menschen“ antwortete er mit Gewährung von Schutz und Asyl. Als im September 1943 deutsche Truppen die Ewige Stadt besetzten und SS und Gestapo ihr verbrecherisches Handwerk auch in Rom ausübten, ordnete der Papst an, im neutralen Vatikanstaat und auf dessen exterritorialen Besitzungen Verfolgten Zuflucht zu gewähren – und somit Zehntausenden ihr Leben zu retten.

Anekdoten
Der Weg zur Gründung des Vatikanstaates war steinig. Doch das hatte den Papst nicht abgeschreckt. Achille Ratti war ein leidenschaftlicher und äußerst erfahrener Bergsteiger gewesen, der sogar eine Erstbesteigung vorweisen konnte. Einem Kardinal, der die Meinung äußerte, die Ziele des Papstes seien zu hoch angesetzt, antwortete Pius XI.: „Wir sind schwindelfrei“. 

Auf italienischer Seite führte die Verhandlungen zur Gründung des Vatikanstaates im Namen des Königs der faschistische Ministerpräsident Benito Mussolini. Vor Seminaristen hatte Pius XI. erklärt, dass er grundsätzlich dazu bereit sei, um des Seelenheils willen „mit dem Teufel persönlich zu verhandeln“.

Im Mittelalter hatte die hl. Birgitta von Schweden eine Vision: „Ich sah in Rom in der Nähe des Palastes des Papstes von St. Peter zur Engelsburg und von da bis zum Hause des Heiligen Geistes und bis zur Peterskirche etwas wie eine Ebene, von gewaltigen Mauern umgeben, und verschiedene Gebäude entstanden entlang dieser Mauer. Dann hörte ich eine Stimme, die sprach: Der Papst, der seine Braut ebenso liebt, wie ich und meine Freunde sie geliebt haben, wird zusammen mit seinen Räten diesen Ort besitzen, damit er seine Ratgeber freier und in größerer Ruhe zusammen rufen kann“ (Liber sextus Revelationum S. Birgittae, LXXIV).

In den Vatikanischen Gärten befanden sich 1929 noch die Rebstöcke eines Weingartens, den Leo XIII. (1878-1903) dort hatte anlegen lassen. Auch sie sollten den neuen Bauvorhaben weichen. Dem Hinweis, die Trauben kämen doch der päpstlichen Mittagstafel zugute, entgegnete Pius XI. mit säuerlicher Miene: „Ich weiß, ich habe sie gekostet“.

Vor dem Missbrauch von Medikamenten ist man auch im Schatten von St. Peter nicht gefeit. Der kanadische Leichtathletik-Trainer Charlie Francis plauderte in einem Interview aus: „1981, bei einer internationalen Sportveranstaltung in Rom, rannten die Kugelstoßer immer in den Vatikan, und alle wunderten sich, wie religiös Kugelstoßer sind. Dann stellte sich heraus, dass die Vatikan-Apotheke als einzige in Rom Dianabol ausgab“. 

Der Autor: Ulrich Nersinger, Jahrgang 1957, ist als Journalist und Schriftsteller regelmäßiger Autor des Sendboten, aber auch anderer Medien wie zum Beispiel des Osservatore Romano. Er studierte Philosophie in Bonn, Wien und Rom sowie am Päpstlichen Institut für Christliche Archäologie. Er gilt als ausgewiesener Kenner des Vatikans und des Papsttums.

Zuletzt aktualisiert: 04. Februar 2019
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